Peter Gehrisch: Poet’s Corner 19

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Gehrisch: Poet’s Corner 19

Gehrisch-Poet’s Corner 19

WASSERSTANDSMELDUNG

Durch die Brille betrachtet
Erkennst du die bleierne Wirklichkeit
Shop und Paul Klee

Die Landschaft
Beklebt mit Plakaten
Buchstabenwald
Von Zeitung zu Zeitung
Steigt dir das Wasser zum Hals

Du liest Katastrophe
Von Giftgas in Indien
Die Drüsen
Verweigern den Abfluß von Tränen
Ins Meer

Nimm deine Brille zurück
Schon schwimmen die Zeilen
In einer Bucht
Aus schwärzer werdenden Linien

Atlantische Tiefausläufer
Erreichen das Umfeld der Realität:
Der Etat
Genügt den Sumpf zu bedecken
Mit einem Zeitungsbericht

Kröten bestimmen das Bild
Sag bist du blind?
Kannst du nicht den Unrat erkennen
An der steigenden Schicht
Der dir beim Gehen
Gegen die Gläser schlägt

Als schlieriger Filz?

 

 

 

Mein wortwunder Vers

– Zu den Gedichten von Peter Gehrisch. –

Es gibt Autoren, die sich uns, aus welchen Gründen auch immer, erst in gereifteren Jahren als Dichter entdecken – längst hinter sich „die grüne Kerbe / Kindheit und Jugend, das ungeschaffene / Wohin-in-derWelt“ – um aus gegenwärtigem Erwachsenembewußtsein heraus zu schreiben, wie nun in einem Zuge zurück- und vorausschauend, Nähe und Distanz sicher im Blick, wie eben Peter Gehrisch in seinen Gedichten, wie selbstverständlich Wort-Wunde und Wort-Wunder auf einen Vers zu bringen, Abschieds- und Ankunftszeichen aus der Gewißheit heraus, frei über eigene Lebensphasen verfügen zu können, und doch aus dem Gefühl der Ungewißheit und Spannung, wohin die weitere Reise denn geht; der Vers als neuralgischer Moment:

Wir warfen die Flügel
ins Licht und tanzten
im erwachten Faltergefühl.

Begeben wir uns mit ihm auf solche Erkundung, vernimmt man zuerst diesen Ton, der nur ihm zugehört, Dissonanz, gebrochen zwischen Sehnsucht und Statement, Wehmut und Realitätssinn Stimme, mit einem leisen Humor als Hinter-Halt der sich nur hin und wieder in einer bravourösen Zirkusnummer auf die VIEHSIONOMIK der Kunst Luft macht und erst bei einem Neustädter Karneval kräftig Kobolz schießt „Wo ich sitz / Der Erz-Narr / … / Du hast Glück / Den Schlüssel hält der Schelm / Am Arsch.
Der Sprecher, mithin kein Kind von Traurigkeit, aber mit irritierter und irritierender Stimme begabt, anmutig und ahnungsvoll sozusagen auf Falterflügeln das Bild einer Landschaft aufsteigen zu lassen, unversehens wie ein Verlorenes Wässerchen oder Schuttstumm aus einem bisher nicht wahrgenommenen Abseits hinter der Stadt, die unaufdringlich, aber unübersehbar ins Blickfeld kommt: Dresden, die Stadt, in der Peter Gehrisch zu Hause ist, mitteldeutsche Landschaft mit ihren Tälern und Hängen an Elbe und Saale, in illusionsloser Topographie akkurat im Strich wie die Zeichnungen des Niederländers Hercules Seghers:

Die Gravur
Mit tastender Hand
In unerkundete Räume
Geritzt

und im Vers klingend in der Schwebe gehalten:

Wir sehen es nicht
Taub
Unsere Ohren
Glauben zu hören
Den Reim
Im aufgeblätterten Frühling.

