IN MEMORIAM PAUL ELUARD
Freiheit, mein Stern,
nicht auf den Himmelsgrund gezeichnet,
Über den Schmerzen der Welt
Noch unsichtbar
Ziehst du die Bahn
Am Wendekreis der Zeit.
Ich weiß, mein Stern,
Dein Licht ist unterwegs.
Lesung von Peter Huchel aus Chausseen Chausseen. Stattgefunden wahrscheinlich in Wilhelmshorst 1963 für eine Quartplatte des Klaus Wagenbach Verlages. (Sammlung Verlag Klaus Wagenbach: Tonband 21)
ist dies der erste Band mit neuen Gedichten Peter Huchels. Es sind Gedichte der Erinnerung, des Abschieds, der Trauer. Manifeste und Träume, deren „letztes Vermächtnis das Schweigen“ ist. Gedichte aber auch, die die Landschaft wieder als das beschwören, was sie ist: Gleichnis und Gegenbild. Gedichte eines wahrhaft Großen, eines geheimen Doyen der deutschen Lyrik.
S. Fischer Verlag, Klappentext, 1963
„Und auch der Teich ist noch derselbe / wie einst…“, beginnt die Schlußstrophe seines Gedichtes „Der Knabenteich“, und sie endet:
Wenn dich im Traum das teichgrüntiefe
Gesicht voll Binsenhaar umfängt,
ist es als ob der Knabe riefe,
weil noch dein Netz am Wasser hängt.
Als Peter Huchel es schrieb, war er neunundzwanzig. Der Knabe ruft ihn noch heute, und das Netz hängt noch heute am Wasser; aber die Stimme ist anders geworden, und der Teich ist nicht mehr derselbe. Auch ein paar Schlüsselwörter stehen in dieser Strophe, die es durch die Jahrzehnte geblieben sind, obwohl die Räume, die sie aufschließen, eine Dimension mehr aufweisen: EINST und NOCH — dies in seinen Verbindungen mit IMMER und EINMAL. Ein weiteres Wort, das hierher gehört: DAMALS.
Jetzt ist er einundsechzig, Ruhm geht seinem Namen voraus, ein Ruhm, der ihn verbirgt und seine Einsamkeit nur verschärft. Denn wem gilt er? Gewiß, dem Mann, der dreizehn Jahre lang unter den Verhältnissen im anderen Teil Deutschlands der Zeitschrift Sinn und Form ihren Rang gab, bis die Machthaber seinen Kunst- und Freisinn endgültig für anstößig und untragbar befanden. Aber dem Dichter? Dreißig Jahre deutscher Politik haben den tief unpolitischen Huchel daran gehindert, seinen Platz in unserer Literatur einzunehmen. Sein Werk, ein schmales, unaufdringliches freilich, blieb beinah apokryph. Einen frühen Gedichtband zog er, als die Nazis kamen, zurück, ein neuer erschien erst 1948 im Aufbau Verlag; er wurde kein zweites Mal aufgelegt. Die westdeutsche Ausgabe davon, 1949 bei Stahlberg, ist längst vergriffen und fast unauffindbar. Also Anthologien, also Zeitschriften, wie Willy Haas’ Literarische Welt, wie Sinn und Form. Aber wer sucht sich da die Stücke zur Gestalt zusammen?
Es wurde 1963, ehe Huchel seinen Ruhm einholen und sich mit einem allgemein zugänglichen Werk vor ihn stellen konnte: Chausseen Chausseen. Trotz des eingangs zitierten Beharrenden in Huchels Lyrik ist es ein weiter, keineswegs stetiger Weg von den früheren Gedichten zu diesen. Ein Weg der Reife. Das wird zu zeigen sein.
Die Gedichte des ersten Bandes entstanden zwischen 1925 und 1947, über zweiundzwanzig Jahre hin also. Dennoch sind sie — im ganzen genommen — enger miteinander verwandt als mit den neuen. Die Gedichte in Chausseen Chausseen tragen kein Datum, aber Huchel muß in den fünfziger Jahren seine Kunst und seine Mittel einer rigorosen Prüfung unterzogen haben. Spätwirkung des Krieges? Folge politischer Erfahrungen? Konsequenz schöpferischen Ungenügens an sich selbst? Uns ist nur das Ergebnis erkennbar: ein neuer Stil. Hier fürs erste ein Indiz:
Dunst der Nacht verwischt die Schneisen,
klagt ein Wild im Tellereisen.
So im ersten Buch.
Gefangen bist du, Traum
Dein Knöchel brennt,
Zerschlagen im Tellereisen.
So im zweiten.
Reife eines Dichters: Was soll das besagen? Daß er ein Mißtrauen gegen die Sprache ausbilde und schärfe. Der hochgemute Leichtsinn im Umgang mit ihr vergeht — und gerade bei jenen, denen sie sich früh und widerstandslos schenkt: Hölderlin, Kleist, Rilke, Hofmannsthal. Huchel gehört zu ihnen. Mit dreiundzwanzig Jahren schon brachte er es zu Strophen von floskelloser Vollkommenheit, wie in „Die Magd“:
Klaubholz hat sie im Wald geknackt,
die Kiepe mit Kienzapf gepackt.
Sie hockt mich auf und schürzt sich kurz,
schwankt barfuß durch den Stoppelsturz.
Im Acker knarrt die späte Fuhr.
Die Nacht pecht schwarz die Wagenspur.
Die Geiß, die zottig mit uns streift,
im Bärlapp voll die Zitze schleift.
Wortbereich und Bildherkunft Huchelscher Lyrik werden hier deutlich — anderswo heißt es etwa „Der schwarze Kahn, von Nacht geteert“ —, und auch jenes Kardinalthema aus dem „Knabenteich“ ist da: Kindheit. „Kindheit, o blühende Zauch“, „Einst waren wir alle im glücklichen Garten“ — immer wieder wird die Kindheit berufen in diesen Gedichten, deren erstes den Titel „Herkunft“ trägt und deren letztes „Heimkehr“ heißt. „Doch fahren sie Grummet, der Sommer weht her / Vom Heuweg der Kindheit, wo ich einst saß“, „Kraniche waren noch Huldigungen / Der Herbstnacht an das spähende Kind“ — so liest man heute. Aber fraglich ist nun das einst Gewisse: „Wo bist du, damals sinkender Tag?“ beginnen solche Gedichte jetzt und „Wo bin ich?“ und „Singende Öde am Fluß: wer rief?“ Darauf kommt keine Antwort, und das kann keine romantische Undine-Gestimmtheit — „ist es als ob der Knabe riefe“ — mehr wettmachen. Der Knabe ist aus dem Gefühl in die bildfähige Distanz unwiderruflicher Vergangenheit gerückt: „Wo einmal der Knabe im Schatten des Kahns, / Den Mittag neben den Netzen verschlief.“ (Typisch übrigens die behutsame Alliteration und die betörende Komposition der Vokale.)
Man hat gefragt, warum Huchel „drüben“ bleibe. Seine Gedichte geben eine Antwort darauf. „Herkunft“ und „Heimkehr“ — auf einem Bauernhof im Havelland ist er aufgewachsen, und in diese Gegend kehrte er aus russischer Gefangenschaft zurück. Mir ist kein anderer Dichter seines Ranges bekannt, der so sehr aus einer Landschaft existiert, ja, in einer Art geistiger Osmose mit ihr lebt, der zu sich selbst kommt, indem er ihr Worte gibt, sie bereichert, indem er ihre Bilder empfängt. Sogar nach Frankreich hat er das Havelland mitgenommen, wie die Gedichte jener Zeit zeigen. Erst lange danach hat es ihn freigegeben für wirkliche Reisen; doch so ergiebig die Begegnung etwa mit dem Süden dann auch wurde, die größere Freiheit bedeutet nicht Loslösung: seine Sensibilität und seine Einbildungskraft sind von langher geprägt. Was er wahrnimmt, was er auswählt, wie er es wandelt — das ist hier vorentschieden worden. So läßt sich kaum jemand denken, der schwerer aus seiner Heimat wegginge. Allerdings ist diese Heimat nicht durch ein Planquadrat fixierbar, sie hat, wie angedeutet, zeitliche Tiefe: Landschaft der Kindheit, die unanfechtbare, zweifellose, ungeteilte Welt des Kindes, in der keine andere Zeit gilt als die Jahreszeit. Diese Landschaft des EINST und DAMALS kongruiert nur noch in Stücken mit der jetzigen. In der Benennung des NOCH werden Dauer und Verlust zugleich ausgesprochen. Solche Ambivalenz wird zum ästhetischen Reiz.
Erstaunlich ist, daß ein so junger Mann, wie der Huchel der frühen Gedichte, jener Welt ein derart dominierendes Heimweh zuwendet. Natürlich benutzt er weder das Wort „Heimat“, noch das Wort „Heimweh“. Vielmehr geben seine Gedichte diesen Begriffen erst Inhalt und Kontur und zwar durch äußerste sinnliche Vergegenwärtigung. Fast könnte man sagen, daß Heimweh möglichst unverwandelt „die Lebenseinheit zur Kunsteinheit überzuführen suche“, um eine Formulierung Walter Benjamins aus einer Hölderlin-Interpretation aufzunehmen. Benjamin wertet dieses Verfahren ab, er will Verwandlung, Überführung in eine „dem Mythischen verwandte Sphäre“, und wenn man den frühen Huchel an dem mißt, zu dem er heute geworden ist, darf man diese Abwertung akzeptieren. Sein eigener Anspruch ermächtigt dazu.
Dabei haben die frühen Gedichte oft unwiderstehliche Schönheit. Ohne Preziosität sind die ästhetischen Qualitäten jener Landessprache genutzt, ja, allererst erkennbar gemacht: Brache, Lanke, Luch, Hamen, Darren, Bärlapp, Beifuß, Kalmus, Melde, Lupine, Lattich, Unke, Bekassine —aber solche Vokabeln werden nun nicht wie beim frühen Krolow, zuweilen auch bei Wilhelm Lehmann, als poetischer Zierat verwendet. Die Beschwörung gewinnt Macht durch das konkreteste Wort, und die Wörter werden zu lauter Eigennamen der Landschaft. Der Reim kommt leicht, manchmal zu leicht, der Vers ist gesättigt, er drängt nicht, hängt nicht, ist statisch und beruhigt. Die wäßrige, schwermütige Gegend der Havelseen mit den Dämmerungen und Verzauberungen des Kindseins scheint wiederbringlich, ja, wiedergebracht kraft der Poesie. Schwermut und Leichtigkeit gehen in diesen Gedichten eine unverwechselbare Verbindung ein.
Seltsam, daß nicht einmal der Krieg daran viel ändern konnte. Auch er erscheint im Bilde der Landschaft, die nun verdüstert und verödet wirkt. Balken und Tote treiben in Flüssen: Schlamm, Qualm und Ratten: alles da — und doch ist diese Welt in Schönheit schrecklich:
… ein Hofhund jault,
der Ratten Kost,
am Stiefel fault
der Fuß im Frost,
der Kinder Schrei,
der Alten Fluch,
mondwärts vorbei
an Fenn und Luch
der Toten Treck…
Huchel stößt hier auf ein Problem, das er erst in Chausseen Chauseen aussprechen wird („Wei Dun und die alten Meister“) und mit dem jeder Dichter unserer Zeit zu tun bekommt, besonders der Lyriker: wie sich das Schreckliche, Schlimme, das Grauen durch das Schöne ausdrücken lasse. Ich erinnere nur an Celans bedeutende, dennoch umstrittene „Todesfuge“. Das Gedicht intendiert nun einmal Schönheit, ob auch die Ansichten darüber, was schön sei, sich ändern. Es setzt Schönheit, oder es gibt sich auf. Doch gilt Schillers Satz, das „Kunstgeheimnis des Meisters“ bestehe darin, „daß er den Stoff durch die Form vertilge“, sogar für solche Stoffe. Der spätere Huchel beweist Meisterschaft in diesem strengen Sinn.
„Kalt weht die Chaussee ins Jahr, / Wo einst der Acker warm von der Wärme / Des brütenden Rebhuhns war“, schreibt er, und das Verlorene hat nun den Charakter der Endgültigkeit. Der Verlust der Kindheit ist nur mehr Zeichen von Verlust überhaupt. „Die Erde schenkt uns keine Zeit / Über den Tod hinaus. / Ins Gewebe der Nacht genäht / Versinken die Stimmen / Unauffindbar“ heißt es in „Verona“, einem Gedicht, das durch und durch getränkt ist vom Schmerz der Vergänglichkeit:
Auf der Mauer die Katze,
Sie dreht ihr Haupt ins Schweigen,
Erkennt uns nicht mehr.
