Peter Gosse: Zu Rainer Kirschs Gedicht „Im Maß Petrarcas“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Kirschs Gedicht „Im Maß Petrarcas“. –

 

 

 

 

RAINER KIRSCH

Im Maß Petrarcas

Wolltest du ich sein wie ich du bin: Wäre
Zeit Unzeit dann, der festentflochtenen Haare
Aschblondheit Regen, mit dem Tag und Jahre
Rückfielen wie in mondbewegter Meere
Hinspiel und Gegenspiel, da schlagend Wellen
Getier am Ort belassen, Größeres treibend
Und wir, im salzigtrüben Tiefen, bleibend?
Wirkten des Welttods Gegengrund im schnellen
Gemeinen Wechsel, der wie lang er währte
Um was sonst Zeit ist fischgleich Strudel, nährte
Die unser Atmen aufschickt und erhält?
Dein Haar ists, das mir in die Augen fällt
Daß ich neu sähe; was? was Blinde sehen.
Sprich was du weißt, die Augenblicke gehen.

 

Lebensplan: Selbstbe-Hauptung

„Im Maß Petrarcas“ – ein Gedicht von Rang; auch aus Gründen, die aus jenem Rahmen fallen, den die Interpretation Kirschs bietet.
Wovon handelt das Gedicht?
Fürs erste sage ich: Von der Angst zu vergehen.
Angst? In diesem gefaßten (zum Sonett gefaßten) Gebilde?
Man durchschmecke den Schock, den der erste Vers mitteilt! Wolltest, das Gewesenes bezeichnen mochte, wird durch Wäre auf die Möglichkeits- (sozusagen die Unmöglichkeits-)Form festgelegt. Ich bin du, dir ausgeliefert; wenn doch in gleichen du ich wärest! Wenn du es, zum wenigsten, wolltest! Der Vers fleht (oder doch: ersucht).
Doch nicht um Einswerdung mit der (dem) Angeredeten ersucht er, sondern um die, durch diese Einswerdung womöglich erreichbare, Dauer. Der mit Wäre einsetzende Hauptsatz sagt es ja. Nachdem er sich zu einer dreifachen Nebensatzfügung getürmt hat, zerfällt er zur elliptisch-stockenden Frage der genauen Gedichtmitte: wir  b l e i b e n d  ? Die Antwort, die der erste Vers andeutet – der letzte gibt sie: die Augenblicke (unsere! wir!) gehen.
Es läßt sich einwenden, nach dem Fragezeichen des Verses 7 könne ein Komma zu denken sein. Der Satz, statt zu ersterben, nähme nun kraftvoll Fahrt auf. Denn bleibend geriete vom starren Prädikatrumpf zur eingeflochtenen Umstandserwägung: wir, bleibend?, wirkten!
Freilich endet der Satz wiederum, und jetzt endgültig, im Fragezeichen des Verses 11: erhält? (erhält im Sinne von erhalten bleiben, also bleiben.)
Offenbar gilt nicht nur fürs erste: Ein Gedicht von der Angst zu vergehen.

Wer ist du?
Aschblond legt nahe: eine Frau.
Freilich, diese Verunklarung.
Ein Komma, das am Ende von Vers 7 gedacht werden konnte, muß gedacht werden innerhalb des Verses 10: entweder vor oder nach fischgleich. Da es fehlt, ist Fischhaftem sowohl das erwünschte strudelnährende Wirken als auch die verwünschte Zeit oszillierend anverglichen. Das Festentflochtene des Haars läßt sich lesen als „entschlossen entflochten“, als „eines Festes halber entflochten“, als „dauerhaft entflochten“. Und als paradoxes „s o w o h l  fest als auch entflochten“ entzieht es sich gar der Handgreiflichkeit. Sinnliches wird Sinn. [Assoziierbar nun Hölderlins Symbol des Lockenlösens, in „Mnemosyne“: ihr auch, als / Ablegte den Mantel Gott, d.h. als nach dem Untergang der griechischen Antike und Jesu eine in Hölderlins Verständnis finstere, erst zu seiner Lebzeit ihr Ende in Aussicht stellende Epoche anbrach, das Abendliche nachher löste / Die Locken.] Eben dem zu arbeitet das Vergleichen von Unvergleichbarem: Eigenschaft (Aschblondheit) und Gegenstand (Regen), Begriff und Stoff: der sich daher entstofflicht.
Die sich so herstellende Verhangenheit adelt. Denn das Gedicht überzieht sich mit jenem Schmelz des doppelsinnig Unbedachten, der das Wissend-Bündige der Textur leuchtender zum Scheinen bringt und sie statt, wie im Symbolismus, in die Transzendenz erst eigentlich in die Evidenz treibt.
Nicht evident, sondern verstiegen wäre ja, durch Zweisamkeit einzelner, so innig diese sein möge, dem Tod der Gattung (Welttod) begegnen zu wollen. Das du jedoch läßt nun hinter einer Angeredeten alle Anredbaren (ferne einbegriffen Petrarca und die übrigens blonde Laura) aufschimmern, der schnelle Wechsel hinterm Beischlaf den ganzen Eros. Das Gemeine dieses Wechsels, das Gemeinsame, weitet sich zum Allgemeinen; die Kommunion der Geschlechtsliebe zur Kommunikation der Geschlechter.

