– Zu Antonio J. Gonzáles’ Gedicht „Bruder“. –
ANTONIO J. GONZÁLES
Bruder
Was tun? frage ich
wenn sein bild profile von flüchtigen winkeln hat.
Traurige geschichte seine geschichte
friedloser waise
gefangen in hurtigen faden auszutarieren
unter seinen füßen die tretrolle die nicht einhält.
Es sei eine angelegenheit des gewissens, wird proklamiert
neigung die das gehirn durchbohre, wird suggeriert.
Gemurmelt wird: dies ist
das abfallen ohne umkehr
in die geldscheinriesen
die das morgen in schmuckschatullen umjubeln aus glas.
Was tun? da sein egoismus so viele nächte aufheizt
da er die zwielichtigsten risse des menschen besiedelt
mit komfortzeug mit glitzernden zerstreuungen
mit der bequemen art sich auszugeben in kleiner münze.
Trauriges ende sein ende
zweideutiger schwankender unzufriedner und nichts
als hintergehung an hintergehung gekettet
frei wirtschaftender amtswalter
welche liebe durch abhängigkeit erpreßt.
Was tun? da wir mit ihm gehen
unsere angst durch mitläuferei mundtot machen
da er wüster aus sich herausgeht
und an ihm
bruder den bruder aufrichten wird
rabiat nur um weiterzugehen
weiterzugehen ohne ihn.
Dies ist das Gedicht eines Argentiniers, geschrieben also in einer – aus unserer mitteleuropäischen Sicht – weidlich entlegenen Weltgegend. Haben wir es diesem Umstand zuzuschreiben, daß das Sprachgebilde einem ersten Blick sich verweigert? (Jedenfalls meinem ersten Blick.) Keine Augenweide, kein Ohrwurm; nichts von jenen Elektrisierungen, die, von so winziger Kürze sie auch sein mögen, einen im Überfliegen stocken machen. Hier stehen Worte nicht, handfest ineinander verfugt – eher driften sie, schütter hingetuscht, hingekritzelt wie mit sehr wäßriger Tinte. Sprache nahe am Sichverflüchtigen, am Vergehen; und wie leicht heißt das dann auch: nahe am Vergessenwerden.
Eine überraschende Empfindung übrigens für einen, der dem Dichter begegnet ist. Gonzáles ist ein geradezu athletisch gebauter, witzekundiger Mittvierziger, der durch die poltrige Heftigkeit seines Sprechens (zudem sein prall-unhauptstädtisches Argot) gar seine argentinischen Reisegefährten eines ums andre Mal zum Nachfragen nötigt. Kurzum, ein feuriger Feuerländer. Und sein Gedicht? Offenbar das ganze Gegenteil: eher porös, eher anämisch.
Denn das ist es ja nicht allein – die windig anmutende Sparsamkeit hinsichtlich der Übersicht stiftenden Satzzeichen; die unentschlossen wirkende Art des Sätzebildens; die wie zufallsdiktierte Ausformung des Textganzen. Vor allem scheint die Gestimmtheit dieses Gebildes (und mehr noch der drei folgenden) wetterwendisch; als willfahre deren Autor allzu bereitwillig seinen wechselnden Eingebungen.
Denn jener widerwärtige erpresserische Amtswalter, der Hintergehung an Hintergehung reiht und die Leute (vielleicht ein Volk, vielleicht eine auf ihn noch unlängst eingeschworene Parteiung?) mit Bret und Spielen korrumpiert, mit Komfort und Zerstreuungen – ihm ist nachsichtig ein Gefangensein in hurtigen Fäden zugestanden. Ein diesen Egoisten beinahe schon entschuldigendes Fährnis gar ist mitgeteilt, nämlich als friedloser Waise aufgewachsen zu sein. Mein Mitgefühl rührt sich, und ich frage mich, ob nicht eigentlich er als Bruder angesprochen ist!
Welch einen Vers also mache ich mir auf diese Verse?
Versuchung stellt sich ein, sie im Hinblick auf die schön gedoppelte Bedeutung des Wortes ein Gebabel zu nennen: Es scheint erstens leicht überhörbar und zweitens arg in Nähe jenes sprichwörtlichen Sprachgewirrs im altmesopotamischen Babel. Verlautbart ist vieles, doch wie lautet der Hauptnenner, der ja allemal der Dichter ist. Dessen Kontur soll sichtbar werden, aber so recht wird sie es nicht. Wenn Gonzáles nur nicht selber die Einbuße an Kontur bedächte! Wie heißt es doch im Gedicht „Spuren“? Es geschieht, daß das eigne Gesicht sieht, sein lebendes, sein entfleischtes Profil, zwischen Menschen verläuft, also dahinläuf sowie verfließt.