Was früher schwelgerisch beschworen wurde, wird Sinnzeichen, Kürzel für Dasein schlechthin. „Ich ging durchs Dorf / Und sah das Gewohnte“ kann Huchel jetzt sagen und mit kargem Wort ein paar scheinbar ewige ländliche Tätigkeiten nennen. Den Lebenden zwar wird das Trügerische solcher Dauer nicht bewußt; die Toten aber, die nun immer wieder berufen werden, „… sehen / Den eisigen Schatten der Erde / Gleiten über den Mond. / Sie wissen, dieses wird bleiben.“ Nicht mehr so oft stehen Gedichte im Imperfekt, wenn aber, dann bedeutet es nicht mehr Vergewisserung von Gewesenem, sondern Hinweis auf das Vorbei. Dem NOCH ist doppeltes Gewicht zugewachsen. Zeit wird kostbar:
Nicht zähle die Jahre, zähle die Stunden.
Immer wieder tauchen Fragezeichen auf. Heimkehr? Jetzt steht Chausseen Chausseen als Titel über der ganzen Sammlung: hauslos, ortlos, vertrieben, zwischen Ungewissen Zufluchten und undeutbaren Zeichen unterwegs durch die stürzende Zeit — so sieht es aus mit dem Menschen. Das Gleichmaß der Verse ist dahin, sie sind lapidar geworden, von Unruhe erregt und gespannt, sie decken präzis die innere Gebärde, sind oft frei, aber die Aufgabe, Schriftbild der Chiffren zu sein, gibt ihrer Gestalt entschiedener Strenge als klassische Metrik. Der Reim wird rar; wo er aber steht, nimmt er eine Schönheit auf, die unter dem Signum der Vergänglichkeit mit ganz neuer Intensität erfahren wird. Nicht mehr besticht das sensibel zu Sprache und Laut Gebrachte ländlicher Schönheit. Die bietet jetzt eher das Rohmaterial für eine kunstgeschaffene Welt von hellerer Anschaulichkeit und — Wahrheit: „Die Abendbrise mäht / Die Schatten der Pinien.“ „Turmschwalbenschreie schleifen die Luft.“ „Ausgesogen hat der Schlaf / Die summende Wabe des Markts.“ „Und weiß und rund wie das Ei der Eule / Glänzt abends der Mond im dünnen Geäst.“ Der Mond, unter negativem Aspekt „ein weißer Stein“, der im dünnen Wasser des Himmels ertrinkt. Der Stein, der zum „Speicher der Stille“ wird. Das „wie“ des Vergleichs ist selten geworden, Identifikation setzt es matt.
Landschaft ist das Medium, durch das Huchel Welt wahrnimmt, durch das er sich ihr mitteilt. Nahm aber früher die Welt die Züge der Landschaft an, so nimmt jetzt die Landschaft die Züge der Welt an. Sie wird rätselhaft, unheimlich, bedrohlich, wird vieldeutig und antwortlos. Sie ist Zeichen geworden, evidente und nicht weiter rückführbare Abbreviatur eines als fragwürdig erfahrenen Daseins wie am Anfang von „An taube Ohren der Geschlechter“:
Es war ein Land mit hundert Brunnen.
Nehmt für zwei Wochen Wasser mit.
Knapper, sinnfälliger kann man nicht sprechen.
Wie sehr aber Huchel die Landschaft, den ländlichen Lebenskreis als Medium braucht, zeigt sich dann, wenn er sein Thema nicht über sie bezieht. Augenblicklich läßt die Einbildungskraft nach, die Überführung ins Sinnbild fällt aus. Es kommt zu Stücken wie „Soldatenfriedhof“, worin man verdutzt Börries v. Münchhausens Stimme zu hören meint. Andererseits scheint es zuweilen, wenn Huchel den Krieg unmittelbar sich vorsetzt, er traue der Kunst nicht zu, mit ihrer Wahrheit die Wirklichkeit zu erreichen oder gar zu überbieten, und versuche darum, Details der sogenannten Realität — wenn schon in künstlerischer Auswahl — getreu wiederzugeben, — ein Verfahren, bei dem jedenfalls der Stoff nicht von der Form vertilgt wird und das nur betroffen macht, weil man den Dichter seine besten Möglichkeiten versäumen sieht. Solche Gefährdungen und Anfälligkeiten nicht zu bemerken, hieße Huchels bisheriges Werk in ein schiefes Licht setzen, das die wahre Größe verzerrt.
Schon am Ende seines ersten Gedichtbandes hatte er sich die bittere Brechtsche Frage gestellt, ob er denn „preisen“ dürfe, „eh nicht der Mensch den Menschen erlöst“. Man wird dem Wort „preisen“ mit heftigem Mißtrauen begegnen; doch ist diesem Manne im Grunde nach Lobpreis des Daseins zumut, sei es auch Trauer, die er „in der Mitte der Dinge“ erkennt, und wenn auch die Brombeerranke Stacheldraht wird, die Schatten im Unterholz ihr Fangnetz aufstellen, die Termiten mit ihren Zangen die Geschichte in den Sand schreiben und der Hagel die Grabschrift für den zerschlagenen Traum auf die schwarze Glätte der Wasserlache meißelt: also das Schweigen das letzte, unartikulierbare Wort scheint. Die Sprache, die immer „ein Riegel fürs Feuer“ war und nun „unter der Wurzel der Distel wohnt“, ist doch „nicht abgewandt“. Alle Gedichte des neuen Bandes sind Anstrengungen, das Ja, das Huchel sich auf jene Frage gab, zu rechtfertigen und wenn schon nicht preisen, so doch zu sagen die Welt zu sagen mit der – ich scheue mich nicht – heiligen Nüchternheit Hölderlins, die seinen besten Gedichten Atem gibt.
Rino Sanders, Neue Rundschau, Heft 2, 1964
Sehr weit von uns entfernt, in Wilhelmshorst bei Potsdam, lebt zusammen mit seinem Sohn ein einsamer Mann – ein großer Schriftsteller, der sich einer schmerzlichen Berühmtheit erfreut: Zwar sieht er den Rauch der Feuer, die man gerade jetzt zwischen Konstanz und Kiel zu seinen Ehren entzündet, aber die Flammen sind nutzlos, sie wärmen ihn nicht. Fontanes Mark ist zum Ghetto geworden; die kleine Redaktionsstube, von der man in Prag und Warschau auch heute noch mit Reverenz und Wehmut spricht, steht leer (ein Wilhelm Girnus redigiert jetzt Sinn und Form, die Zeitschrift, die bis zum vergangenen Winter so etwas wie das geheime Journal der Nation war); die Mitarbeiter von einst, Mayer und Bloch, leben im Westen; Brecht ist tot; Ernst Fischer wird verlacht, und Peter Huchel sieht sich ausgerechnet in jenem Augenblick so verlassen wie niemals zuvor, da ein zweiter Gedichtband den imaginären Kreis seiner Freunde von Tag zu Tag weiter vergrößert. Zehntausend Leser, aber kein Gespräch von Zaun zu Zaun; ein Ruhm, der in seiner Abstraktheit beinahe an Nachruhm erinnert: ein Musilscher „Nachlaß zu Lebzeiten“ fast… Die Zeichen sind düster, und es wäre falsch, so zu tun, als ergäben die vor uns liegenden achtundvierzig Gedichte einen Band wie jeden anderen auch – Chausseen Chausseen.
„War es das Zeichen?“ „Die Ode wird Geschichte. / Termiten schreiben sie / Mit ihren Zangen / In den Sand“ – die Frage zu Beginn und die Sentenz am Schluß: Zeichen und Psalm, Erkundung und Zeugnis, das Sichvergewissern und der Kreuzschlag bilden die Pole, zwischen denen die Gedichte, fünffach gegliedert, sich spannen. Es beginnt sehr verhalten, der Anfang ist unscheinbar, die Impression bescheiden, aber konkret und von großer Anschaulichkeit.
Baumkahler Hügel,
Noch einmal flog
Am Abend die Wildentenkette
Durch wäßrige Herbstluft.
Vertraute Naturlyrik, könnte man meinen, eine Variation von Huchels frühen Gedichten; Hügel, Herbstluft und Wildentenkette: eine Bildererzählung, ein episch-zeilenweises Weitertasten von Station zu Station. Aber der Anschein trügt, die Worte „noch einmal“ geben der Zustandsbeschreibung zeitliche Tiefe, zersprengen das räumliche Muster, setzen (dank der Doppeldeutigkeit von „wieder“ und „ein letztes Mal“) die Phantasie in Bewegung. Zur ersten Dimension gesellt sich die zweite; der Text verweist auf den Kontext; das Beschriebene schrumpft plötzlich vor der Übermacht des Auszufüllenden zusammen; das Offene überwiegt das Fixierte. Zwei winzige Vokabeln genügen, um der Herbstlokalität ein Air von schwebender Vieldeutigkeit zu verleihen; der Satz wird zur Frage („War es das Zeichen?“), das erzählende Subjekt verläßt seinen olympischen Standort und gewinnt – als Element unter Elementen: hineingenommen ins Gedicht – eine neue Kontur.
Huchel ist es nicht um lyrische Impressionen, sondern um die Beschreibung eines Verständigungs-Prozesses zu tun; Häuser, Wiesen und Kähne sind Spiegel, in denen das nach einem Fixpunkt suchende Ich sich erkennen möchte. Die Schlüsselfragen Wo bin ich? und Wo bist du? ergänzen einander. Es geht um die Entdeckung eines neuen Koordinatensystems; anders als in Huchels frühen Gedichten ist das lyrische Ich viel mehr sich vergewissernd als von vornherein gewiß, ist die Landschaft eher rätselhaft und chiffrenartig als vertraut.
Betroffenheit, Ohnmacht und Zweifel bestimmen die Zeilen, Zuversicht wechselt mit banger Erwägung. Ein Vergleich der Fassungen erweist die Zunahme der Unsicherheit: Fragezeichen bestimmen das Bild. (Man vergleiche Fassung: „Doch hinter dem See fand ich am Pfahl die Tafel – war es das Zeichen? – kaum zu entziffern“, mit Fassung 2: „Wer schrieb die warnende Schrift, kaum zu entziffern? Ich fand sie am Pfahl, dicht hinter dem See. War es das Zeichen?“) Nicht das Finden, sondern der Fund; nicht der Leser, sondern der Schreiber ist wichtig!
Saxa loquuntur: so klein Huchels Vokabular auch ist – die wenigen Zentralchiffren, „Nacht“ und „Mond“ und „Dämmerung“, „Schatten“ und „Silber“, beklopft er derart intensiv, daß die saturnischen Attribute am Ende beinahe eine dämonische Vielfalt, einen magischen Reichtum der Aspekte gewinnen: „Auge der Nacht“ heißt der Mond, aber auch „weißer Stein“ oder „der eine Garbe weißen Strohs auf Eis und Steine warf“. Die lunarische Natur ist weder idyllisch noch trostreich: Sie hat zu viele Tote, zu viele erschlagene Tiere und zu viele Ophelia-Bilder des Wahnsinns gesehen, um nicht ihrerseits tückisch zu werden: „es stellen die Schatten im Unterholz ihr Fangnetz auf.“
Was aber auf der Seite der Natur als „frierende Stimme des Wassers“ oder als „Fußspur der Not“ erscheint, heißt im menschlichen Bezirk Klage, Trauer und Tod, und es ist kein Zufall, daß Huchel gerade im „Verona“-Gedicht die letzte Zeile zerbricht und den Vers „und in der Mitte der Dinge die Trauer“ nach dem Wort „Dinge“ abteilt: die Trauer soll, groß, für sich selbst stehen – sie allein gibt den Gedichten das Pathos und den hohen lyrischen Ernst, den Klang der Elegie und jenen Ton der Schwermut, der sich vor allem dort einstellt, wo die Kriegsrealität, „frostiger Lehm“, „Asche und Schlamm“, auf zarte Gegenbilder stößt: wo der Engel der Frühe aus der Dämmerung steigt und die Stalingrad-Leere sich mit der Bethlehem-Szenerie konfrontiert sieht, wo chinesische Tuschzeichnungen den Visionen des russischen Feldzugs begegnen und hinter der verwüsteten Landschaft das reine Gold des Oktoberhimmels erscheint.
Als Meister vieler Formen wechselt Huchel mühelos vom Hymnus zur Ballade, von der gelassen reihenden Legende („Münze aus Bir el Abbas“) zum epigrammatischen Spruch, von der synoptischen Evokation („Siebensaitig tönt die Kithara im Sirren der Telegrafendrähte“) zum streng gebauten Manifest, vom Bericht zur Elegie. Die Sprache ist karg, aber variationsreich; plastische Termini, „Hundegaumen“ und „Pflugbaum“, geben den Versen Halt, markieren die Position und schaffen eine Atmosphäre der verläßlichen Nachprüfbarkeit. Auch die Grammatik folgt klassischen Mustern: selten, daß eine rhetorische Floskel den Text gewichtig durch Interpunktion noch herausstellt, der Beschreibung etwas vom barocken Glanz des Hohen Stils verleiht:
Das Licht (…) Ein großer Vogel. Spreizt er die Zehen, glänzt hell die Schwimmhaut aus dünnem Nebel.
