Peter Gosse: Zu Guiseppe Ungarettis Gedicht „Für allezeit“ / „Für immer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Guiseppe Ungarettis Gedicht „Für allezeit“ / „Für immer“ aus den Bänden Guiseppe Ungaretti: Das verheißene Land und Guiseppe Ungaretti: Gedichte. –

 

 

 

 

GUISEPPE UNGARETTI

Für allezeit

Ohne ein Gran von Ungeduld geh ich ans Träumen,
mache ich mich an die Arbeit,
die nicht mehr enden kann,
und nach und nach, an der Spitze,
tun sich den wiedergeborenen Armen
hilfreiche Hände auf,
in deren Höhlung
tauchen die Augen auf, wieder, spenden Licht, aufs neue,
du wirst auferstanden sein, unversehens,
eine Unversehrte, und es geleitet mich
erneut deine Stimme,
für allezeit seh ich dich wieder.

Übersetzung Paul Celan

 

Für immer

Ganz ohne Ungeduld werde ich träumen,
Ich werde mich an die Arbeit machen,
Die nie enden kann,
Und nach und nach, gegen Ende,
Kommen Arme den Armen entgegen,
Öffnen sich wieder hilfreiche Hände,
Licht geben die wiederauflebenden Augen
In ihren Höhlen,
Und du, plötzlich unversehrt,
Wirst auferstehen, nochmals
Wird deine Stimme mir Lenkerin sein,
Für immer seh ich dich wieder.

Übersetzung Ingeborg Bachmann

 

Giuseppe Ungaretti liest sein Gedicht „Per Sempre“

 

Guiseppe Ungaretti: Für allezeit / Für immer

Ich stelle mir vor: Die Geliebte dessen, der sich uns mitteilt, ist tot. Der Liebende aber erkennt den Tod nicht an, und seine Liebe überwindet den Tod. Das Gedicht mag „Für allezeit“ heißen oder „Für immer“ – es ist, im Grunde, ein und dasselbe Gedicht.
Selbstredend. Denn vor uns liegen, wie gesagt, Übersetzungen ein und desselben Originals, „Per sempre“ von Guiseppe Ungaretti (1888-1970). Und diese Übersetzungen – von Paul Celan die erste, von Ingeborg Bachmann die zweite – sind uneigenmächtig gearbeitet, mit spürbarem Bemühen um Nähe zum Original. Dennoch behaupte ich: Dies sind eklatant unterschiedene, sind zwei Gedichte.
„Für allezeit“ läßt am ,Auferstehen‘ der Geliebten keinen Zweifel. Ihre „hilfreiche(n) Hände“ und „Augen“ tun sich auf, und der (chiliastische) Zustand vollkommenen Glücks stellt sich ein mit Sicherheit: er wird sich eingestellt haben, „du wirst auferstanden sein“. Die „Augen“ tun sich aber auf nicht in den Augenhöhlen, sondern sie „tauchen […] auf“, in den ,Höhlungen‘ der „Hände“. Auch sind sie nicht lichtempfangend oder leuchtend, sondern sie „spenden“ Licht. So als seien sie nichtsehend, unwirklich. Oder das ,Licht‘ ist nicht, eben als tatsächliches Licht, sondern bedeutet etwas, nämlich Erleuchtung, Sinngebung. Überdies war die Rede nicht von den ,Höhlungen‘ der Hände, deren Innenflächen, sondern von „Höhlung“, von eher seelischem als sichtbarem Umwölbtsein, von Schutzgabe. Die gewährt sich „an der Spitze“ – ein Wort, das sich nicht befragen läßt. Wo ist sie, die Spitze? „Nach und nach“. Wann? Dort, wo Stumpfes sich verjüngt in ein Ende: Spitze.
Die Dinge haben abgehoben ins Metaphorische, das Handgreifliche hat sich gelöst ins Halluzinative. Die „Arbeit“, die in wohliger Geduld unternommen wird, ist tatsächlich ein „Träumen“. Wo anders auch als im Traum kann das Geduldige, das ,Nach-und-Nach‘ fix fertig übergehen in Auferstehung, in Epiphanie (welcher durch den Gleichklang „unversehens“ – „Unversehrte“ etwas Spielerisches, ja entrückt Tändelndes beigegeben ist). Im Gedicht geschieht Trostsuche durch Meditation.
Dagegen letzteres Gedicht. Es ist ungewiß, wessen „Augen“ „wiederaufleben“: die der Geliebten? meine? Aufleben werden sie „nach und nach“: so als hänge es ganz von mir ab, wann, ja ob sie aufleben. Auch die sich ,öffnenden Hände‘ und die ,entgegenkommenden Arme‘: als seien sie viele oder die vieler. Es scheint, als bestehe die „Arbeit“ – dem ,Träumen‘ folgend, in ihm aber nicht aufgehend – in eben jenem Aufeinanderzu der Arme, in „hilfreiche(m)“ Entgegen-Kommen. Nicht durch Selbstsuggestion, so legen die Verse nahe, kann Auferstehung geschehen, sondern indem ich mich (und das Bild der mir Nahegewesenen) tätig dem Leben zurückgewinne.
Sehr unterschiedene Gedichte liegen uns also vor. Celan ließ den Schmerz hinter sich, indem er in den Traum entging. Bachmann geht durch den Schmerz hindurch. Oder sie setzt doch an zum Gang, obwohl der einen Trost kaum verheißt. Denn Trost stellt sich ein ,gegen Ende‘ dessen, was ,nie enden kann‘. Und wenn uns doch etwas tröstet, so der Mut, mit dem sich jemand, eine Nahe, an die Arbeit machte, das beinahe Aussichtslose dennoch in Angriff nehmend.
Was aber sagt der Urtext?
Wer weiß. Dichter und Dichterin wollten es uns mitteilen, wir lesen aber Gegensätzliches. Ein Grund, das Nachdichten zu bemäkeln als ein – wiewohl notwendiges – Übel, als eher verfälschende Lückenbuße zwischen den Sprachen?
Ich genieße das Sich-Reiben zweier Texte, um die wir ärmer wären ohne den Zwang des Dolmetschens. (Besteht unser Reichtum nicht eh in unsern Notdürften statt im Freisein von diesen?) „Per sempre“ wird nicht zerrieben durch die zwei Lesearten, sondern aufgerauht.

Wir wissen es nur zu gut, wie noch der gelehrteste Geist sich im Dunkeln verhält ohne ein Gegenüber das ihn zur Deutung zwingt,

sagt Wystan Hugh Auden im Gedicht „Ode an Terminus“, weisend auf das ,pfingstliche Wunder‘: wenn ,jeder in jedem den rechten Übersetzer findet‘.

Peter Gosse, aus: Peter Gosse: Mundwerk. Essays, Mitteldeutscher Verlag, 1983

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