– Zu Helmut Heißenbüttels Gedicht „Tage abziehen Ärger zählen exakt funktionieren…“ aus Helmut Heißenbüttel: Das Textbuch. –
HELMUT HEISSENBÜTTEL
Tage abziehen Ärger zählen exakt funktionieren
interesselos an den Interessen der Interessierten
daß mit dem was erreicht werden kann weniger erreicht wird als wenn nichts
aaaaaerreicht wird
die Verführung zu immer derselben Sorte von Sätzen
Schlupfwinkel Benjamin Peret und Francis Picabia
stornierte Einfälle
überlebende Gedanken
alles ist anders als seine Hypothese
die Wahrheit ist mein Gedächtnis
ich sammle Passanten die vor sich hin reden
ich bedeute das Fehlen der Gedanken in den abgefallenen Gesichtern
Jemand, der schreibt, denkt nach über das, was er schreibt; er schreibt ein Selbstgespräch. Viele Texte Heißenbüttels sind monologisch – und dies in doppeltem Sinne: Nicht nur der Autor, auch der Text redet mit sich selbst. Die Zeilen sammeln sich in einer wissentlichen, fast hochmütigen Einsamkeit. Der Schreibende zieht sich zurück, um die Ausschnitte, die ihm momentan von Bedeutung sind, genauer wahrzunehmen, zu memorieren. Die Wirklichkeit, die für diesen einen Augenblick verlassen oder zurückgewiesen wurde, summiert das Gedicht in den ersten beiden Zeilen, wobei aber schon in der zweiten und besonders in der langen dritten Zeile der Text mit sich zu reden beginnt; das Muster vieler Arbeiten wird hier gleichsam zitiert (oft sind es Muster einer resignativen Logik): „daß mit dem was erreicht werden kann weniger erreicht wird als wenn nichts erreicht wird“, und wird aufgefangen von einer selbstkritischen Wendung:
die Verführung zu immer derselben Sorte von Sätzen.
Ebendiese Sorte von Sätzen hat Heißenbüttel berühmt gemacht. Sicher prägen sie viele seiner Texte, vor allem die großen Prosapassagen wie „Kalkulation über was alle gewußt haben“ oder „Politische Grammatik‟, aber sie ließen auch die Ansicht über diesen Autor zum Klischee werden. Heißenbüttel ist in dem Sinne nie ein „Konkreter“ gewesen und auch die Etikettierung „Grammatiker“ ist zu einengend. Erinnerte man sich noch an Fritz Mauthner und an dessen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“, wäre es leichter, Heißenbüttel in eine Tradition der Sprachangst und der Sprachgenauigkeit einzuordnen. So blieb er ein Einzelgänger, den mitunter Gruppen für sich beanspruchten.
Halten wir uns an das Gedicht. Nun wird gegen das Abgewiesene und sarkastisch Eingesehene angeredet, nun öffnet sich unverhohlen der private Raum des Monologs: „Schlupfwinkel“. Als Gefährten der Introversion ruft Heißenbüttel, wie so oft, Monomane, Außenseiter auf, die Surrealisten Péret und Picabia.
Dieser Autor ist, das ließe sich nachweisen, selbst in den kühlsten grammatischen Reihungen ein Meister der verdeckten Metapher. Immer mehr ziehen sich die halben oder ganzen Sätze auf den, der spricht, zurück; ein melancholisches Parlando; die Wirklichkeit, die ohnehin unterstellt und dann gar falsch unterstellt ist („alles ist anders als seine Hypothese“), reduziert sich auf Memoriertes. Ein alter Poetenstolz spricht es aus:
die Wahrheit ist mein Gedächtnis.
Und dort beginnt die Wirklichkeit der Wörter.
Nun bricht in die Abwendung, in den fröstelnden Widerspruch die Metapher ein, fügt sich beinahe zu einem bitteren Chanson „ich sammle Passanten die vor sich hin reden / ich bedeute das Fehlen der Gedanken in den abgefallenen Gesichtern“. Das heißt: Mein Rückzug in das Selbstgespräch hat sich ausgezahlt, weil ich Herr des Monologs bin. Die andern, die Passanten („Passanten“ in ihrer Vieldeutigkeit), die mit sich, doch unwissend, reden, fallen meiner Rede, meinen Gedanken anheim; und zugleich bin ich, weil ich es weiß, Leere in ihren Gesichtern. Ein dialektischer Schluß, der Schritt für Schritt vorbereitet wird.
Dieses Gedicht Heißenbüttels ist mir vertraut. Es ist Bestandteil meiner wörtlichen Erinnerung. Es altert nicht, wenn es auch Geschichte ist und sich, zumindest für mich, mit einer bestimmten Zeit verbindet. Einige der Gedichte Heißenbüttels haben die Wörtlichkeit jener Zeit konzentriert.
Peter Härtling, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976
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