Was für die Wortwahl und Syntax zutrifft, gilt auch für die Metaphorik und den metrischen Bau: Die Vergleiche, biblische und antike Verweise, sind klar und durchschaubar; die Verse, meist aus freien Rhythmen bestehend, zeigen weder die Starrheit der frühen Chavy-Chase-Muster, noch kaprizieren sie sich auf ein allzu gewaltsames Zerbrechen des einmal gewählten Metrums: Das musikalisch-strenge Parlando gestattet rhythmische Observanz so gut wie ein heiteres Gegen-den-Strom-Schwimmen. (Nur die zweite Zeile in der zweiten Strophe der Ernst Bloch zugeeigneten Widmung mutet mich ein wenig seltsam an: ein einzelner, recht verloren wirkender Fünfheber unter einer Phalanx von zehn Vierhebern – nein, ich sehe keinen Sinn in dieser frostigen Isolation…)
Pedanterie? Philologisterei? Nun, es gibt Strophen (und Huchels Verse gehören dazu), die von solcher Vollkommenheit sind, daß man ihrem Geheimnis nur durch eine sehr exakte, bewährten rhetorischen Praktiken folgende Verzettelung des Wortmaterials, der Metren und Metaphern beikommen kann – es sei denn, der Autor habe die Machart seiner Verse außerdem noch durch bestimmte, an der Textgeschichte ablesbare Änderungen „verraten“ – und das, gottlob, ist bei Huchel der Fall.
Ein Vergleich zwischen der Sinn und Form-Fassung und der Fassung der Buchausgabe setzt uns instand, Absicht, Stilwillen und Konzeption der Gedichte mit erfreulicher Anschaulichkeit erhellen zu können.
Die Änderungen, so sehr sie sich im einzelnen auch unterscheiden, verraten alle eine bestimmte Tendenz: Auf Verknappung und abstrakte Raffung zielend, dienen sie samt und sonders dazu, das gar zu Deutliche zu umgehen und Formeln zu erfinden, die als Chiffren für komplizierte Sachverhalte fungieren. Dieser Absicht dienen vor allem die Adjektiv-Streichungen („Im Schweigen des Schnees, / Schlief [lauernd] blind / Das Kreuzotterndickicht.“ – „Neben dem Wasserrad die [wirtliche] Hütte“): ferner die Eliminierung aller explikativen Elemente („Es stand im Herdbuch, [in ihrem Kalender]“); die kühnen Abbreviaturen und Auslassungen des verbum finitum („über den Bergen die Marmorbrüche weißer Wolken, vom Wind behauen“ statt „Er blickt zum Himmel und sieht die Marmorbrüche schimmernder Wolken“); endlich – und vor allem! – die Aufgabe des vergleichenden wie zugunsten einer strengen Identifikation: „nackt und blutig lag die Erde, (wie) der Leib des Herrn“; „Und Nebel floß, / (wie) Weiße Schafsmilch, / über den Rand des Dachs.“
Dem gleichen Streben nach Zuspitzung und Verknappung folgen aber auch die syntaktischen Präzisionen („der Pflugbaum aus flimmernden Sternen“ statt des umständlich-prätentiöseren „der flimmernde Pflugbaum der Sterne“), folgen, in den Gedichten „Chiesa del Soccorso“ und „Ferme Thomasset“, die hinzugefügten, den Text kontrastreich verfremdenden Schluß-Pointen. Ob epigrammatische Zuspitzung oder Abbreviatur, ob Streichung oder Kontraktion – immer geht es Huchel darum, das Gedicht noch anschaulicher, noch bildlich sentenziöser, noch exemplarischer zu machen.
Kein Wunder also, daß der Wille zur Formel, zur Synthese und zum Konzentrat gerade die rein erzählenden, episch-gemächlichen Elemente innerhalb eines lyrischen Kontextes vernichtet – und diese Eliminierung des Narrativen geht nun freilich manchmal nahe an den Rand des Sinns.
Dafür zwei Beispiele aus dem Gedicht „Hinter den weißen Netzen des Mittags“, das die Strandung des Odysseus am Phäakenland und die Begegnung mit Nausikaa schildert. Zum ersten: der Satz aus der frühen Fassung „Als ich erwachte, lag ich am Strand“ wird in der Buchausgabe durch „Zwischen Himmel und Klippe die Drift der schreienden Vögel. Ich lag am Strand“ ersetzt. (Wie im Gedicht „Zeichen“ soll die Situation der Vergewisserung also durch die nachträgliche Einführung des „Ich“ erhellt werden.) Kein Zweifel, daß die Verknappung in diesem Fall die Strophe bereichert, ja, daß erst die Objekt-Subjekt-Umstellung die beabsichtigte Evokation: der Mensch als Ball und Echo der Dinge, verdeutlicht. Anders im zweiten Fall: „Die Sterne verlöschen. (Rief aus den zögernden Schatten dein Fuß.) Nicht zähle die Jahre, zähle die Stunden. Du schrittest unter Felsen den Weg.“ Hier, scheint mir (und nur hier!), geht die Verkürzung nun wirklich auf Kosten des Sinns, denn mit dem Fortfall des eingeklammerten Satzes ist die Richtung des Imperativs nicht mehr bestimmbar, der Dialog-Charakter der Sentenz im günstigsten Fall noch zu erahnen – und das reicht nicht aus.
Aber genug – und genug auch des Versuchs, dem Perfekten durch den Nachweis des Bauplans etwas von seiner bedrohlichen Unantastbarkeit nehmen zu wollen. Wie immer auch die Machart der Gedichte sei, am Ende bleibt Erstaunen und Betroffenheit. Ein Mann, vor dessen Kunst wir uns verneigen, hat gezeigt, daß es auch in unserer Zeit noch möglich ist, das Schwierige einfach zu sagen; er hat bewiesen, daß die Dunkelheit dort endet, wo Genialität und moralische Kraft, Kalkül und Zeugnis sich vereinen. Wo endlich wieder Ernst gemacht wird und wo man den Glanz der Hoffnung so wenig leugnet wie die Melancholie des Erinnerns und, „Polybios unter den Römern“, die Verpflichtung zum Belehren so ruhig anerkennt wie die Verzweiflung und die Würde des Todes.
Nicht im Brunnen der Stern,
Die Scherbe leuchtet
Dem sinkenden Krug.
Zerschmetterter Mund,
Du leuchtest die Finsternis an.
Walter Jens, Die Zeit, 6.12.1963
Schon der Titel des neuen Gedichtbandes von Peter Huchel ist ein poetischer Treffer, der bei aller bezeichnenden Genauigkeit einen weitgespannten, ahnungsvoll-elegischen Horizont heraufruft. Ein Aufklagen aus dem Grunde des Herzens, eine seinsunmittelbare, weltumgreifende Melancholie kommt in diesem Chausseen, Chausseen zum Ausdruck und gleichzeitig eine sehr bestimmte Topographie, da das Wort ja im Süden Deutschlands kaum gebräuchlich ist: also norddeutsche Ebene als Heimat, Erinnerung und sinnbildliche Umwelt eines Dichters. Halb Sehnsucht, halb Weheruf, und alles Wesentliche ist in diesem Titel schon ausgesprochen: die Geheimnisse der Kindheit, das lange Unterwegssein eines Lebens, nicht zuletzt die ungeheuerliche Heimsuchung einer ganzen Generation: der auf den Straßen der Heimat einfallende, mordende, brandschatzende Krieg.
Der eben sechzigjährige Huchel gehört zur Familie der Landschaftsdichter, die sich schon während der zwanziger Jahre unter der Führung von Loerke, Lehmann und Britting mit einer neuen naturlyrischen Formel gegen den degenerierenden Expressionismus erhoben, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu größerem und zeitweise dominierendem Einfluß gekommen sind. Seine unmittelbaren Nachbarn sind Eich, Lange, Oda Schäfer, Krolow und die Langgässer. Das Landschaftliche als Generalbaß, auf das alle Figurationen des menschlichen Geschicks sich beziehen, hat auch in dieser neuen Sammlung seine Geltung nicht verloren. Der aus den „Gedichten“ von 1949 bekannte Bestand der Motive hat sich um einen Typus vermehrt: die Poesie des Reisens und der Entdeckung fremdartiger Landschaften und Siedlungen. Französische, griechische, kleinasiatische, vor allem aber italienische Szenerien beschäftigen die lyrische Phantasie. Viele von diesen Reisebildern sind nicht mehr als nur eben anständig gemacht; Glanzstücke wie „In der Bretagne“ und „Münze aus Bir el Abbas“ sind selten. Die überzeugendsten Leistungen des Bandes sind – wie beim jüngeren Huchel – diejenigen, in denen die heimatliche Landschaft als entweder idyllischer oder tragisch-elegischer Prospekt der eigenen Lebenserfahrung erscheint, also etwa „Caputher Heuweg“ oder „Chausseen“ oder „Bericht eines Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“, vor allem das herrliche Kindheitsgedicht „Damals“.
Huchels Gefahren sind einerseits die falsche Einfachheit einer manierierten Kalendermann-Attitüde (etwa in „Dezember 1942“, wo Stalingrad und Bethlehem in gereimten Verspaaren auf scheinbar lapidare, in Wahrheit sentimentale Weise zusammengebracht werden), andererseits ein unmäßiger Gebrauch jener Sorte von Genitivmetaphern, die mehr gefingert als gedichtet und heute als lyrischer Modeschmuck allenthalben im Schwange sind: man kombiniert zwei beliebig weit auseinanderliegende Sachbezeichnungen, bindet sie durch den Kasus zusammen, und damit hat sich’s. Wer z.B. „Wabe des Markts“ auf Seite 22 und „Wabe des Lichts“ auf der nächstfolgenden Seite vergleicht, der versteht, wie billig diese Effekte zu haben sind. Leider hat unser Dichter es sich in letzter Zeit angewöhnt, dies – man möchte sagen: Kleingeld aus der surrealistischen Ladenkasse mit beiden Händen unter die Leute zu streuen. „Sieb der Ferne“, „Hostie der Apfelblüte“, „Liturgien des Windes“, „Sichel des Lichts“, „Gold der Ferne“, „Anker des Todes“ und so weiter. Man muß eine Wendung wie im „krähentreibenden Nebel“ oder „die winterbösen Majestäten“ (aus dem Gedicht „Auffliegende Schwäne“) daneben halten, um zu begreifen, daß es für den zeitgenössischen Lyriker Besseres zu tun gibt, als die Unzahl der metaphorischen X-Beliebigkeiten noch um ein paar Dutzend neue (mal „Gewebe der Nacht“, mal Schultertuch der Nacht“ mal glühende Pfanne der Nacht“) zu vermehren.
Huchel ist am stärksten immer dann, wenn er sich auf seinen Instinkt für die im besten Sinne einfache, beinahe treuherzige Motivbildung verläßt, und wenn er auch bei der Formung des Verses der zeitgemäßen Tendenz zum Manierierten und Outrierten widersteht. Wo das im Grunde erzkonservative Muster seines Weltverstehens sich mit poetischem Glück erfüllt, wo das innig Erlebte nicht mit bloß dekorativ glitzernden Metaphern behängt wird, sondern „im Bilde“ wiederaufersteht, dort ist er unangreifbar. Dann geht zum Beispiel der Wind „mit starken Schultern rüttelnd ums Haus“ dann kann es heißen:
Das Laub der Linde sprach mit dem Kind,
Das Gras sandte seine Seele aus
Oder es heißt:
Im Hoftor manchmal das Dunkel heulte
oder (abschließend):
Durchwehte die Mauer des Hauses der Schlaf.
So ergeben sich fünf oder sechs, vielleicht sieben sehr schöne Gedichte und das ist viel für einen Band.
Schade nur, daß der Verlag ernstlich bemüht zu sein scheint, uns den Zuggang zu diesem Buch zu erschweren, indem er den Schutzumschlag mit unsinnigen Reklametexten verziert. „Ein großer Poet“, so läßt sich dort ein angeblich namhafter Kritiker vernehmen, und ein anderer ebenso namhafter, sekundiert ihm mit chorischer Hintergrundmusik:
Dies meinen wir ist große deutsche Lyrik unserer Zeit.
Weiß man in deutschen Verleger- (und Kritiker-) kreisen zwischen Horaz und Huchel oder meinetwegen zwischen Mörike und Huchel nicht mehr zu unterscheiden? Zum Kuckuck mit solchen Schaumschlägereien!
