Peter Härtling: Ausgewählte Gedichte 1953–1979

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Härtling: Ausgewählte Gedichte 1953–1979

Härtling-Ausgewählte Gedichte

WIDERWORTE

Du hast dir deinen Himmel selbst gemalt
und wenn du fortfliegst, stößt du nicht daran.
Du hast mit keiner Welt geprahlt,
Vergessenes siehst du mit Zutraun an.

Du trägst die alten Dinge sacht umher:
die Spiele, Masken und das Szenenwort −
sie wiegen leicht, sie warn nie schwer,
verrücken dich und nicht den Ort.

Wo bin ich schon daheim, fragst du den Schuh −
rufst dir Figuren hoch, die niemand kennt:
Sie bauen Straße Haus und Turm im Nu
und schlagen eine Sonne an, die nichts verbrennt.

So bist du weit: Wer dich erreichen will, der trennt
sich vom Gesicht, das er sich aufgesetzt,
verläßt den Namen, der ihn nennt,
verstößt das Echo, das er durchgewetzt.

Du lobst die Silben, ächtest den Vergleich,
stäubst Floskeln aus und machst die Wahrheit leer −
du spielst, verwandelst, schaffst ein Reich
und holst von neuem alle Widerworte her.

 

 

 

Nachwort

Es ist lange her. Ich erinnere mich gut. Man schrieb das Jahr 1955, als ich in dem Gedicht las, das sich „Chanson“ nannte und das von einer zarten Kunst- und Liebesfigur namens „Yamin“ angestimmt wurde, dessen Autor mir bist dahin völlig unbekannt gewesen war. Er hieß Peter Härtling und lebte damals im Südwesten unseres Landes, war zweiundzwanzig Jahre alt. Dieser Yamin hatte etwas von Lehmbrucks Jünglingsplastiken. Er wirkte übertrieben schmal, melodisch schmal, wenn ich so sagen soll. Er lebte sein empfindliches Dasein, in das ihn sein Erfinder Peter Härtling, der selbst noch fast ein Junge war, entlassen hatte:

mit pierette
ein rendezvous hat YAMIN
in der engsten straße der stadt
die blumen in YAMINS hand frieren.
zurückschaun und warten
im fenster schubert spielt
impromptus aus regen.

Das Gedicht war selber ein Impromptu. Es hatte die Zartheit der Improvisation, des fast Zufälligen, des Unschuldigen und des tief Melancholischen. Diese Serenade des Wartens hatte etwas von dem, was in dem jungen Härtling, der damals noch keine Prosa veröffentlicht hatte, versteckt, aber hier offenbar schien: Spielgeist, Spiegelgeist. So nannte sich ein sieben Jahre später erschienener, bereits vierter Gedichtband. Der Lyriker Härtling war inzwischen weitergekommen. Er hatte Yamin verabschiedet, ohne ihn vergessen zu haben. Man kann Yamin auch nicht vergessen, nicht nur als sein Autor nicht.
Die frühen Gedichte Härtlings hatten – wie damals manche Gedichte von Höllerer, Günter Bruno Fuchs, auch Elisabeth Borchers, eine bestimmte Stimm- und Sprechlage, die als Strömung einige Zeit in Gedichten jener Jahre erkennbar war. Manches an ihr wirkte wie ein Echo auf den wiederentdeckten Hans Arp, und die liebenswürdig-kindlich-träumerische Erfindung „Yamin“ stand gleichsam in Rufnähe. Sein Erfinder hat sich später über ihn geäußert:

Yamin ist die Lust zur Metamorphose. Er ist kein gewöhnlicher Narr. Er kann nicht nur sein Lächeln lächeln, sein Lachen lachen, sein Weinen weinen. Mit ihm war dem Schreibenden möglich, in die Dinge zu schlüpfen und dem beharrlichen Ich, das nicht aus seinem Zirkel springen kann, den Boden zu entziehen.

