PAUL KLEE
hinter den fensterscheiben PAUL KLEE
er sieht die leute vorübergehn
und sie werden lauter striche
er sieht lauter striche vorübergehn
und die striche gehen vor den scheiben
Mein Verleger, virtuos im Wünschen, schenkte mir ein Buch und wünschte sich – das Bändchen soll zu meinem 75. Geburtstag erscheinen –, daß ich von allen Gedichten, die ich im Lauf von beinahe sechzig Jahren schrieb, die 75 wähle, die mir am nächsten und am wichtigsten sind. Da aber Verlegerwünsche meistens einen Haken haben, bat er zusätzlich um zehn neue.
Ich wanderte in Gedanken zurück, um auf Momente zu stoßen, in denen sich ein Satz, eine Einsicht und eine Beunruhigung mit einem Ort verbinden, und oft kamen mir Verse entgegen. Vielleicht ein Narr wie ich, schrieb ich mit sechzehn – also vor 59 Jahren –, angeregt von Cervantes und seinem Don Quixote, aufgebracht durch die Reglosigkeit der Nachkriegsprovinz. Ich schrieb das Gedicht nicht gleich auf; so, wie mir die Zeilen einfielen, lernte ich sie auswendig, während des Unterrichts im Gymnasium, auf Spaziergängen mit meiner Liebsten, beim Schwimmen im Neckar, auf dem Nachhauseweg. Am Küchentisch schrieb ich dann nieder, was mir längst vertraut war: „Vielleicht ein Narr wie ich / Narren sind immer gleich“, Verse, mit denen ich mich nach einem Gefährten sehnte, der, wie ich, seine Fremde ausspielte.
Es war das erste Gedicht. Es eröffnete ein Heft, das vier Jahre später, begleitet von Zeichnungen Fritz Ruoffs, bei Bechtle in Esslingen erschien. Danach kam YAMIN, gelang mir die Erfindung einer verwandlungstüchtigen poetischen Existenz. Ich volontierte bei der Nürtinger Zeitung und wurde als Jüngster in der Redaktion Benjamin gerufen; die Maulfaulen begnügten sich mit YAMIN (sie betonten die erste Silbe, im Gedicht springt die Betonung auf die zweite um). Nahezu alle YAMIN-Gedichte wurden meinem Freund Helmut Heißenbüttel nach Hamburg geschickt und bekamen von ihm eine nachfragende oder aufmunternde Antwort; „ganz findet YAMIN nicht mehr heim“.
Eine andere Zeile, direkter in der Anschauung, nicht mehr flüchtig, redet in mein Gedächtnis:
Vom Bischofsberg die Haube-
Verwest denn hier kein Stein?
Es ist der erste autobiographische Text, in den Sechzigern entstanden, ein Kinderleben in sechs Strophen: „Olmütz 1942–1945“. Angeregt von einer Fotografie und – vielleicht – durch einen Anflug von Heimweh, kam es wie in einem Selbstgespräch zustande.
Das allernächste Gedicht, das keinen Weg über die Jahre in meine Gegenwart braucht, findet sich unter den „zehn neuen“. Ich buchstabierte es mir, so bewegt ich war, unterwegs auf einer Reise, an einem merkwürdigen Ort, in Schillingsfürst, der Residenz der Fürsten von Hohenlohe. Da gibt’s, neben dem mächtigen Schloß, ein verwunschenes Museum und einen Park mit einer Büste von Franz Liszt (der Abbé war mit dem Schloßherrn befreundet); da gibt’s im Hotel Post eine Terrasse, von der der Gast hinunter ins weit ausschwingende Taubertal blickt. Dort erfuhr ich, daß mein jüngstes Enkelkind auf die Welt gekommen sei: Fanny – und mir fiel, durch die Umgebung gestimmt, als guter Geist die wunderbare Fanny Mendelssohn ein. Das Gedicht redete rasch, setzte mit einer Aufforderung ein:
Versuch’s!
Das Leben ist einen Versuch wert. Das Gedicht auch.
Peter Härtling, Vorwort
Martin Lüdke: Dichter, Erzähler, Zeitgenosse
faustkultur.de, 13.11.2013
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