Hans Egon Holthusen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.2.1964
Noch im vorigen Jahr war in unseren Zeitungen häufig der Name des mitteldeutschen Lyrikers Peter Huchel zu lesen. Man empörte sich damals mit Recht darüber, dass er als Chefredakteur der bedeutendsten Literaturzeitschrift Mitteldeutschlands Sinn und Form abgesetzt und durch einen parteiergebenen Nachfolger ersetzt wurde. Es ging dabei um ein Politikum – von dem Dichter Huchel war nur am Rande die Rede. Er, der Kompromissen stets abgeneigt war, lebt jetzt völlig isoliert in Potsdam-Wilhelmshorst, jede Reise ist ihm seit zwei Jahren verboten, nicht einmal mit einem Passierschein zum Besuch West-Berlins kann er rechnen.
Seit etwa fünfzehn Jahren hat der heute sechzigjährige Peter Huchel keinen Gedichtband mehr veröffentlicht; sein 1948 im Berliner Aufbau-Verlag erschienener Band Gedichte (Lizenz-Nr. 438. 1003/48. 48/48) kann schon bald als bibliophile Rarität gelten. Jetzt, nach langen Jahren des Schweigens, legt er in einem westdeutschen Verlag neue Gedichte vor, Verse, die beweisen, dass Huchel zu den grossen deutschen Dichtern der Gegenwart gerechnet werden muss.
Der Band Chausseen Chausseen (S. Fischer Verlag Frankfurt a.M.) ist in fünf Abschnitte gegliedert. Im ersten und zweiten Teil werden Landschaften beschworen, Landschaften aus dem Süden und Osten Europas. Landschaftsgedichte, Naturgedichte also? Sicher nicht im abschätzigen Sinne, denn nichts liegt Huchel ferner als das Zeichen harmloser Genre-Bildchen. Und wohl auch nicht Naturgedichte im Sinne jener Naturlyrik, die heute von Wilhelm Lehmann vertreten wird und von der Huchel in seinen Anfängen beeinflusst wurde. Aber Huchel geht es nicht, wie Lehmann, um die Wiederbelebung irgendeines Mythos, auch wenn die Vergangenheit in seinen Gedichten stets gegenwärtig ist. „Das Naturparadies Huchels ist ein verlorenes Paradies“, sagt Hellmuth Karaseck zutreffend. Huchel sieht die Dinge und Landschaften klar und bannt sie gültig im dichterischen Wort:
Ueber den Bergen
Die Marmorbrüche weisser Wolken,
Vom Winde behauen
und:
Hinab den Pfad,
Wo an der Distel
Das Ziegenhaar weht.
Siebensaitig tönt die Kithara
Im Sirren der Telegrafendrähte.
Aber über aller Schönheit liegt der Schmerz des „paradise lost“:
… Und in der Mitte der Dinge
Die Trauer.
Währen im dritten Teil des Bandes – er beginnt mit einem Gedicht für Ernst Bloch – die Kindheit und Jugend in den märkischen Dörfern aufersteht (– dies ebenfalls eine vergangene und verlorene Welt –), gewinnt im vierten die Vergangenheit mit Krieg, Tod und menschlichem Elend die Oberhand; und in diesem Teil ist unüberhörbar auch eine tiefe religiöse Ergriffenheit, die jedoch nur verhalten, verschlüsselt in der kargen, gänzlich ungeschwätzigen Sprache Huchels zum Vorschein kommt. Die äusseren Anlässe verraten sich in den Gedichttiteln: „Der Treck“, „Soldatenfriedhof“ oder „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“:
… Die löchrigen Strassen sah ich sie gehn.
Und wenn sie schwankten unter der Last
Und stürzten mit gefrorener Träne,
Nie kam im Nebel der langen Winterchausseen
Ein Simon von Kyrene.
Auch der Schlussteil zeigt noch einmal Huchels ganze Meisterschaft: frühe Geschichte und aktuelle Gegenwart werden hier einander konfrontiert und miteinander verbunden. Hier finden sich die grossen, teils aus Zeitschriften schon bekannten Gedichte „Polybios“, „An taube Ohren der Geschlechter“, „Der Garten des Theophrast“, „Traum im Tellereisen“ und der „Winterpsalm“ Hans Mayer gewidmet).
In alle diese Gedichte sind die Gefährdungen und Schrecken unserer Zeit eingegangen.
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiss es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stummen Angst.
In solchen Gedichten ist kein Platz mehr für billigen Trost; es ist ein tödlicher und erschreckender Schmerz, der hier spürbar wird, eine tödliche Kälte, die alles befallen hat.
Unter der Wurzel der Distel
Wohnt nun die Sprache
… Es stellen
Die Schatten im Unterholz
Ihr Fangnetz auf.
Und erst die letzten Zeilen des Buches sprechen ganz unverschlüsselt:
Die Oede wird Geschichte.
Termiten schreiben sie.
Mit ihren Zangen
In den Sand.
Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.
Beda Allemann: Peter Huchels Chausseen Chausseen
Hessischer Rundfunk, 13.11.1963
Walter Alexander Bauer: Sprache – aus Demut gewachsen
dpa-brief. Artikel aus der Kultur. Buchbrief Nr. 374, 6.2.1964
Gotthard Frühsorge: Stimme des Mahners
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 1./2.2.1964
Peter Härtling: Der Zeuge tritt hervor
Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 22.12.1963
Hans-Jürgen Heise: Peter Huchels neue Wege
Neue Deutsche Hefte II, Heft 99, 1964
Curt Hohoff: Mit einer Distel im Mund
Süddeutsche Zeitung, 11./12.1.1964
(leicht verändert auch in: Rheinische Post, 14.3.1964)
Curt Hohoff: Gedichte von Peter Huchel
Sonntagsblatt, 2.2.1964
Charlotte Nennecke: Peter Huchel: Chausseen Chausseen
Radio Bremen, 4.9.1964
Wolf Wondratschek: Maß und Unmaß des Lobes
Text und Kritik, Heft 9, 1965
Als Peter Huchel 1962 die Chefredaktion der Zeitschrift Sinn und Form, die er seit dreizehn Jahren innehatte, abgeben mußte, sah die internationale Presse in dieser Maßnahme einstimmig das Vorzeichen für einen gravierenden Rückgang auf kulturellem Gebiet in der DDR, der die Zeitschrift viel Ruhm eingebracht hatte. Huchel, ausschließlich Lyriker und einer der größten deutschen Dichter unserer Zeit, hatte das Kriterium der literarischen Qualität und die sich von selbst daraus ergebende schöpferische Freiheit stets gegen jeden von politischen Interessen diktierten Eingriff verteidigt. Seine Unbeugsamkeit war exemplarisch auch für Westdeutschland. Zeugnis des Respekts und der Verehrung ist die 1968 im Piper Verlag in München erschienene Hommage für den Fünfundsechzigjährigen. Die Einführung ist von einem Philosophen, von Ernst Bloch, die anderen Autoren sind in der Hauptsache Lyriker: von Günter Eich bis Paul Celan. Kaum ein bedeutender Name fehlt.
In den erfolgreichen Jahren der Chefredaktion von Sinn und Form hatte Huchel Bertolt Brecht zur Seite, mit dem ihn Freundschaft verband. Vor kurzem, nach zehn Jahren der Isolation und des Schweigens, hat Huchel Ostdeutschland verlassen. Seine erste freie Zeit zu verbringen, ist er nach Italien gekommen, wo der Verlag Mondadori 1970 seine von Ruth Leiser und Franco Fortini ins Italienische übertragene Gedichtsammlung Chausseen Chausseen herausbrachte. „Epigraphische Dichtung“, sagt Fortini in seinem Vorwort, mit „testamentarischer und historischer Intention, als Zeuge. Eine streng monodische Poesie, ohne Ironie, hinter zusammengebissenen Zähnen gesprochen.“ Und in der Tat hat Huchel einen auslotenden Stil, diffizil in seiner Konzentriertheit. Ihn zu übertragen, erfordert Arbeit und ein nicht unbeträchtliches Maß an Erfahrung.
Doch hat Huchels Dichtung auch das Gewicht historischer Zeugenaussage, haftet seinen Versen keineswegs der patrimoniale Akzent eines Testamentes an; eher vielleicht vernimmt man aus ihnen eine verzweifelte Invokation, und nicht zufällig beschließt den Gedichtband ein Gedicht mit dem Titel „Psalm“. Wie Fortini weiter bemerkt, erwächst die tiefe Musikalität dieser Gedichte einem noch offenen, lebendigen Gegensatz. Gedrängt und sparsam, jeder Konzession an das eigene Ich abgeneigt, enthalten sie eine vollständige geistige Biographie: exakt die Geschichte eines Menschen, der bis in die Tiefe die Erfahrung seiner Zeit durchlebt hat und sich im entscheidenden Augenblick der Nachkriegszeit keines jener Rauschmittel konzedierte, die damals im Umlauf waren, um sich die Last der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft leichter zu machen.
In Chausseen Chausseen herrscht das Schreckbild des Krieges: es ist eine gespenstische Präsenz, die sich zwischen den Menschen von heute schiebt und das Leben, speziell das einfache und der Natur der Landschaft nahe Leben. Nicht überhörbar ist des Dichters Warnung, die Welt werde – zumindest für lange Zeit – keine humane Welt mehr sein. Daß diese Sicht und Einsicht die bittere Frucht der Erfahrung und daher frei von jeglichem Wohlgefallen an der Rhetorik ist, spürt man an der knappen Ausdrucksweise des Dichters; auch die Begegnung mit dem vorhergehenden Band Die Sternenreuse, der eine Sammlung der zwischen 1925 und 1947 geschriebenen Gedichte darstellt, bestätigt das. Dieses erste Buch vermittelt uns das Bild des Dichters als eines jungen Menschen von nordischem Temperament, melancholisch und auch schroff, doch zutiefst der Natur verhaftet. Und gerade aus dieser engen Verbindung mit der Natur wird ihm die Intuition kommen der religiösen negativen Bestimmung, die die doch so reiche und lebendige deutsche Erde befremdend kalt sein läßt. Eine Erde, die niemals die Schritte einer Jeanne d’Arc auf sich gespürt hat, einer von himmlischen Stimmen zum Martyrium aufgerufenen Jeanne d’Arc, sagt Huchel im ersten Gedicht einer in drei Zeitabschnitten geschriebenen symbolträchtigen Trilogie, „Deutschland“ betitelt. Im zweiten Gedicht, 1933 datiert, dem Beginn des Nazismus, lesen wir die Beschwörung, „hütet das Licht“ und
Daß es von euch in Zeiten noch heißt,
daß nicht klirret die Kette, die gleißt,
leise umschmiedet, Söhne, den Geist
– soll man nicht aus der Geschichte der Menschheit ausgelöscht werden. Im dritten Gedicht hingegen, das die Jahreszahl 1939 trägt, heißt es:
Welt der Wölfe, Welt der Ratten.
Blut und Aas am kalten Herde.
Aber noch streifen die Schatten
der toten Götter die Erde.
Göttlich bleibt der Mensch und versöhnt.
Und sein Atem wird frei wieder wehen.
Das sind Worte sicherer, mannhafter Hoffnung. Um so düsterer dagegen sind die Worte am Schluß von Chausseen Chausseen, genauer gesagt, des „Psalms“, in dem sich die unheilvollste Prophezeiung, zu Beginn des Nazismus gemacht, bestätigt, und gegen die das Gefühl sich mit aller Macht auflehnt:
Die Öde wird Geschichte.
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
In den Sand.
Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.
Dennoch: was hier wie eine Verdammung unserer Zeit klingt, ist noch nicht absolute Verdammnis. Die Schatten der Götter haben die Poesie Huchels noch nicht verlassen, und wir finden sie bezeichnenderweise wieder in einem dem Sohn gewidmeten Gedicht:
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.
Der „Befehl“, „die Wurzel zu roden“, ist gegeben, und, wie es im „Psalm“ noch heißt, die Stärke derer, die da wohnen „in einer Kugel aus Zement“ „gleicht dem Halm im peitschenden Schnee“. Doch der zerbrechlichste Halm ist immer noch das Sinnbild des Lebens, Huchels Dichtung ist keine Dichtung der Verneinung, kein Lamento über die Bedingungen des Menschen, losgelöst von der Geschichte.