Ein Vorgang des Verarmens, bemerkt Gonzáles irritiert. Ein Vorgang des Reicherwerdens, bemerke ich irritiert. Der Dichtende beginnt mit den Augen all jener zu sehen, zwischen denen seine Augen verschwimmen. Die scheinbare Uneinhelligkeit ist es, die den Dingen ihr Eigenleuchten beläßt.
Denn selbstredend ist es zu beklagen, daß das Morgen in Schmuckschatullen umgejubelt wird und Obrigkeit sich jener Versuchungen durchtrieben bedient, zu denen die besagten Zerstreuungen gehören. Doch das gelänge nicht, gäbe es nicht diese zwielichtigsten Risse, die der Dichter in einem jeden, auch in sich selber wahrnimmt. Mit einfacher, ja einfältiger Schuldzuweisung läßt er es nicht bewenden. Der anklägerisch steife Zeigefinger – er wiese ja auch auf ihn selber. Denn auch er, González, will ja seine schreiende Angst manchmal mundtot machen, auch er will ja leben. Das gesteht er sich ein, das gesteht er sich zu in wägendem Reden. Nicht laute Proklamation, sondern inniges Protokoll. Nicht ferne Ansprache über die Köpfe hinweg, sondern nahes Sichaussprechen.
Die hier vorgestellten Gedichte stammen aus dem voralfonsinischen Argentinien, das heißt dem der Militärjunta. Man sieht es ihnen an: sie sind widersetzlich, sie sind solche des Widerstehens. Ausgeformt haben sie sich in einem, der an der Seite derer steht, die keine Statistiken führen; an der Seite der vielen also, die leicht als die Statisten der Geschichte erscheinen. So ist der bündelnde, der Brennpunkt dieser Gedichte der Punkt, der – wie es im Text ,,Wirklichkeit“ heißt – die Quellflüsse des Volkes begleitet: nicht schlechthin anteilnehmend, sondern teilnehmend. Doch wie? Jenen Punkt durchqueren viele Linien. Welche? Diejenige des rigorosen Aufbegehrens.
Doch abzusehen ist mit wahnsinniger Klarheit das Verpuffen solchen Aktionismus. Also heißt es, Geduld – ein zentrales Wort dieser Gedichte – sich aufzuerlegen, sie herbeizubeschwören.
Doch wie rasch verkommt, was als Geduld sich ausgibt, zu Bravheit. Und der Fluß der in seinem Lauf nicht einhalten und in aller Sanftheit daherfließen wird – er meint zuversichtlich die Zukunft des Volkes, durchaus. Doch die klägliche Ankunft in gelatinierender Privatheit meint er auch. So daß gar die erlittenen Repressionen und Verkrustungen, wie die Kindheitsträume, den Zauber aufstörenden Schauders gewinnen in einer Routine, der die Höhlen der Alltäglichkeit gut genug sind für ein geschäftiges Ausleuchten.
Routine also; oder die somnambule Begierde, die Türen zu schließen; durch die die Tage davongehen; oder die Flucht in das innere Asyl, in das stille Land, das wir in uns tragen (so im Gedicht „Asyl“) – es sind Linien, die Gonzáles an sich selber wahrnimmt. Er scheut vor ihnen zurück, er erschrickt angesichts der Bereitwilligkeit, mit der er den verschiedenen Arten aufzugeben willfährt. Also reumütiger Wandel? Nein. Keinen Deut größer ist es, den sicheren Schlägen sich leichtfertig auszusetzen und die Ängste nicht abzuwägen – die Angst vor fader Beruhigung wie vor kindsköpfigem Eifern; die um jenen Menschen, dem er mit letztendlicher Dringlichkeit immermitdirimmer zuruft, sowie um sich selber, um dieses einmalige, unwiederbringliche Leben, zu schön, um nicht feig zu machen von Zeit zu Zeit! – Und sich dann doch, von Zeit zu Zeit, nicht nachsehen können, noch am Leben zu sein!