So weitet sich freilich auch die Dimension besagter Angst. Und Untaugliches ist es, was die Verse 12 und 13 gegen die Frage(n) der Verse 1–11 aufbieten: Flucht ins Traumgesicht. Sie halluzinieren, was  n i c h t  ist, als seiend. [Hölderlins Beschreibung dieses tiefenpsychologischen Kraftakts, in „Chiron“: Wolken der Liebe schafft, weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun.] Du  b i s t  ich wie ich du bin, und so fällt dein Haar mir in die Augen, und zwar zu höchstem Zweck: auf daß ich neu sähe.
Eine zu hoffärtige Hoffnung, als daß sie sich nicht als hohl ausstellte.
Denn was kann neu sein einem, der alles schaut: das All, in dem entropiemehrend die Zeit geht. So steht neu für eine überhobene Vision, die in Vers 13 denn auch zusammenbricht: Blinde sehen ja nichts; oder sie sehen, sofern man sich zur in diesem hochsprachlichen Gebilde fernliegenden saloppen Lesart bequemt („Das sieht doch jeder Blinde!“), das Übliche, mithin ebenfalls Unneue.
Der vorletzte Vers läuft aus in vollständige Ernüchterung. Es scheint kein Kraut gewachsen gegen die Angst vorm Vergehen. Wer spricht von Überstehen; Versiegen ist allenthalben.

Doch der Schlußvers.
Dessen zwei gedrungene Hauptsätze stemmen gegen den Kipp der vorangegangenen Verse und halten ihn auf.
Erstens durch die Anerkenntnis des Unänderbaren: Zeit ist nicht aufzuhalten, die Augenblicke gehen. Zweitens durch die Erkenntnis eines Trotz-Alledem. das in dichterischem Vollzug gründet: Sprich was du weißt!
Du ist nun ich, auf andere Art: Anrede Selbstanrede. (Natürlich meint das du des letzten Verses nicht das des ersten. Es wäre läppisch, jemanden, dem inständig die Einswerdung angetragen war, zu lediglichem Sich-Aussprechen aufzufordern. Das du des letzten Verses ist das ich des ersten.)
Der Schlußvers erweist sich als Komprimat eines einzelkämpferischen Lebensplans, den ein selbstgewiß gegen die Zeit(läufe) stehender Kennender (Wissender) und zu Kenntnis Gebender (Sprechender) sich strikt vorgibt. Dieser Plan heiß Selbstbe-Hauptung. Nicht mit den Armen, wohl aber vermittels des Hauptes geht das Existente zu umfangen. Auf In-den-Griff-Kriegen ist das Kind aus, der Erwachsene auf Inbegriffnahme. Die Welt ändert; wen kömmt es wenig an, sie zu interpretieren?
Sie, wie gesagt, vernehmlich zu interpretieren: Sprich! Ein, aussichtsvoll-unstummer, Verkehr eröffnet sich; vom im Gedichtbeginn beschworenen unterscheidet ihn die Unabhängigkeit des ich. Statt utopischen Ineinanders ein zu bewerkstelligendes Miteinander.
So handelt das Gedicht von der schmerzhaften Mauser eines Bittenden zum Anbietenden. Der kann die Angst zu vergehen vielleicht nicht über-, wohl aber verwinden. Denn das Ich geht auf in Gesprochenem, das, wenn es die Würde des vorliegenden Sprachgebildes erlangt, ja tröstlich die Zeit von sich fernhält, d.h. sich in die Dauer begibt.

Peter Gosse, neue deutsche literatur, Heft 396, Dezember 1985

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