Elena Croce, Settanta, Mensile di cultura, politica, economia, Heft 22, März 1972
übersetzt von Monika Huchel
Auf der zweiten „Bitterfelder Konferenz“ im April 1964 sagte Walter Ulbricht: „Die Schriftsteller und Künstler mögen sich stets ihrer nationalen Verantwortung bei der Entwicklung unseres Staates bewußt sein. Es ist die wichtigste Aufgabe des Künstlers, Menschen zu überzeugen, sie für den Sieg des Sozialismus, für die Freundschaft der Völker, für den Frieden, zum Kampf gegen alles Reaktionäre zu begeistern.“ Das heißt: Die Kunst macht Politik, treibt Agitation, wenn auch mit anderen Mitteln; sie steht im Dienst der Gesellschaft, sie beteiligt sich aktiv am „Aufbau des Sozialismus“. Das Wochenend-Feuilleton der SED-Zeitung Neues Deutschland erscheint unter dem programmatischen Titel „Die gebildete Nation“; und die Parole „Froh und kulturvoll leben“ ist ungeniert im Munde vieler DDR-Funktionäre.
Kunst und Literatur sind ohne Bezug zu Politik und Gesellschaft kaum denkbar. In Zeiten der Revolution bildeten Dichter, Maler, Bildhauer, Intellektuelle ihre Avantgarde; das gilt für Blok, Jessenin, Majakowski wie für Erich Mühsam und Ernst Toller. Möglicherweise hängt das mit dem Utopischen in der Kunst und Revolution zusammen, mit dem, was Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“ nennt. Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Knechtschaft, revolutionäre Aktion gegen die Zwingburgen der Gewalt – an solchem Tun wird Kunst immer ihren Anteil haben. Hat aber das Neue sich etabliert, zur politischen Norm konsolidiert, kommen für die Sänger des Aufbruchs härtere Tage. Schulbeispiel: Die kulturelle Entwicklung in der UdSSR während der Dreißigerjahre. Wie aber, wenn ein Verwaltungsakt die Revolution ersetzt, wenn – wie in der DDR – Besatzungsdekrete gesellschaftliche Veränderungen beschließen, die von sich aus zu realisieren nie in der Macht der dortigen „Arbeiterklasse“ gelegen hätte? Dann muß die ideologische Begründung nachgeholt, dann müssen alle Federn in Tätigkeit gesetzt werden, um revolutionäres Bewußtsein zu imaginieren; dann werden Kunst und Literatur auf die Straße befohlen zur Demonstration für nicht Erkämpftes sondern Oktroyiertes. Mit andern Worten: weil in der DDR Revolution nicht stattfand, wurde an deren Stelle ein Apparat revolutionärer Gesten aufgebaut und bis auf den heutigen Tag tabuisiert. Im Bereich der Kunst und der Literatur sind es die des „Sozialistischen Realismus“.
Freilich: die Anfänge des „sozialistischen Realismus“ in der Literatur sind achtenswert; sie knüpfen an die russische Erzählertradition an; am Beginn stehen Gorki und Scholochow. Indessen führte der Stalinismus zur Simplifizierung und Dogmatisierung – außerdem blieb die Literatur bei den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts nicht stehen −, so daß „sozialistischer Realismus“ für kommunistische Schriftsteller von Rang heute kein verbindliches Rezept mehr ist. Darüber hat Louis Aragon in seiner vor drei Jahren gehaltenen Prager Rede keinen Zweifel gelassen.
Eindeutiger noch als auf dem Gebiet der Epik zeigen sich die Grenzen dieses proletarischen „Sakral-Stils“ in der Lyrik. Weder die Gedichte eines Brecht, Eluard, Neruda, Alberti noch die eines Attila József, Hikmet oder Jiri Wolker lassen sich an der Elle des „sozialistischen Realismus“ messen. Oder, um mit Brecht zu sprechen: „Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen.“ „Die Sprechweise… eines wichtigen Menschen“ aber läßt sich nicht gängeln, sie gehorcht ihren eigenen Gesetzen auch dann, wenn diese im Widerspruch stehen zu denen des jeweiligen politischen establishment und der in ihm herrschenden Ideologie. – Dies als Vorbemerkung zu dem in der DDR lebenden Schriftsteller Peter Huchel und seinem 1963 in der Bundesrepublik erschienen Gedichtband Chausseen Chausseen.
Peter Huchel (geboren am 3. April 1903), mit Günter Eich der bedeutendste unter den deutschen Lyrikern der älteren Generation, ist seit Ende 1962 ein isolierter Mann. Damals legte er die Chefredaktion der von den Deutschen Akademie der Künste in Ostberlin herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form nieder – keineswegs freiwillig, sondern unter organisiertem Druck. Seinen Abgang gestaltete er zur Demonstration. Taktisch unklug und doch als Reaktion imponierend, ließ Huchel das letzte von ihm redigierte Heft der Zeitschrift mit Brechts Rede „Über die Widerstandskraft der Vernunft“ beginnen, mit Sätzen wie folgenden: „Angesichts der überaus strengen Maßnahmen, die in den faschistischen Staaten gegenwärtig gegen die Vernunft ergriffen werden, dieser ebenso methodischen wie gewalttätigen Maßnahmen, ist es erlaubt, zu fragen, ob die menschliche Vernunft diesem gewaltigen Ansturm überhaupt wird widerstehen können. Mit so allgemein gehaltenen optimistischen Beteuerungen wie ,Am Ende siegt immer die Vernunft‘ oder ,Der Geist entfaltet sich nie freier, als wenn ihm Gewalt angetan wird‘, ist hier natürlich nichts getan…“ Schließlich aber, um das Maß individueller Obstruktion voll zu machen, nahm Peter Huchel den West-Berliner Kunstpreis an. Die Folge ist nun, daß selbst liberalere Geister unter den DDR-Funktionären bei Nennung seines Namens fanatisch sich verhärten. (Huchels politische Schuld besteht darin, daß er, von 1948 an Chefredakteur von Sinn und Form diese Zeitschrift zur wichtigsten literarischen Revue in Deutschland machte! Oder anders gesehen – so wie Kurt Hager im März 1963 vor dem Politbüro es formulierte: „In dem Bestreben, eine gesamtdeutsche Zeitschrift zu sein, eine Zeitschrift, die auch in Westdeutschland gefällt, eine ,Brücke zwischen Ost und West‘, wich die Zeitschrift, der man ein hohes literarisches Niveau zugestehen muß, jahrelang sorgfältig einer entschiedenen Parteinahme für die sozialistische Entwicklung in der DDR aus – wenn man von offiziellen Veröffentlichungen der Akademie der Künste absieht… Die Zeitschrift ist zwar eine Zeitschrift der Akademie, und schon 1953 würden Beschlüsse gefaßt über die ideologische Führung der Zeitschrift im Sinne des Statuts der Akademie. Aber der Chefredakteur entschied selbständig und selbstherrlich über den Inhalt der Zeitschrift. Die Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Akademie nahm ihre Verantwortung gegenüber der Zeitschrift nicht wahr. Schließlich legte Peter Huchel in der letzten von ihm redigierten Doppelnummer, die vor dem VI. Parteitag erschien, mit seinen Gedichten seinen Credo gegenüber der Arbeiter-und-Bauern-Macht und ihrer Politik vor.“
Dennoch: Huchel ist kein Widerstandskämpfer, kein Mann der „inneren Emigration“ oder gar ein dezidierter Feind des Sozialismus. Weder das eine noch das andere wäre ihm seiner Natur seiner Herkunft nach möglich. Er begann in den Zwanzigerjahren zu schreiben und zu publizieren. Wie er es damals mit der Politik – genauer gesagt mit dem Marxismus – hielt, darüber gibt sein „Lebenslauf“ (abgedruckt 1931 in Willy Haas’ Literarischer Welt) recht deutlich Aufschluß. Um weiteren Verleumdungen von hüben vorzubeugen, sei hier das Nachwort Huchels zu dieser autobiographischen Skizze zitiert: „… er hat sich nicht an dem Start nach Unterschlupf beteiligt. Seine Altersgenossen sitzen im Parteibüro und manchmal geben sie sogar zu, daß es aus irgendeiner Ecke her nicht gut riecht. Immerhin, sie haben ihr Dach über dem Kopf. Aber da ihm die marxistische Würde nicht zu Gesicht steht, wird er sich unter aussichtslosem Himmel weiterhin einregnen lassen. Sie winken aus der Arche der Partei, und er versteht ihren Zuruf. Der lautet: ,Wir können dir anhand des Unterbaus nachweisen, daß du absacken wirst, ohne eine Lücke zu hinterlassen!‘ Aber dagegen hat er nicht viel einzuwenden, nichts zu erwidern. Sie müssen es wissen, denn sie haben die Wissenschaft. Doch unterdessen schlägt sein Herz privat weiter. Und er lebt ohne Entschuldigungen!“ Huchel sympathisierte mit dem Marxismus, aber er trat der Partei nicht bei; sein Weg als Einzelgänger liegt hier schon vorgezeichnet.
Huchel wurde kein „bürgerlicher“ Schriftsteller. Dort wo er aufwuchs, in der Mark, gab es kein Bürgertum, dafür aber kleine Bauern, Taglöhner, Knechte, Mägde, hart arbeitendes, geduldiges Volk, dessen Los ihn betraf und an dessen Leben er teilhatte. Später schreibt er über dieses Volk und seine Sprache im Hinblick auf die Dichtung: „Es ist das Volk mit seiner Sprache: Stake, Stoppelsturz, Hungerharke, Klaubholz, Gröps, drämmern… Die Dichtung hat sich, wenn sie in Gefahr geriet, blaß und künstlich zu werden, immer wieder aus der Sprache des Volkes erneuert. Wenn sich der Dichter mit der Sprache der Arbeit, der Arbeitsvorgange, das heißt mit der Sprache des Volkes beschäftigt, wenn er diese nicht poetisch verbrämt, wohl aber zu seiner eigenen Sprache werden läßt, so wird er im Gedicht ganz neue Wege gehen können.“
Huchel studierte in Berlin, Freiburg und Wien; hielt sich längere Zeit in Frankreich und auf dem Balkan auf. Für ihn als Lyriker spielt aber die Begegnung mit anderer Landschaft, mit anderen Menschen eine untergeordnete Rolle. Die entscheidenden Eindrücke – vermutlich schon in der Kindheit empfangen – kommen aus der kargen, bescheidenen Provinz seiner Herkunft, sind im präzisen Wortsinn lokalgebunden – an das märkische Dorf Alt-Langerwisch, an Wald, Fluß, Binsenweg, an Magd und Knecht, Ziegelstreicher, Korbflechter und Holzsammler. Erstaunlich, daß Huchel, dessen poetische Anfänge in die Spätzeit des Expressionismus fallen, davon fast unberührt bleibt, daß er auf seine Umwelt realistisch reagiert – also weder mit sozialanklägerischem Pathos noch mit den magischen Attitüden eines Natur-Lyrikers und erst recht nicht mit den sprachlichen Falsifikaten eines Blut- und Boden-Idyllikers. Zwar kommt es, da viele Gedichte Erinnerungsgedichte sind, zu Evokationen von Weitzurückliegendem, von Kindheitserlebnissen vor allem, zu Überhöhungen, gewollt archaisierenden Metaphern. Dennoch bleibt der konkrete Bezug zwischen Wort und Ding gewahrt. Dafür ist beispielhaft ein Gedicht Peter Huchels aus dem Jahre 1926:
DIE MAGD
Wenn laut die schwarzen Hähne krähn,
vom Dorf her Rauch und Köppel wehn,
rauscht ins Geläut rehbraun der Wald,
ruft mich die Magd, die Vesper hallt.
Klaubholz hat sie im Wald geknackt,
die Kiepe mit Kienzapf gepackt.
Sie hockt mich auf und schürzt sich kurz,
schwankt barfuß durch den Stoppelsturz.
Im Acker knarrt die späte Fuhr.
Die Nacht pecht schwarz die Wagenspur.
Die Geiß, die zottig mit uns streift,
im Bärlapp voll die Zitze schleift.
Ein Nußblatt wegs die Magd zerreibt,
daß grün der Duft im Haar mir bleibt.
Riedgras saust grau, Beifuß und Kolk.
Im Dorf kruht müd das Hühnervolk.
Schon klinkt sie auf das dunkle Tor.
Wir tappen in die Kammer vor,
wo mir die Magd, eh sie sich labt,
das Brot brockt und den Apfel schabt.
Ich frier, nimm mich ins Schultertuch.
Warm schlaf ich da im Milchgeruch.
Die Magd ist mehr als Mutter noch.
Sie kocht mir Brei im Kachelloch.
Wenn sie mich kämmt, den Brei durchsiebt,
die Kruke heiß ins Bett mir schiebt,
schlägt laut mein Herz und ist bewohnt
ganz von der Magd im vollen Mond.
Sie wärmt mein Hemd, küßt mein Gesicht
und strickt weiß im Petroleumlicht.
Ihr Strickzeug klirrt und blitzt dabei,
sie murmelt leis Wahrsagerei.
Im Stroh die schwarzen Hähne krähn.
Im Tischkreis Salz und Brot verwehn.