Ich wahnsinnig vor Angst, schreibt (oder schreit) Antonio, ja. Und doch sogleich wieder dies hohe Fieber, diese Lust Hoffnung zu machen und sich Hoffnung zu machen. So gerät er, indem er mit sich – einleuchtender- und leuchtenderweise – nicht ins reine gerät, benehmend seiner Wirklichkeit auf den Grund:
WIRKLICHKEIT
Meine freunde fragen sich
ob ich die freude zermörsert habe an den mauern
ob ich wahnsinnig vor angst
den gesang gehenkt habe
ob ich meine geduld verschwitzt habe nach und nach
in alpträumen
Meine nachbarn fragen sich welche umzingelung
meine einundvierzig streifzüge durch das viertel umdüstert
ob das stumme gelaufe ein vorgeschmack ist
eine kostprobe die ich mit meinen sinnen befingere
oder ob es wie einige argwöhnen
die althergebrachte grenze ist
zwischen einem brontosaurier zu überleben entschlossen
und dem netz aus stahl das ihn festzurrt.
Meine genossen fragen sich
wieviel linien jenen punkt durchqueren
der die quellflüsse des volkes begleitet
(wieviel betätigungen/schilde/werkzeuge
wir dem komfort entgegenstemmen der uns
auf die kniee kriecht wie eine domestizierte raubkatze).
Meine familie fragt sich wo mich finden
in welchem einhelligen gelände das lotrechte bild aufrichten
das wie übrigens jede synthese
nichts ist als eine skizze
wo es aufrichten wenn die erfordernis dereinst gezähmt ist
welche mich umtreibt auszugleichen
wort mit wort tat mit tat
ungeduld mit ungeduld.
Moderne schriften verlautbarn
der mensch sei gefügiger mörtel
zurechtgestampft vom tumult.
Ich werde mich nicht verrenken um zu ergründen
ob sich hineinbequemt in meine halswirbel die welt:
die leute die keine statistiken führen.
Oder ob sie einfach wachsen wie ich wachse
einzige wirklichkeit die uns rechtfertigt.
ASYL
Wir werden die landstriche nicht wechseln
die wir wachsam wie touristen durchwieseln.
Wir werden nicht verlangen daß die himmel blau seien
die bäume grün die wolken von kreppapier.
Sollen sie verbleiben im gestern kindlicher entwürfe
friedlich vereint zwischen den blättern der sehnsucht.
Ich bestehe darauf daß wir der feinen krusten
die die winde auf unserer haut niederlegen
gestalt nicht verändern.
Zweifellos werden wir nur weniges sprechen
pausen die ein schweigen mit dem andern verknüpfen:
Belaßt die ziselierten repressionen an ihrem platz
die wir würdig getragen haben voll geduld
belaßt sie als wachtet
an der tür unserer routine postiert.
Niemand wird höheres fieber erbitten
als diese lust hoffnung zu machen und sich hoffnung zu
niemand wird die schmerzenden fasern hervorziehn
unter den runzeln unserer geschichte.
Es wird ein fluß sein der in seinem lauf nicht umkehrt
ruhig wird er in aller sanftheit daherfließen.
An irgendeiner biegung werden wir ein schaudern bewahren
es wird uns durchgehen sobald sie uns aufstören
die blauen himmel die grünen bäume
die wolken von kreppapier.
Dies, sofern wir jetzt
da der wahnsinn ein übermaß an klarheit zu sein pflegt
die türen schlössen durch die die tage gehn
und uns flüchteten
in das stille land das wir in uns tragen.
SPUREN
Durchscheinend die atmosphäre dieses abends
sie belebt die gewohnheit bitterkeiten herzusagen
Verhärtungen
entstellte bilder die uns zerstreut haben
So als ob wir uns reinigen könnten
uns nachsehen könnten am leben zu sein.
Es geschieht daß das eigne gesicht zwischen menschen verläuft
sein lebendes sein entfleischtes profil
wenn die einundvierzig erkundungen die felder
des krieges der waffenruhe nichts als rändeln
und nur abgelagerte schichten gestalt annehmen,
Auf welche andere art uns bestätigen
als auszuleuchten die höhlen der alltäglichkeit
als abzuwägen die ängste die sicheren schläge die
tosende dringlichkeit zu schreien: immermitdirimmer
und uns umzudrehn um subtile Feuerstöße zu vollführen
die enden indem sie im wind sich verwirrn.
Ja, eine Angst González’ habe ich vorhin zu nennen verabsäumt, und wer, zumal unter uns, die wir uns in Verfertigen von Kunst versuchen, teilte sie nicht: Dichtung hervorzubringen, ja es irgendwie zu müssen ohne Wenn und Aber – doch dereinst werden unsere subtilen Feuerstöße enden, indem sie im Wind sich verwirren.
Peter Gosse, neue deutsche literatur, Heft 2, Februar 1985
Schreibe einen Kommentar