Es wären Dichter zu nennen, in deren Tradition sich der Autor sieht, sie zitierend oder in ihrem Namen, ohne sie zu nennen, die eigene Zeile zu finden, weil sein Gedicht noch immer der Metapher vertraut, der aussagekräftigen Versperiode, selbst wenn es ihm bei heutiger Wasserstandsmeldung das vertraute poetische Belkanto zerschlägt und es mit Romantik und erbitterter Idylle längst vorbei ist. Verse wie Tagebucheintragung oder lakonische „Lebenszeichen / Wir / Die Noten am Fuße / Des Worts“.
Spricht man auch künftighin von den Autoren der Sächsischen Dichterschule, man wird jetzt, ohne zu zögern, auch Peter Gehrischs Namen nennen, ich wünsche ihm seine Leser, die sich in seinen Versen wiedererkennen – „Rede und Widerrede / Aus ein und demselben / Munde“.

Gerhard Wolf, Nachwort

 

Stimmen zum Autor:

Peter Gehrisch benutzt das Wort im ursprünglichen Sinne: als Metapher eines menschheitlichen Zustandes, als verlorengegangene oder wiederzugewinnende Utopie, zu der der Mensch unterwegs ist.
Dorothea von Törne

Sein „Sujet“ ist der Versuch, das so schwer Greifbare, den Menschen Ängstigende und in seiner Entfaltung Hindernde zur Sprache zu bringen.
Uwe Nösner

 

Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze

Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.

 

„Ein geöffneter Kelch“

– Erster Lyrikband von Peter Gehrisch. –

Er war schüchtern und manchmal wunderlich, von entwaffnender Ausstrahlung und rührender Unschuld des Gemüts: Uwe Greßmann (1933–1969), als Dichter eine Art „Peter Altenberg der DDR“, Ostberliner „Heiligenstadt im Lodenmantel“, dessen Gedichte ganz eigenständig daherkamen, „manche sind wundervoll“ (Stephan Hermlin). Die Nachrufe verstummten nie, auch Peter Gehrischs sorgsames lyrisches Sprechen findet „Für Uwe Greßmann“ mittendrin diese Zeilen:

Ich warte
Im Vorraum
Vor dem Gesetz
Den Antrag zu stellen
Auf Schweigen

Der offenkundige Blick auf Kafkas exponierteste Textbotschaft „Vor dem Gesetz“ als Darstellung seines „traumhaften inneren Lebens“ ist eine geradezu geniale Metapher für die Antriebskräfte des natürlichen wesentlich kleineren Greßmann. Dieses Verweilen an wenigen stupenden Zeilen will eines nur deutlich aufzeigen: Gehrisch ist ein hochartifizieller Lyriker sinnlicher Sprachdichte, der abgeschottete Seelentiefen biegsam aufspürt in schwieriger Gedankengrammatik:

Es gibt keinen Fortschritt. Es gibt nur ein Wachstum der Trauer.

Solche Gütesiegel nichtverschlissener Worte sind keine punktuellen Klugheiten oder brillante Aperçus, vielmehr grundierende Aspekte des gesamten Schaffens des Dresdner Autors, in allen hier präsentierten 37 Wort-Meldungen.
Peter Gehrisch, Jahrgang 1942, ist, auch vom Lebensalter her gesehen, ein gestandener Lyriker (und auch Essayist), dessen Stilmittel behutsam gewachsen sind auf den Fundamenten einer erfahrenen und erarbeiteten Lebensbildung, die er auch gottlob täglich weiterreichen kann als Lehrender am Abendgymnasium seiner Heimatstadt, deren geistige Substanz er in der Gegenwart zu bewahren sucht.
Vor Jahren schon konnten die Leser der vielgerühmten Kulturseiten der Tageszeitung Die Union seine literaturkritischen Texte schätzenlernen, die sich nie flotter Rezensentenmanier bedienten, sondern immer die Kristalle herausfilterten in lenkender Wegbegleitung.
Dies tat auch Talente-Aufspürer Gerhard Wolf in seinem Nachwort, das subtil die ungeschwätzige Lebensphilosophie Gehrischs als Lesezutat anhängt, sozusagen:

Bis wir die goldene Inschrift sehn:
ICH LIEBE DIE ALTEN FRAGEN

Das montierte Zitat Becketts weist auf den Urgrund alles Seins, es ist auch die reflektierte Dauer-Botschaft:

Das Leben endet
Nicht die Liebe

Diesem Debütband wird schon bald ein zweiter folgen im Hellerau-Verlag. Auch auf dessen logische Stimmigkeit darf man gespannt sein.

Hans-Jürgen Sarfert, Ostragehege, Heft 1, 1994

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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