Peter Engel und Michael Kellner (Hrsg.): Kleines expressionistisches Brevier

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Engel und Michael Kellner (Hrsg.): Kleines expressionistisches Brevier

Engel & Kellner–Kleines expressionistisches Brevier

DIE DÄMMERUNG

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Reinhard J. Sorge

 

 

 

Als Kurt Pinthus

im Herbst 1919 das Vorwort zu seiner „Symphonie jüngster Dichtung“ mit dem fanfarenartigen Titel Menschheitsdämmerung schrieb, bekannte er sich gleich im ersten Satz als „Gegner von Anthologien“ und fügte den paradox erscheinenden Nachsatz hinzu, daß er deshalb die Sammlung herausgegeben habe. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, daß es ihm bei der Zusammenstellung von Lyrik der damals Jüngsten, die dann als die expressionistische zu einem Begriff werden sollte, nicht um eine beliebige Blütenlese guter Poesie, sondern um eine Herzensangelegenheit ging. Ihm war es um nicht mehr und nicht weniger zu tun als die „sehnsüchtige Vorbereitung und Forderung neuer, besserer Menschheit“.
Dieses Ziel, dem Pinthus mit seinem leidenschaftlichen Vorwort ebenso wie mit den Gedichten seiner Anthologie zu dienen hoffte, mag schon beim Erscheinen der Menschheitsdämmerung belächelt worden sein, aber der auf dieses Ziel gerichtete Impuls machte damals – und dies bis heute – einen großen Teil der Faszination und der Wirksamkeit dieser Lyriksammlung aus, ließ sie – durch ihre besondere, auf das „Menschliche im Menschen“ gerichtete Kompositionsweise – zur bedeutendsten Sammlung des Expressionismus und darüber hinaus zum Vorbild für Anthologien überhaupt werden.
Daran ist zu erinnern, nicht einfach anzuknüpfen, wenn man expressionistische Gedichte neu versammelt und damit auf diese revolutionäre Epoche der deutschen Literatur hinweisen möchte, weil sie einen immer noch angeht und Herzensangelegenheit ist, wenn auch nicht mehr in dem von Pinthus gemeinten Sinne. Die Menschheitsdämmerung ist ein großes Dokument unserer Literatur, immer noch lesens- und studierenswert, aber nicht wiederholbar – und schon gar nicht zu übertreffen.
Seit Pinthus haben sich etliche Herausgeber daran versucht, die deutsche Lyrik zwischen 1910 und 1920 (mit den Ausläufern bis 1925) zwischen zwei Buchdeckeln zu präsentieren und hatten damit immer ihre spezielle Mühe. Heinrich Eduard Jacob etwa, mit seiner Sammlung Verse der Lebenden von 1924 einer der erfolgreicheren von diesen Anthologisten, polemisierte in seiner Einleitung gegen das „törichte Wort ,Expressionismus‘“ – um dann doch allerlei beizubringen, was diesen – bei allen individuellen Eigenheiten der einzelnen Dichter – doch erstaunlich einheitlichen Epochenstil charakterisiert. Und Jahrzehnte später schlug sich Gottfried Benn im Vorwort zu der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955) immer noch mit dem Begriff herum, gab erst vor, er wisse nicht genau, was ein expressionistisches Gedicht sei – und machte dann Goethe mit „rein expressionistischen“ Versen („Entzahnte Kiefer schnattern“ usw.) zum Ahnherrn der Richtung.
Wir nehmen den Expressionismus heute einerseits gelassener, denn der früher umstrittene Begriff hat sich inzwischen allgemein durchgesetzt, und seine Brauchbarkeit hat sich auf breiter Grundlage erwiesen; andererseits sehen wir genauer hin, was es damals neben den längst kanonisierten Großmeistern außerdem noch an interessanten, in der Zwischenzeit fast vergessenen Gestalten gegeben hat; wir hören auf die Töne, die aus der gar nicht so fernen Zeit zu uns herüberklingen und in uns ein Echo finden, dem wir nachhören. Wir – das sind Autoren und Literaturwissenschaftler, die den Spuren ihrer literarischen Vorväter auf die eine oder andere Weise nachgegangen sind, die wissen wollten, auf welchen Fundamenten ihre eigene Arbeit steht, bei denen Funken übersprangen aus den expressionistischen Gedichten in die eigenen Verse.
An diesen Wiederentdeckungen, am neuerlichen Ausloten des noch immer nicht gänzlich vermessenen Geländes, am fortgesetzten Be- und Umwerten, am Aneignen jener Leistungen, die unter dem Rubrum „expressionistische Lyrik“ subsumiert sind, sollen Liebhaber der neueren deutschen Literatur in diesem Brevier, das man bequem in die Tasche stecken und mit sich umhertragen kann, beteiligt werden. Beteiligt wie an einem Arbeitsprozeß, der noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern in Gang gehalten wird von der Liebe der Dichter zu den älteren Texten, vom Eifer der Forscher bei der Erkundung unerschlossener Schätze und nicht zuletzt vom Interesse der Leser an all dem.

Peter Engel / Michael Kellner, Nachwort

 

 

Fakten und Vermutungen zu Michael Kellner + Kalliope

 

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