– Zu Georg Trakls Gedicht „Ein Winterabend“ aus Georg Trakl: Das dichterische Werk. –
GEORG TRAKL
Ein Winterabend
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
Vor hundert Jahren, am 3. November 1914, starb Georg Trakl im Garnisonsspital Krakau, ein frühes Opfer jenes Krieges, den man als die Mutterkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet hat. Sein Gedicht „Ein Winterabend“ entstand noch vor Kriegsbeginn, vermutlich in Salzburg, jener Stadt, deren morbiden Reiz und Verfall Trakl auf so unvergleichliche Weise ins Dichterische überhöht hat, (weswegen Salzburg für mich noch mehr die Stadt Trakls als die Mozarts ist).
Mein Salzburg hieß Ravensburg. Die in Bodenseenähe gelegene alte freie Reichsstadt mit ihrer zerfallenden Stadtmauer und ihren düsteren Türmen, in denen die Krähen hausten, lieferte mir einst die passende Folie für meine Trakl-Begeisterung, ja Trakl-Trunkenheit, in die mich ein in der Katholischen Pfarrbücherei gefundener Band mit seinen Gedichten versetzt hatte, unter denen „Ein Winterabend“ mich so schmerzlich schön berührte wie sonst vielleicht nur noch Musik, Musik von Schubert. Ich war fünfzehn Jahre alt und gerade erst der Tortur jener katholischen Heime und Klosterschulen entronnen, in die ich nach dem frühen Tod der Mutter verbannt worden war. Jetzt verkaufte ich als Angestellter einer Haut- und Fellverwertung, deren Adresse ausgerechnet „In der Höll“ lautete, den Metzgern der Gegend Därme, Kardamom und andere Gewürze – und las, las in jeder freien Minute. Wenn ich an Herbst- oder Winterabenden aus der „Höll“ kam und meist, nur von der Schwermut getrieben, noch ziellos durch den Stadtpark mit seinen alten Linden und Kastanien streifte, die alte Stadtmauer entlang, wo der Modergeruch aus dem Hirschgraben aufstieg, oder durch die engen verwinkelten Altstadtgassen unterhalb der Veitsburg, wenn dann, wie aus Trakls Gedicht bestellt, auch noch die Abendglocken zu läuten begannen, schien mir alles, was ich sah, in narkotische Trakl-Farben getaucht, und ich atmete fast wollüstig Trakl-Luft.
Zu jenen, denen „der Tisch bereitet“ ist, zählte ich kaum, aber so vielen war damals kein Tisch bereitet und blühte kein „Baum der Gnade“, das Unglück der Heimatvertriebenen, Spätheimkehrer, Kriegsversehrten und Kriegerwitwen schwärzte auch das obenhin so idyllische Bild der Stadt Ravensburg ein. Heimatlos fühlte ich mich in einem fundamentalen Sinne, weil ich nicht nur mutterseelenallein war, sondern mich dazu noch die Vorstellung marterte, einem fluchbeladenen Volk anzugehören. Ich las ja nicht nur Gedichte, wenn auch Gedichte mich für Augenblicke von dem erlösten, was ich sonst las und was mich in den Abgrund der Geschichte blicken ließ. Schon Trakl selbst sah sich in ein „gottloses verfluchtes Jahrhundert“ gestellt und empfand darüber eine Schuld, für die ihm das Schreiben von Gedichten nur „eine unvollkommene Sühne“ schien. Der Urgrund der Trauer und der klagende Klang seiner Gedichte rühren aus dieser Schuld eines Schuldlosen.
„Schmerz versteinerte die Schwelle“: Erklären hätte ich diese Zeile aus der Schlussstrophe des Gedichts „Ein Winterabend“ nicht können, aber ich verstand sie sozusagen mit Leib und Seele (später las ich, dass Ludwig Wittgenstein über Trakls Gedichte geäußert hatte: „Ich verstehe sie nicht, aber ihr Ton beglückt mich“). Und ich verstand und teilte Trakls Sehnsucht nach Verwandlung und Erlösung. Brot und Wein sind in seinem Gedicht ja mehr als Brot und Wein, sind, wie bei der Wandlung in der katholischen Liturgie, Erscheinungsformen des Göttlichen und bleiben zugleich doch die Gnade des täglichen Brotes. Trakls „Ein Winterabend“ ist in Wahrheit ein geistliches Gedicht. In seinem spätem Gedicht „Menschheit“, das mit der Zeile „Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt“ anhebt und wie ein Manifest gegen das gerade beginnende große Morden wirkt, beschwört Trakl selbst das letzte Abendmahl:
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl
Doch Frieden finden die zwölf in Trakls Menschheits-Gedicht nicht:
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen.
Sie schreien wie jene schwer Verwundeten und Sterbenden im polnischen Grodek, deren Qualen der Sanitäter Georg Trakl nicht mehr länger zu ertragen vermochte und der deshalb mit einer Überdosis Morphium seinem Leben ein Ende setzte.
Georg Trakl und das frühe Erlebnis seiner Gedichte brachten mir erstmals zum Bewusstsein, dass es wahre Heimkehr und so etwas wie Erlösung aus der Geschichte nur in der Kunst gibt, im Gedicht, im Schreiben.
Peter Hamm, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtunddreißigster Band, Insel Verlag, 2015
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