Peter Horst Neumann: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Die Scheiße“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Die Scheiße“ aus Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950–1985. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Die Scheiße

Immerzu höre ich von ihr reden
als wär sie an allem schuld.
Seht nur, wie sanft und bescheiden
sie unter uns Platz nimmt!
Warum besudeln wir denn
ihren guten Namen
und leihen ihn
dem Präsidenten der USA,
den Bullen, dem Krieg
und dem Kapitalismus?

Wie vergänglich sie ist,
und das was wir nach ihr nennen
wie dauerhaft!
Sie, die Nachgiebige,
führen wir auf der Zunge
und meinen die Ausbeuter.
Sie, die wir ausgedrückt haben,
soll nun auch noch ausdrücken
unsere Wut?

Hat sie uns nicht erleichtert?
Von weicher Beschaffenheit
und eigentümlich gewaltlos
ist sie von allen Werken des Menschen
vermutlich das friedlichste.
Was hat sie uns nur getan?

 

Anmerkungen zu einer Fäkalie

Eindeutige Verse, aus dem Umfeld der 68er Kulturrevolution. Ihre Sprache ist von Brecht geborgt. Zu interpretieren gibt es hier nichts. Doch die im Text gerühmte Fäkalie und ihr inflationärer Gebrauch als Fluchwort sind – aus nicht nur poetischem Anlaß – eine Glosse wert.
Sie ist, nach Freud, das erste
Geschenk des Neugeborenen an die Welt, von den Eltern mit Freude entgegengenommen, etwas sehr Wertvolles, eine Art Währung, ein Gesundheitsbeweis, je nach Farbe und Konsistenz. Wer von ihr träumt, dem steht Geld ins Haus. Alten Traumbüchern war diese Gleichung geläufig, und falls es neuere gibt, die ich nicht kenne, hätten sie gutgetan, an ihr festzuhalten. Meine Großmutter hatte Beweise: ein Lotteriegewinn nach solch einem Traum.
Was das Verhältnis von Kot und
Schönheit betrifft – ein Randproblem dieser Beziehungsgeschichte –, so steht dazu Nachdenkenswertes immerhin bei Jean Paul, in seiner „Vorschule der Ästhetik“. Im Paragraphen 26 („Definitionen des Lächerlichen“) erwähnt er beiläufig die Nomaden Kamtschadkas. Die hätten einen Gott verehrt, der „seinen eigenen gefrorenen Unrat für eine Schönheitsgöttin der Liebe“ hielt, allerdings „vor dessen Auftauen“. Aus welcher Quelle Jean Pauls Gewährsmann Karl Friedrich Flögel dieses Kuriosum schöpfte, ist nicht bekannt. Zweifellos handelt es sich um einen mythologischen Extremfall, gebunden an nördliche Klima-Bedingungen.
Aber auch um ein Beispiel – ein sehr apartes, fast modernes: Man denke an zeitgenössische Schrott-Art – für das Kunstschöne und die Beliebigkeit seines Materials.
Als Kaiser Vespasian (um 70 nach Christus) in Rom eine Klo-Steuer erhob, wenn auch nur für die öffentlichen Aborte, und seine Kritiker diese Methode staatlicher Geldbeschaffung anrüchig fanden, soll er nach einer Münze gegriffen, diese zur Nase geführt und der Nachwelt das Sprichwort
non olet gestiftet haben.
Daß die Verbindung von Kot und Geld nachgerade zu unserer archetypischen Substanz gehören muß, erkennt man an einem Kulturgut besonderer Art, am
Fluchen, und an der noch ungeschriebenen Geschichte seines Verfalls. Heiligkeiten, strenge gesellschaftliche Normen und allgemein respektierte Kultursymbole sind notwendige Voraussetzungen für phantasie- und kraftvolle Flüche. Davon ist uns fast nichts mehr geblieben. Das Wort, zu dessen Schonung uns Enzensbergers Gedicht so einsichtsvoll aufruft, ist der kümmerliche Restbestand einer vitaleren Fluch-Tradition. Daß es für alles Schmähbare herhalten muß und den stumpfsinnig Fluchenden einen so billigen Lustgewinn verschafft, deutet wohl insgeheim auf den „heiligsten“ unserer Werte, das Geld, und entspricht unserer einzigen allgemein verbindlichen money-deistischen Religion.

Peter Horst Neumannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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