Als Peter Härtling dies sechs Jahre nach „Yamins Stationen“ anläßlich Hans Benders Sammlung Mein Gedicht ist mein Messer sagte, hatte er schon Abstand gewonnen. Und doch war noch manches so ähnlich. Er hatte sich in der zauberisch liquiden und bezaubernd kindlichen Märchen- und Einfaltsgestalt Yamins nicht einfach eine Maske vorgebunden, nicht bloß eine Figur, eine Figurine für sich und sein Wesen sprechen und handeln lassen. Die poetische Reinheit Yamins blieb so und war nicht wiederholbar. Aber es gab manche Varianten. Es gab kindliche Stücke und Gedichte von Kindern und für Kinder und bis in die Gedichtbandtitel blieben die Absichten jener „Metamorphosen“, jener zarten und unablässigen Wandlungen in Winken, Zurufen, Widmungen, Erinnerungen erhalten.
Die zauberladenhaften Divertimenti wurden nach und nach stabiler. Ihnen wurde nicht die Luft entzogen, in der sie atmeten. Aber sie bekamen mehr und mehr Boden unter die Füße. Sie bekamen sozusagen Hand und Fuß, waren nicht mehr Gespinst und hochsensibles Phantasiegeschöpf. Die Vorstellungskraft festigte sich und erweiterte sich so bei Härtling, der nun Prosa veröffentlichte, Romane; Erzählungen, der sich essayistisch äußerte und Stellung nahm. Der Schubertton blieb unverloren. Schumanns „Kreisleriana“, von der in einem viel später geschriebenen Gedicht die Rede ist, ist nicht unverwandt. Und Lenaus Geigenspiel, sein wildes, besessenes und tieftrauriges und zugleich übermütiges Improvisieren zog sich wie eine Hintergrundmelodie durch Verschiedenes. Das Staunen Yamins, seine ratlose Traurigkeit veränderte sich, aber noch lange blieb in den Gedichten etwas vom großen Kind versteckt, das nicht erwachsen werden muß, um sich so auszudrücken, wie Härtling es tat. Unter den Brunnen (1958), Spielgeist Spiegelgeist (1962), danach die Neuen Gedichte (1972), die Anreden (1977), diese Personengedichte, diese hochkommunikativen Gedichte bringen bei aller großen Weiterentwicklung etwas, das noch an die Unbegreiflichkeit, den flüchtigen Zauber von früher erinnert. Jugendlichen Schwermut und Anmut zu wiederholen, wäre unmöglich gewesen. Aber die spielwerkähnlichen Gedichte, wie für sehr ernsthafte Kinder geschrieben, setzten fort, was dem ätherischen Yamin damals nicht möglich gewesen war. Sie versuchten, festen Boden zu bekommen, Land, Herkunft, individuelles Geschick, persönliche Verhältnisse zu zeigen. Das frühe Spiel wurde gewiß nie wieder so „durchgespielt“. Und im übrigen weiß man, daß jedem Spieler von einem bestimmten Augenblick an mitgespielt wird. Spiel ist mehr als ein pays cache-cache. Man kann sich nicht ein für allemal im Spiel verstecken, und das schöne Blindekuhspiel muß irgendwann ein Ende erreichen. Andere nehmen einem die Binde ab, wenn man es nicht selber besorgt: die schützende Binde vor den Augen, das wunderbare Tuch, hinter dem man blind ist und poetisch dazu.
Bei dem, was Peter Härtling nun schrieb, spielte das Autobiographische hinein. Die Gedichte waren gewiß nicht mehr außerhalb von Ort und Zeit gestellt. Doch die Autobiographie schloß noch nicht jene immer kommunikativer werdende Leichtigkeit aus. Immer gab es noch etwas vom Puppenspiel und vom Staunen mit großen Augen. Härtling konnte, weil er sich Staunen erhielt, seine Bücher für die Kinder schreiben. Das Kind erstand in einem immer anderen Kind in Vers und Prosa, während der längst erwachsene Mann seine Zeit sah, in die er hineingestellt worden war, die er erlitten, gegen die er sich zur Wehr gesetzt und die er beschrieben hatte, so detailliert und gerecht wie möglich. Doch im Gedicht hält sich das Unbegreifliche und hält sich das Unwiederbringliche länger. Die Musik verschwand nie aus den Gedichten und das Spiel hörte sich im „Spielgeist“ so an:

aufgestöbert und zerbrochen
spielzeug an den kleidern baumeln
liest musik aus seinem taumeln
hat den aberwitz gerochen

steigt ins lachen taucht ins weinen
sammelt beides streut es aus
schickt den sand ins wetterhaus
hält den andern für den einen.

klingelt kleistert klirrt und klopft
spottet türen reizt die zahlen
jubelt wenn ein knurrhahn tropft
und beginnt den laut zu malen.

