– Zu Hertha Kräftners Gedicht „Dorfabend“ aus Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.): Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. –
HERTHA KRÄFTNER
Dorfabend
Beim weißen Oleander
begruben sie das Kind,
und horchten miteinander,
ob nicht der falsche Wind
den Nachbarn schon erzähle,
daß es ein wenig schrie,
als seine ungetaufte Seele,
im Halstuch der Marie
erwürgt, zum Himmel floh.
Es roch nach Oleander,
nach Erde und nach Stroh;
sie horchten miteinander,
ob nicht der Wind verriete,
daß sie dem toten Knaben
noch eine weiße Margerite
ans blaue Hälschen gaben…
Sie hörten aber nur
das Rad des Dorfgendarmen,
der pfeifend heimwärts fuhr.
Dann seufzte im Vorübergehn
am Zaun die alte Magdalen:
„Gott hab mit uns Erbarmen.“
Seit ich dieses Gedicht kenne, hastet es durch mein Gedächtnis, höre ich seinen heftigen, am Ende seufzenden Atem. Es geht mir schon lange nach. 1953 las ich es zum ersten Mal, in dem von Hans Weigel herausgegebenen Jahrbuch Stimmen der Gegenwart, und aus einer „biographischen Notiz“ erfuhr ich nicht mehr, als daß Hertha Kräftner 1928 in Wien geboren wurde, im Burgenland auf wuchs, hernach wieder in Wien Philosophie und Germanistik studierte und im November 1951 starb.
Es war mehr ein Gerücht oder schon der Keim zu einer Legende. Als dann 1963 Otto Breicha und Andreas Okopenko in einem längst vergriffenen Band die Gedichte und die Prosa Hertha Kräftners vorlegten, brach durch die Andeutungen eine verzweifelte, an ihrem Ungenügen erstickende Existenz. Das Bild einer alles, aber auch alles Verlangenden: Von Kind auf hat sie gelesen, sich Ideale erträumt und sich vor großen Worten nicht gefürchtet, obwohl sie auf ihr lasteten; sie hat bedingungslos geliebt und erleben müssen, daß die Wirklichkeit vor ihrer hochfahrenden Phantasie zurückwich; schließlich fand sie nur noch schlichte Sätze, mit denen sie zwischen Anspruch und Verlust eine Grenze zog: „Es ist einfach so, daß ich viel zu traurig und zu müde bin, um noch leben zu wollen“, schrieb sie ihrer Mutter, bevor sie sich mit Schlaftabletten vergiftete.
„Dorfabend“ entstand am 3. September 1951, zwei Monate vor ihrem Tod. Neben einem andern, war es das letzte Gedicht, das Hertha Kräftner schrieb. In ihm gelingt es ihr, alle ihre Ängste zu bannen, das Grauen in der Schönheit eines Naturlauts aufgehen zu lassen. Es redet nicht mehr nur ihre Stimme, es ist auch die des Windes, der falsch und listig, Seelen verderbend durch die ersten neun Verse jagt. Der Wind, der die üble Nachrede mitnimmt und wie eine Krankheit verschleppt.
So weit der Raum des Gedichts auch scheint, die Zeilen reiben sich an einer tödlichen Enge. Und zugleich klingen sie ergeben, wie eine Rosenkranzlitanei. Der Widerspruch soll schmerzen, denn er ist das Thema: Aufruhr und Ergebung.
Das Gedicht hat drei nicht markierte Strophen. Zweimal setzt es, wie ein Volkslied, mit einem Blumenmotiv ein. „Beim weißen Oleander“, also in der verborgenen Wildnis und nicht auf dem Friedhof, begraben „sie“ ein Kind. Man erfährt, daß Marie es mit dem Halstuch erwürgt habe, und der Schmerz teilt sich in einem beinahe unauffälligen Zeilensprung mit:
im Halstuch der Marie
erwürgt.
Das Kind kam wohl ledig zur Welt, nun bleibt es auch noch ungetauft. Alle Verbote einer dörflichen Gemeinschaft sind verletzt worden – um so mehr kann der „Falsche Wind“ erzählen.
„Es roch nach Oleander / nach Erde und nach Stroh“: das Grab ist frisch; und daß sie „dem toten Knaben / noch eine weiße Margerite / ans Hälschen gaben“ ist ebenso das Eingeständnis der Schuld wie der unerlaubten Liebe. Zwischen dem zweiten und dritten Einsatz steht gleichsam eine Generalpause: ein hilfloses Schweigen, in das die Umgebung mit banalen Geräuschen rettend einbricht. Die Enge, die „sie“ zu Mördern machte, nimmt sie wieder auf. Der Gendarm hört nicht auf den Wind, und der Rosenkranz der alten Magdalen schließt mit der überkommenen, tausendfach gemurmelten Floskel eine Geschichte, ein Gedicht, das die eine Marie mit der andern vereint, die der Kräftner mit der Büchners:
Das Kind gibt mir einen Stich in’s Herz. Fort! Das läuft sich in der Sonne!
Ich weiß nicht, ob Hertha Kräftner dieses im Trostlosen aufrührerische Bündnis wollte. Es ist auch gleich. Sie hat dem Elend Woyzecks auf ihre Weise – und es ist wirklich eine „Weise“ – geantwortet.
Was er dumpf hat einsehen müssen, trägt der „falsche Wind“ nun durch die Zeilen dieses großen Gedichts:
Es liegt in niemands Gewalt, kein Dummkopf oder Verbrecher zu werden.
Peter Härtling, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
Es rüttelt an mir, dieses *Gedicht* .
Klingt, als wäre es eine Moritat und hat vermutlich einen echten Hintergrund.
Aus Verzweiflung das Eigene am Leben gehindert; wie schüttelt man eine solche Schuld ab? Indem man lelbst aus dem Leben geht?