Der Docht verraucht, die Uhr schlägt alt.
Und rehbraun rauscht im Schlaf der Wald.
Die Gefahr solcher Reminiszenz, ins Sentimentale zu geraten, wird hier durch die sachbezogene, mit Realität abgesättigte Sprache, durch die Dinglichkeit der Benennungen gebannt. Huchels Natur fehlt die Heiterkeit, das parkartige Inventar der amönen, klassischen Landschaft; sie ist melancholisch wie die Natur bei Lenau oder Trakl; sie trägt die Signatur ihres Dichters: Schwermut, Trauer, „beschädigtes Leben“. In den Selbsterkundungen dieses Autors tauchen Worte wie Trauer und Dunkel immer wieder auf. Der Titel jener oben zitierten autobiographischen Skizze aus dem Jahre 1931 heißt „Neunzehnhunderttraurig“, und in dem Gedicht „Die dritte Nacht April“ – eine Anspielung auf das Geburtsdatum 3. April 1903 – schreibt er:
Der Havel das Eis, den Kröten den Mund öffnet April.
Der Himmel war vom Schnee noch wund,
ich kam auf die Welt, es regnete still
in der dritten Nacht April.
Die Milch der Mutter schmeckte gut.
Der Birkbusch wuchs, ich blieb nicht jung.
Die Nacht verdunkelte mein Blut,
der Augen braune Dämmerung.
Der Schatten meines Herzens steht
im kalten Schatten von April,
dem feldernden, der Lerchen weht,
und in den Bäumen leben will.
Mit Günter Eich, Elisabeth Langgässer, Martin Raschke und Eberhard Meckel gehörte Huchel anfangs der Dreißigerjahre zu jener Gruppe junger Naturlyriker, die in der Zeitschrift Die Kolonne ihr Forum hatte. Nach 1933 zog sich Peter Huchel von der Literatur zurück; außer einigen unpolitischen Hörspielen veröffentlichte er nichts. Gegen die Nazis verhielt er sich ablehnend, wie einige damals entstandenen Gedichte bezeugen. Doch sind sie Ausdruck eines humanen, nicht eines gezielten politischen Protestes. Erst 1948 erscheint im Ostberliner Aufbau Verlag von Huchel ein schmaler Band Gedichte, eine Auswahl aus der lyrischen Produktion von 1925 bis 1947. Gelegentlich druckt er Eigenes in der von ihm redigierten Zeitschrift Sinn und Form ab; darunter auch Teile einer größeren Dichtung, entstanden anläßlich der Bodenreform: „Das Gesetz“ (ein maßvoller Lobgesang auf die ersten sozialistischen Maßnahmen). Alles in allem publizierte Huchel auch nach dem Kriege mit großer Zurückhaltung; und obwohl 1951 eine westdeutsche Lizenzausgabe seines Gedichtbandes erscheint, nimmt ihn dort – bis auf einige Freunde und Literaturkenner – niemand zur Kenntnis. In Herders Lexikon der Weltliteratur von 1960 ist über ihn nur folgendes zu lesen: „Künstlerischer Direktor des Ostberliner Rundfunks und Herausgeber der Zeitschrift Sinn und Form, ist Huchel einer der maßgeblichen Kulturfunktionäre der DDR. Er gestaltete vor allem in stimmungsgetragenen Gedichten seine Kindheit und das Erlebnis der brandenburgischen Landschaft.“ (1960 war Huchel längst nicht mehr beim Rundfunk; und ein „maßgeblicher Kulturfunktionär“ ist er nie gewesen!)
Erst als er nach dem Tod Bertolt Brechts und Johannes R. Bechers in Schwierigkeiten geriet und schließlich den Angriffen der kleinbürgerlichen Kunstbanausen erlag, wurde er Hätschelkind und Held der westdeutschen Presse. Schwer zu sagen, was ehrliche Anteilnahme, was politischer Opportunismus war. Ein Gutes jedoch hatte diese plötzliche Publizität; 1963, nach fünfzehn Jahren also, erschien Peter Huchels neuer Gedichtband Chausseen Chausseen – der in der DDR bisher nicht veröffentlicht wurde – in einem westdeutschen Verlag, bei S. Fischer in Frankfurt.
Inzwischen ist es um Huchel wieder still geworden – Passierscheine nach Wilhelmshorst wurden an seine westlichen Freunde nicht mehr ausgestellt – die Verbannung ist nahezu perfekt. Geblieben ist jedoch dieser Band mit etwa fünfzig Gedichten; dieser schwerwiegende poetische Rechenschaftsbericht.
Der Vergleich mit den 1948 erschienenen Versen bietet sich an. Unverändert ist das Thema Landschaft und Huchels Vorliebe für längere mehrstrophige Texte. Doch fällt auf, daß die neuen Gedichte einen unregelmäßigen Strophenbau haben, das heißt, daß die Anzahl der Zeilen mitunter von Strophe zu Strophe sich ändert, daß Huchel nur noch selten und unakzentuiert den Endreim benutzt, seine Sprache unsinnlicher, abstrakter und zugleich vergeistigter geworden ist. Ebensowenig läßt sich Übersehen, daß diese Spiritualisierung auf Huchels Bild der Natur übergreift; die Dinge sind nicht mehr nur sie selbst, sie beginnen Chiffren-Charakter anzunehmen, werden Zeichen für anderes. Das erste, den Band einleitende Gedicht heißt – was kaum Zufall ist – „Das Zeichen“. Schon hier wird die Frage nach der Bedeutung gestellt.
Baumkahler Hügel,
Noch einmal flog
Am Abend die Wildentenkette
Durch wässrige Herbstluft.
War es das Zeichen?
Mit falben Lanzen
Durchbohrte der See
Den ruhlosen Nebel.
Ich ging durchs Dorf
Und sah das Gewohnte.
Der Schäfer hielt den Widder
Gefesselt zwischen den Knien.
Er schnitt die Klaue,
Er teerte die Stoppelhinke.
Und Frauen zählten die Kannen,
Das Tagesgemelk.
Nichts war zu deuten.
Es stand im Herdbuch.
Nur die Toten,
Entrückt dem stündlichen Hall
Der Glocke, dem Wachsen des Efeus,
Sie sehen
Den eisigen Schatten der Erde
Gleiten über den Mond.
Sie wissen, dieses wird bleiben.
Nach allem, was atmet
In Luft und Wasser
Wer schrieb
Die warnende Schrift,
Kaum zu entziffern?
Ich fand sie am Pfahl,
Dicht hinter dem See.
War es das Zeichen?
Erstarrt
Im Schweigen des Schnees,
Schlief blind
Das Kreuzotterndickicht.
Der Ton ist abweisender, spröder geworden, zwischen die Bilder schiebt sich – weit stärker als früher – Gedankliches. Das Gedicht weist eine Folge von Ansätzen und Brechungen auf: „Baumkahler Hügel“, „War es das Zeichen?“, „Ich ging durchs Dorf“, „Nur die Toten“, „Wer schrieb“, „Erstarrt“. – Verglichen mit dem vorhin zitierten Text „Die Magd“, dessen poetische Eingängigkeit durch Endreim, Alliteration, durch stark betonte rhythmische Struktur zustande kommt, fällt bei den neuen Versen auf, daß die Sprache begrifflicher, das Wortmaterial karger und unspielerischer als vordem verwendet wird, der Rhythmus härter und unregelmäßiger klingt. Damit sind einige generelle Merkmale der in dem Band Chausseen Chausseen gesammelten Gedichte Peter Huchels genannt. Man konnte, in Anlehnung an ein Wort von Brecht, sagen: diese Verse sind „schlechten Zeiten für Lyrik“ abgetrotzt, gegen enorme Widerstände von außen (und von innen) formuliert. Die Kälte der Einsamkeit, der Isolierung, die Gefahr des Verstummens – weil die Sprache der Trauer, der Melancholie eine sich positiv deutende Gesellschaftsordnung in Frage stellt – ist in sie eingegangen. Schon die Titel einiger Gedichte signalisieren diesen Sachverhalt: „Landschaft hinter Warschau“, „Elegie“, „Nebel“, „Eine Herbstnacht“, „Winterquartier“, „Soldatenfriedhof“, „Polybios“, „An taube Ohren der Geschlechter“, „Warschauer Gedenktafel“, „Winterpsalm“, „Traum im Tellereisen“, „Unter der Wurzel der Distel“, „Psalm“. Schlüsselworte dieser Lyrik sind: tot, wund, schutzlos, Schweigen, unauffindbar, Stille, regengrau, Trauer, Kälte, erstarrt, Angst, streng, trostlos, Öde. Die Selbstaussage in den meisten Gedichten ist unüberhörbar. In „Winterpsalm“, Hans Mayer gewidmet, heißt es zum Beispiel:
Da ging ich bei träger Kälte des Himmels
Und ging hinab die Straßen zum Fluß,
Sah ich die Mulde im Schnee,
Wo nachts der Wind
Mit flacher Schulter gelegen.
Seine gebrechliche Stimme,
in den erstarrten Aesten oben,
Stieß sich am Trugbild weißer Luft:
„Alles Verscharrte blickt mich an.
Soll ich es heben aus dem Staub
Und zeigen dem Richter? Ich schweige.
Ich will nicht Zeuge sein.
Sein Flüstern erlosch,
Von keiner Flamme genährt.
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Ich stand auf der Brücke,
Allein vor der trägen Kälte des Himmels.
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
Der vereiste Fluß?
Mit dem Bild des in der winterlichen Kälte erstarrten Flusses – eine der Selbstinterpretation dienende Metapher – korrespondiert das Gedicht „Traum im Tellereisen“:
Gefangen bist du, Traum.
Dein Knöchel brennt,
Zerschlagen im Tellereisen.
Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben
In regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis
Das Schweigen.
Der Hagel meißelt
Die Grabschrift auf die schwarze Glätte
Der Wasserlache.
Dieses Gedicht ebenso wie „Winterspsalm“ veröffentlichte Huchel zuerst in Sinn und Form, und zwar im letzten von ihm redigierten Heft. Die Absage an die vulgär-marxistische Forderung, daß Dichtung „positiv“ und einen klar erkennbaren gesellschaftlichen Auftrag haben müsse, ist evident. Zur trivialen „Aufbau“-Poesie bilden Huchels Verse eine derart extreme Gegenposition, daß von Seiten dieses Dichters vermittelnder Kompromiß sich ausschließt. Dennoch wäre falsch, sie lediglich als Ausdruck politischen Protestes zu sehen. Vielmehr: sie sind – durchaus folgerichtig – Resultate einer menschlichen und künstlerischen Entwicklung, die der politische Druck lediglich forciert und verschärft hat. Es ist die Stimme eines Dichters, die hier spricht; nicht die eines agitierenden „Klassenfeindes“. Freilich, es ist die Stimme eines an sich und den Verhältnissen leidenden Dichters. Es sind Gedichte der Klage, der Schwermut, der Resignation. Vom Schweigen ist die Rede als der äußersten Möglichkeit des Geistes, der Zeit sich zu verweigern. Die Bilder des Vegetativen, des feuchten, Fließenden treten zurück zugunsten einer mineralisch erstarrten Welt. Wendungen wie: „Der Hagel meißelt die Grabschrift auf die schwarze Glätte“, „Es zittert das starre Geäst der Metalle“ oder „Ich ging durch den Steinschlag roher Worte“ kennzeichnen die Lage und den durch sie bewirkten Prozeß der Verhärtung. Die Mitteilungen werden spärlicher; poetische Evokationen gewähren dem Ich keine Sicherheit mehr. Dichter und Gedicht riegeln sich ab:
Unter der Wurzel der Distel
Wohnt nun die Sprache,
Nicht abgewandt,
Im steinigen Grund.
Ein Riegel fürs Feuer
war sie immer.
Rückzug auf sich selbst, in den innersten Kreis der eigenen Existenz bewirkt nicht nur Flucht, sondern auch Angriff. So ist unverkennbar, daß Huchels neue Gedichte gelegentlich einen zeitkritischen Ton anschlagen. Doch entsprechend der Ausweglosigkeit formuliert der Autor Kritik nicht als Polemik, sondern – weit schärfer – als eschatologisches Bild, als endzeitliche Vision:
Die Oede wird Geschichte
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
in den Sand.
Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.
Franz Schonauer, in: Akzente. Zeitschrift für Dichtung, Heft 5, Oktober 1965
Jenseits des Flusses / leben die Toten. / Das Wort / ist die Fähre.