Es ist ein langer Abschied vom Spiel, vom spielerischen Ernst, von Aberwitz und Übermut, vom schönen Verfügen über den Sprachgeist, von dieser Spiel- und Minutenmusik in Wörtern, die sich noch reimen, während es doch schon Olmütz 1942-1945 und anderes Verwandtes gab, was an den Ausgewählten Gedichten 1953-1979 in den Landschaften, Orten, den Personen gedichten, aber auch an anderer Stelle erscheint und dazu gehört, das dringlich wird, aber auf Härtling’sche Art und Weise, auf fast zärtliche Weise aufmerksam machend, erinnernd, vergegenwärtigend, einbeziehend. Im Hinblick auf die Spielgeist-Spiegelgeist Gedichte heißt es einmal: „Das Kind weiß nun, wohin es der Zeitstrom geschwemmt hat, und es spielt, blind vom Tränensalz: ,ich bin alt.‘“ Man kann es nicht empfindlicher ausdrücken. Immer noch ist der hochgeschossene, schmale Yamin an Leben und Werk. Er hat um sich eine besondere Kinderschar als Gefährten bekommen, ein besonderes Spielzeug und ein ernstes Spielzeug. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine Zeile des französischen Lyrikers Léon-Paul Fargue. Bei ihm heißt es: „Der Tod ist das ernste Spielzeug Gottes.“ So ernst – ahnt man, weiß man – kann es jederzeit zugehen im unerbittlich erwachsen gewordenen und gelebten Leben mit seinen Verhältnissen und Grenzen, die man nicht überspielen und überreden kann. Aber die Anrede ist doch geblieben, wie die Selbstbefragungen geblieben sind.
Und Anreden wie Selbstbefragungen sind ein wichtiger Bestandteil der neueren und neuesten Gedichte Peter Härtlings. Anreden war – vor zwei Jahren – der richtige Titel. Es waren Verständigungen, ein Umgang mit Freunden und Geistern, mit Lebenden und Gestorbenen und zugleich immer auch ein Umgang mit sich, ein Gespräch, das ins Selbstgespräch übergehen könnte, das man gelegentlich schon wittert, indem von einem bestimmten Anderen die Rede ist, in einer bestimmten „Anrede“. Das Selbstporträt, die Spiegelung, das Liebesgedicht als sensibelste Anrede gehören wie Wort und Widerwort ins Bild dieser Lyrik, wie Frage und Unterhaltung, auch wie ein Gedicht, das sich „An meine Feinde“ nennt.

Ich frage mich,
was ich aufheben soll.
Viel habe ich zusammengetragen
in den letzten Jahren:
für wen könnte es nützlich sein.
Wer hätte Spaß daran?

Die Frage geht über ins Porträt, das das eigene Ich, das ernsteste Spiegelbild im Jahre 1977 aufzeichnet:

Wenn ich wieder
schreibe, dann
über die Bruchstücke,
von denen wir
annehmen, sie seien
alles.
Mein Gedächtnis
erinnert Sätze,
die erst Erinnerung
haben werden.
Wenn überhaupt.

So sprechen Jahre, in die man kam, in die auch Härtling kam. Und die Jahre stellen Fragen, genügend unbeantwortbare. Die Stimme, die eigene Stimme, hört sich nun anders an, und ist doch dieselbe. „Einige Fragen – an wen?“
Es hat sich nicht ausgefragt, so lange man schreibt und lebt und schreibend lebt mit dem besonderen Bewußtsein, besonders beobachtbar zu sein und zu bleiben. Es ist ein kompliziertes Weiterleben mit den Jahren. Die Fragen lassen nicht in Ruhe, die Fragen nehmen zu. Jemand, der in die Jahre zu kommen beginnt, hört zum Beispiel Schumanns „Kreisleriana“, das sechste Stück, das die Bezeichnung „sehr langsam“ trägt, lieber allein. Er hört es nicht nur lieber, er hört es „immer allein“, und an dieser Stelle heißt es weiter: „und jetzt bin ich weit weg / von denen, / die / meine Geschichte kennen / und mich aufsagen könnten, / damit ich bleibe.“ Diesem Ernst ist nichts hinzuzufügen. Was bleibt, ist eine sehr langsame Klaviermusik im Zimmer, Schumanns Musik. Aber im Zimmer sind doch auch die anderen anwesend, ein für allemal: die Kinder, die Liebenden, die Puppen, der Strauch, der keinen Namen hat, der alte Friedhof in Nürtingen oder ein Haus in der Bretagne, und Olmütz, dieses Olmütz gewiß. Ein Raum für Geister, ein Lebens-Raum, ein Raum für den, der es schrieb und ins Leben rief. Dies bleibt unwiderrufbar. Auch der Bilderbuchmond blieb so. Härtling ist nicht – wie er meint – allein mit der Musik im Raum.

Karl Krolow, Nachwort

 

Die vorliegende Auswahl

umfaßt Gedichte Peter Härtling aus mehr als 25 Jahren, geordnet nach Themen: Frühe Gedichte; Kindergedichte; Spielgeist; Personen; Landschaften, Orte; Liebesgedichte; Spiegelbilder.

Hermann Luchterhand Verlag, Klappentext, 1979

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Martin Lüdke: Dichter, Erzähler, Zeitgenosse
faustkultur.de, 13.11.2013

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Härtlingfächer“.

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