(„Thrakien“)
I
Peter Huchel hat immer wieder versucht, mit dem lyrischen Wort zu diesem „jenseitigen Ufer des Flusses“ überzusetzen. Dieses Ufer ist nicht, wie das Motto vermuten lässt, nur Totenreich, sondern hat weitere Abschnitte: die Welt der Kindheit, einen naturmystischen und einen mythisch-magischen Bezirk sowie den Bereich des Glaubens. Alle diese Bezirke sind insofern abstrakt, als dass sie nicht oder nicht mehr unmittelbar mit den Sinnen zu erfahren sind. Vom Ufer der Kindheit ist man durch eine zunehmende Zahl von Jahren getrennt. Mythos und Magie spielen in unserem Alltag keine Rolle mehr und was den Glauben angeht, so ist Huchel sicher kein Christ im engeren Sinne. Gott ist für ihn ein Deus absconditus, der den Menschen unzureichend für das irdische Dasein gerüstet hat:
Lenz, dich friert an dieser Welt!
Und du weißt es und dir graut.
Gott hat dich zu arm bekleidet
mit der staubgebornen Haut.
Und der Mensch am Menschen leidet
(„Lenz“). Gedichte wie „Weihnachtslied“ oder „Die Hirtenstrophe“ bedienen sich zwar christlicher Motive, attackieren aber unerfüllbare Heilsversprechen und üben im Grunde Sozialkritik. Dasselbe gilt für „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“. Sinkt am Anfang des Gedichts der brennende Christus vom Kreuz – was einer Rücknahme des Erlösungsversprechens gleichkommt –, so heißt es am Ende: „Hier war kein Gesetz. Es schrieb das Leid“. Nichts konnte verhindern, dass die Gemeinde des Pfarrers im Krieg ausgelöscht wurde, und obwohl eine Trauer über das Versagen des christlichen Glaubens mitschwingt, sagt Huchel mit diesem Gedicht vor allem eines: Das Leiden ist sinnlos, die Leidenden werden nicht erlöst und am Ende steht nur der Tod.
Das Totenreich wiederum ist ein Abschnitt des jenseitigen Ufers, auf dem sich Huchel gut auskennt. Von dem Gedichtband Chausseen Chausseen an kommen nur wenige seiner Gedichte, die sich inzwischen in den freien Vers hinein aufgelöst haben, ohne das Wortfeld des Tods aus, und in Die neunte Stunde treten Kälte, Leere und Verstummen hinzu. Zeichen werden im Gegensatz zu früher zwar gesehen, aber nicht mehr verstanden:
Schneenarben an den Felsen,
Wegzeichen wohin? Schriftzeichen,
nicht zu entziffern
(„Todtmoos“).
Mit diesem Gedicht setzt Peter Huchel selbst zum anderen Ufer des Flusses über. Dieser Fluß heißt Styx. So hieß er aber nicht immer.
II
Das Thema des Leidens ist häufig bei Huchel zu finden. Ist es zunächst, wie die bereits zitierten, mit christlichen Motiven und Begriffen arbeitenden Gedichte zeigen, ein allgemeines Leid – dasjenige der Schutzlosen, Landlosen, Kriegsopfer –, so gewinnt man den Eindruck, als verwandelte sich dieses im Lauf der Zeit in ein privates. Reim und Metrum zerbröckeln und gleichzeitig werden die Gedichte Huchels hermetischer und dunkler. Hierin unterscheiden sie sich von den früheren, die bei aller Melancholie eine gewisse Heiterkeit sowie eine Freude an sinnlicher Wahrnehmung bewahren. Dies gilt vor allem für Huchels Kindheitsgedichte, anhand derer überdies deutlich wird, dass die Abschnitte des jenseitigen Ufers nicht klar voneinander getrennt sind, sondern sich Überschneiden:
O Schlucht der Welt, des Wassers Schwall
kam wie Gesang: war es mein Leben?
Damals sah ich im dunkeln All
ganz nah die Sternenreuse schweben
(„Die Sternenreuse“).
Hier gehen Kindheit und Naturmystik eine Verbindung ein und ganz gleich, wie man die Metapher der Sternenreuse deutet, – Huchel spricht in diesem Gedicht von der Offenheit der Kinder den sinnlichen und übersinnlichen Aspekten der Welt gegenüber. Dazu tritt ein ungläubiges Staunen – „war es mein Leben?“ –, dass man einmal zu einer solchen Wahrnehmung fähig war. Beides – die Offenheit und ihr Verlust – wird häufig von Huchel thematisiert:
Damals ging noch am Abend der Wind
Mit starken Schultern rüttelnd ums Haus.
Das Laub der Linde sprach mit dem Kind,
Das Gras sandte seine Seele aus
(„Damals“).
Ebenso in „Holunder“:
Unter der Holunderhöhle
schliefen wir den Frühling lang,
laubkühl eine kleine Kehle
heilig uns zu Häupten sang.
Oder in „Ferme Thomasse“, ein Gedicht, in dem Huchel auf seine Zeit in Frankreich zurückgreift:
Es mengt sich der Stalldunst
Mit dem milchigen Dunst der Sterne
Diese Mischung von Sinneswahrnehmung und Naturmystik ist typisch für Huchels Lyrik, bis im Band Chausseen Chausseen, nicht zuletzt bedingt durch Huchels Lebensumstände, ein Wandel von Inhalt und Form einsetzt. In Gezählte Tage und Die neunte Stunde ist die Kindheit schließlich so gut wie kein Thema mehr. Stattdessen bedient sich Huchel vermehrt historischer und mythischer Stoffe.
III
Solange Peter Huchel Reim und Metrum einsetzt und seine Gedichte einen erzählerischen Duktus haben, ist sein Blick offen. Er beschäftigt sich mit dem Leiden anderer und vermag zugleich, die Welt seiner Kindheit in sinnlichen und naturmystischen Bildern wachzurufen. Der Fluss, den er auf dem Weg zum Ufer der Kindheit überquert, ist die Lethe, deren Wasser die Erinnerung an das Überstandene verwischt und die Grenze zum Elysium der Kindheit bildet. In Huchels Fall sorgt sie für ein kurzes, heilsames Vergessen, in das er eintauchen kann, um sich danach wieder in die „Schlucht der Welt“ zu wagen. Später wird die Lethe zum Styx und der Kindheitsabschnitt jenseits des Flusses geht Huchel verloren. Verloren geht ihm damit auch, so paradox das klingt, ein Abstand zu sich selbst, mit der Folge, dass er gleichsam in sich selbst hineinstürzt und beim Versuch, sich aus sich selbst zu befreien, zahllose, zum Teil überaus poetische Metaphern erschafft und wie Enterhaken auswirft. Deutlich wird dieser Umschwung beim Vergleich zweier Gedichte. So heißt es in „Der Ketzer aus Padua“:
Ich ging ins Gestrüpp, ich schob den Karren,
verurteilt,
den alten Jammer
bis zur Vernichtung der Sinne zu sehen
Diese Verse sind eine treffende Beschreibung von Huchels Befindlichkeit in späteren Jahren – Kindheit und Natur sind kein Trost mehr, weil die Sinne den um den Jammer kreisenden Gedanken kaum noch etwas entgegenzusetzen haben. Ganz anders verhält es sich mit dem gut dreißig Jahre früher entstandenen Gedicht „Heimkehr“, in dem Huchel die durch den Krieg angerichtete Zerstörung als Möglichkeit zum Neubeginn deutet. Heißt es anfangs: „Soll ich wie Schatten zerrissener Mauern / hausen im Schutt, das Tote betrauern“, so wird schließlich die Frau, die aus wendischem Wald tritt, um „das Vieh, das dürre“, zu suchen und den Rost vom Pflug zu schlagen, zur Mutter der Frühe, das heißt des Neubeginns, und zur Mutter der Völker:
Pflügend den steinigen Acker,
trieb sie das schwarzgefleckte
sichelhörnige Rind.
Hier benutzt Huchel ein mythisches Bild, um dem Chaos der Gegenwart eine Hoffnung für die Zukunft abzugewinnen. Später ist er dazu nicht mehr im Stande.
IV
Beide Phasen, frühe und späte, vereinen Widersprüche in sich: dort naturmystisch aufgeladene Kindheitserinnerung und zugleich Auseinandersetzung mit dem Leiden anderer sowie sozialem Unrecht, da eine düster-sperrige, archaisch anmutende Moderne, die in mancherlei Hinsicht an Willi Baumeisters Zeichnungen zum Gilgamesch-Epos erinnert – leicht und wuchtig, sinnlich und abstrakt zugleich. Ob Karl Corino Recht hat, der in seiner Rezension von Die neunte Stunde (Stuttgarter Zeitung, 9.10.1979) behauptet, es fehle Huchels Gedichten „die Erschütterung, die von den Dichtungen der ganz Großen, Rilkes oder Zwetajewas, ausgeht“, ist fraglich. Ein Gedicht wie „König Lear“, das eine eigenwillige Interpretation – und nicht, wie Corino meint, eine Paraphrase – der Shakespeare-Gestalt darstellt, enthält Bilder, von denen durchaus eine Erschütterung ausgehen kann: „In elenden Dörfern / schlug er Knüppelholz / für seine Linsensuppe.“ Der König als ein Bettler, der ebensogut durch märkische „Luch und Lanken“ gezogen sein könnte. Natürlich weist Huchels Lyrik, die weniger weltläufig ist als jene Rilkes, einen verhältnismäßig engen Rahmen auf. Sie bleibt an eine bestimmte Region gebunden, aus der Huchel, der nicht umsonst so häufig Augustinus’ Wort vom „großen Hof des Gedächtnisses“ zitiert, bis zuletzt seine Bilder und Metaphern schöpft. Zugleich aber stellt dieser relativ enge Rahmen eine Stärke dar, denn selbst Huchels späte, klanglich genau durchgearbeitete Gedichte bewahren ein gewisses Maß an Sinnlichkeit und bleiben trotz aller Metaphern wohltuend profan. Diese Profanität entspringt Huchels Bindung an die Welt seiner Kindheit, selbst wenn er diese in seinen späten Gedichten nicht mehr direkt thematisiert. Ähnlich wie Jakob Böhme, der, in seiner Schusterwerkstatt eingepfercht, Blicke und Gedanken auf mystische Räume richtet und die Enge auf diese Weise sprengt, unternimmt Huchel den Versuch, zu den Bereichen am jenseitigen Ufer des Flusses überzusetzen. Dass sich der Fluss von der Lethe zum Styx wandelt, ist eine Tatsache, die ihm bewusst ist, unter der er leidet und die er in seinen Gedichten reflektiert. Das zeugt von Modernität und stellt zweifellos eine Stärke dar: Der Fluss ist zu breit und das andere Ufer entfernt sich immer weiter und am Ende bleibt kein Trost. Huchel hat dieser schmerzhaften Tatsache ins Gesicht gesehen und deshalb ist auch seine späte Lyrik, aller Resignation und Hermetik zum Trotz, groß zu nennen.
Henning Ahrens, in: Text + Kritik: Peter Huchel – Heft 157, edition text + kritik, Januar 2003
– Peter Huchels poetisches Grundbuch. –
Ich erinnere mich, daß wir zunächst etwas ratlos und verlegen dastanden mit unseren leeren Umzugskisten im letzten Arbeitszimmer Peter Huchels und auf die Bücherregale schauten. Monica Huchel hatte begonnen, Kostbarkeiten aus der Bücherwand zu ziehen und diskutierte – mal mit uns, mal mit sich selbst –, welche Stücke aus der Bibliothek des Dichters zurückkehren könnten von Staufen in ihr Haus nach Wilhelmshorst. Zu ihrer kleinen Auswahl gehörten auch die grünen, zerschlissenen Bände des Forst- und Jagdarchivs von und zu Preußen, die Huchel als Kind neben Schrotflinten und handgeschriebenen Kuhbeschwörungen im Gewehrschrank seines Großvaters gefunden hatte und die er später das erste entscheidende Leseabenteuer seines Lebens nannte. Auch Huchels eigene gebundene Ausgabe von Sinn und Form wanderte in unsere Kisten. Ein Vierteljahrhundert nachdem diese Bücher die Ausreise Huchels aus der DDR in den Westen mitmachten, kehrten sie nun mit United Parcel Service zurück an den Ort, wo einige von ihnen schon einmal konfisziert, auf Lastwagen geworfen und der Verschimmelung preisgegeben worden waren.
Die wertvollsten Stücke seines verschleppten Archivs rettete Huchel damals selbst, als er Monate später erfuhr, wo man sie abgekippt hatte. In einem feuchten Gemüseschuppen lagerten Bücher und Korrespondenzen aus der Sinn und Form-Redaktion unter dem Hausrat eines verstorbenen Rentners. Nicht nur die Sinn und Form-Bände waren auszugraben, Huchel mußte, Archäologe seines eigenen Werkes, auch die Briefe Blochs, Brechts, Döblins und Thomas Manns, soweit sie noch zu retten waren, Stück für Stück aus dem schimmeligen Nachlaß des Toten bergen. „Ach schaut mal Kinder, hier hab ich noch was“ – wir hatten unsere Kisten bereits verschlossen, als Monica Huchel ein kleines massives Buch hervorzog, in schwarzes Leinen gebunden und beschriftet mit dem Etikett Notizen.
Es handelte sich um ein Notizbuch Peter Huchels, allerdings um keine gewöhnliche Sammlung poetischer Notizen, sondern um ein nach Hieroglyphen geordnetes und nach Doppelseiten vornumeriertes Metaphernregister, eine Art Registratur für die spontanen Bildeinfälle, die zugleich als geordneter, abrufbereiter Katalog für die laufende Gedichtproduktion funktionierte. Die untereinander auf der linken Einbandseite aufgelisteten Zeichen, deren Bedeutung aus dem Thema der Notizen geschlossen werden kann, ergeben das Inhaltsverzeichnis: Zeichen plus Seitenangabe. Vierzehn Zeichen markieren je einen Speicherplatz im Notizbuch – vierzehn Zeichen, die Huchel benutzte, die Felder seiner poetischen Wahrnehmung – gewissermaßen Flurstück für Flurstück – abzustecken, die Aufteilung der Welt im poetischen Grundbuch.
Das erste Zeichen, ein nach unten geöffneter Halbkreis, steht für den Metaphernkreis des Winters, des Eises, des Schnees; unter dem zweiten, dritten und vierten Zeichen sind die poetischen Notizen zu Frühling, Sommer und Herbst aufbewahrt; mit Notizbuchseite 32 folgt das Bergwelt-Zeichen, darunter Hügel-Metaphern, aber auch das Bild der Ackerfurche und des Bahndamms in verschiedenen Varianten; dem folgt der Speicherplatz für Vogel-, Flug- und Himmelsmetaphern; die beiden parallelen Wellenlinien ab Seite 48 meinen nichts anderes als die Sammelstelle für alles Maritime im poetischen Einfallsbereich, also Wasser- und Fischnotizen, auch ein Leuchtturm kommt vor. Das Strichtier ab Seite 54 steht für die Poesie des Lamms, des Rindes, der Schafe, der Spinne, der Hunde, der Stute und der Büffel, zu diesen finden sich Notizen; danach ein etwas kryptischeres Zeichen, die Eintragungen weisen es als das der Frucht bzw. der Blüte aus. Bei dem ab Seite 70 vorherrschenden Zeichen handelt es sich wahrscheinlich um das eines Pflugs, dort konzentriert Huchel eine Vielzahl von Notizen zum bäuerlichen Wirtschaften, zum Pflügen, zur Aussaat und ähnliches, alles im historischen Umfeld von Krieg und Nachkrieg. Dem folgt der Kreis als Chiffre für die ab Seite 75 gespeicherten Mond-, All- und Erdmetaphern. Der Blitz ab Seite 80 meint das Element des Feuers in der poetischen Notiz; dem folgt die Sichel, unter der Huchel noch einmal fünflinierte Doppelseiten für Landwirtschaftliches vorgesehen hat. Beschlossen wird das Ganze vom Zeichen des Hauses, vom Stall Bethlehems bis in die Totenkammern aus Schnee (später Schlußbild in Dezember 1942) versammelte Huchel dort seine Ideen zum Bildkreis des Häuslichen.
Wesentlich ist das Prinzip: der poetische Roh-Stoff ist nach dem Ort seines Erscheinens rubriziert, nicht auf einer thematischen, sondern fast landschaftlichen Ebene destillierte Huchel seine Erstnotizen. Im Gegensatz zu den Frühlings- und Sommerseiten unter dem zweiten und dritten Zeichen sind die unter dem Zeichen des Winters stehenden Doppelseiten 1 bis 9 eng beschrieben; wer Huchels Gedichte kennt, wundert sich darüber nicht. Auch nicht darüber, daß im Zeichen des Herbstes die Bleistiftnotizen wieder dichter werden, darunter auf Seite 24 die fast vollständige erste Strophe des Gedichts „Widmung / für Ernst Bloch“. Huchel benutzte das, Buch nicht nur für Erstnotizen, er begann zugleich mit der Arbeit am Text, oft mit Wortumstellungen an einer Zeile, oder er montierte die Zeilen einer Strophe um, ein gefundenes Bild wurde in verschiedene Sinnzusammenhänge gebracht, bis etwas poetisch Brauchbares herauszukommen schien. Daneben immer wieder Reimversuche: „Landser/Panzer“; „Fenster/Dornenbekränzter“ oder „Hundegeblaff/Haff/Kaff“.
Interessanterweise waren es, soweit ich es überschaue, in der Mehrzahl nicht die Ergebnisse der Überarbeitungen, die später in Huchels Gedichte eingeflossen sind, sondern unbearbeitete Spontannotizen, deren poetischer Wert offenbar ad hoc gegeben schien, so bei „Die Kälte schnitt in die Zähne“ auf Seite 6, Schlußbild des Gedichts „Das Gericht“ („Die Kälte schnitt in meine Zähne.“) oder auf Doppelseite 7 „Sie bogen den Hals des Widders / zurück und stachen das Messer / in seine Kehle“, das leicht variiert als ein zentrales Bild im Gedicht „Abschied von den Hirten“ wiederzufinden ist. Im Umfeld dieser Notizen verweist nichts auf ihren späteren Verwendungszusammenhang, das gilt auch für alle anderen Fundstellen in Huchels Rohstoff-Sammlung.
Ausnahmen bilden die Anhäufung von Bildmaterial für den Bodenreform-Zyklus „Das Gesetz“ und zwei Brief- bzw. Argumentationsentwürfe, die unvermittelt zwischen den poetischen Notizen auftauchen. Huchel rekapitulierte dort seine schwierige persönliche Position als Chefredakteur in den politischen Auseinandersetzungen um Sinn und Form. In beiden Fällen – notiert unter dem Zeichen der Berge und unter dem des Hauses – wehrte sich Huchel offenbar gegen einen der vielen Versuche, ihn zu reglementieren:
So kam auch diesmal… Herr Haid (Bruno Haid, 1960–1963 Leiter der Abteilung Kultur und Verlagswesen im Ministerium für Kultur, L. S.), der mich bereits vor zwei Jahren an der Nase herumgeführt hatte… Er kam im Auftrag von Minister Abusch… Man kennt das Geplänkel der Propaganda… Es wäre unsinnig, auf die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Menschenrechte hinzuweisen… es scheint mir manchmal unmöglich, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, man will andauernd das Verhältnis zu mir „normalisieren“, ohne mir aber die geringsten Rechte, die jedem Akademiemitglied zustehen, zu gewähren…
Unter einem Anfang der 60er Jahre bedrohlichen Druck (das Politbüromitglied Alfred Kurella versuchte Huchel 1963 von der Annahme des Westberliner Fontane-Preises abzubringen mit den Worten, er hätte schon manchen aus falschem Stolz in den Tod gehen sehen) versuchte Huchel, seine Situation zu klären. Danach wieder Vogel- und Himmelsmetaphern, die enden mit dem Bild des Schnees als „das graue Schleppnetz des Himmels“, später Eingangssentenz im Gedicht „Schnee“, das Huchel seinem Freund Hans Henny Jahnn gewidmet hat:
Der Schnee treibt
das große Schleppnetz des Himmels
er wird die Toten nicht fangen.
Das Gedicht „Abschied von den Hirten“ eignet sich als Beispiel für Huchels Arbeitsweise, soweit sie durch das Notizbuch erhellt werden kann.
ABSCHIED VON DEN HIRTEN
1 Nun da du gehst
2 vergiß die felsenkühle Nacht,
3 vergiß die Hirten,
4 sie bogen dem Widder den Hals zurück
5 und eine graubehaarte Hand
6 stieß ihm das Messer in die Kehle.
7 Im Nebelgewoge
8 schwimmt wieder das Licht
9 der ersten Schöpfung. Und unter der Tanne
10 der nicht zu Ende
11 geschlagene Kreis aus Nadeln und Nässe.
12 Dies ist dein Zeichen. Vergiß die Hirten.
Das Bild von der „felsenkühlen Nacht“ in Zeile 2 findet sich im Notizbuch naturgemäß unter dem Zeichen der Bergwelt, gleich zu Beginn der Rubrik auf Seite 32. Das Widder-Bild der Zeilen 3–6 hingegen ist, wie bereits erwähnt, bei den Notizen unter dem Zeichen des Winters auf Seite 7 zu finden, hinzu gekommen ist lediglich die „graubehaarte Hand“. Das zentrale Bild der zweiten Strophe ab Zeile 10 wiederum steht auf Seite 37, ebenfalls unter dem Zeichen der „Berge“:
Unter der Tanne
ein nicht zu Ende
geschlagener Kreis aus Nadeln und Nässe, über dem
der Zirkel zerbrach
Unter dem Zeichen der Mond-, All- und Erdmetaphern, also des Kreises, hat Huchel auf Seite 76 ein ähnliches Bild notiert:
Ein Erdhauch aus Nadeln
und nassem Moos,
die Tannen, die Felsen,
sie blicken dich an
mit den Augen der Toten.
Und darunter eine philosophische Reflexion:
Der nicht zu Ende geschlagene Kreis des Daseins, über dem der Zirkel zerbrach. Wahrlich, es ist leicht einen Menschen in zwei Teile zu schneiden, aber es gibt kein Gerät, sie wieder zusammen zu schweissen. Jede für sich bleibt die halbe Wahrheit.
Diese Reflexion stellt übrigens die einzige genrefremde Eintragung im Notizbuch dar neben den erwähnten Brief- bzw. Gedankenentwürfen und einigen Zeichnungen, meist Selbstporträts mit Kugelschreiber.
An vier verschiedenen Stellen seines poetischen Fundbuches hat Huchel also Material bezogen für die Montage des kurzen Gedichts „Abschied von den Hirten“, das er 1971 erstmals veröffentlichte und aufnahm in den Band Gezählte Tage (1972). Dieses Verfahren des Sammelns und späteren Montierens von poetischem Rohmaterial unterschiedlichster Provenienz ließe sich gut an weiteren Beispielen beschreiben. Offensichtlich stand für Huchel der poetische Eigenwert dieses Materials außer Frage, auf dessen unabhängige, überzeitliche Geltung er vertraute bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Text-Arbeit ein bestimmtes Bild aus dem Speicher aufrief, es für seinen Zusammenhalt, seinen Abschluß oder seinen Beginn geeignet schien. Gerade Vorstufen und Varianten seiner Metaphern für spätere Gedichtanfänge und -abschlüsse finden sich allenthalben im Notizbuch verstreut, „Bildvisionen auf kein Thema hin geordnet…, ein paar Eisenspäne gewissermaßen, noch außerhalb des magnetischen Feldes“.
Mit diesem kleinen Kommentar in der einzigen bekannten, von Hilde Domin veranlaßten Selbstinterpretation deutete Huchel seine Methode an. Im Notizbuch verrät sein vorsichtiges Jonglieren mit Zusammenhängen und Varianten die Verlockung, die von einer einmal für gelungen befundenen Metapher (und sei es nur ihr besonderer Klang) ausgeht, immer wieder finden sich neue Versuche, sie zu integrieren. Gelingt das nicht, geht die Suche nach dem Text, wo „das Bild als Gleichnis“ funktioniert, der Magnet die Eisenspäne schließlich strukturiert, wie Huchel es nannte, weiter. Jeder Dichter schleppt diesen geheimen Vorrat von Rohdiamanten durch die Notizbücher seiner Schreibexistenz. Manche davon brauchen Jahre, um ihren Text zu finden, ihre Inkompatibilität zeigt ihre Eigenart, ihren speziellen Anspruch. Dabei sind die zwangsläufig wiederkehrenden Versuche, diesen Bildern ihren Text zu geben, sie „unterzubringen“ im Gehege eines Sinnzusammenhangs, äußerst produktiv. Neue Texte entstehen, weil eines dieser Bilder ins Spiel kam, auch wenn es dort selbst am Ende nicht aufgeht. Manche werden nie untergebracht, nie veröffentlicht, sie grundieren mit ihrer unruhigen Fortexistenz die Arbeit von Text zu Text.
Auch im Notizbuch Peter Huchels finden sich Metaphern ohne späteren Text, rhetorische Gesten oder einzelne Worte, die oft wiederkehren, als wären sie eine Art Vademekum des Schreibens. Daneben fast auf jeder Seite Beispiele jener „Eisenspäne“, die später auf ein Thema hin „magnetisiert“ werden konnten und bekannt sind aus den Gedichten. Dabei wird auch Huchels Sinn für Qualität deutlich. Unter dem Herbst-Zeichen skizziert Huchel auf Seite 25 drei Strophen zu einem Gedicht:
Und abends duften nach Milch
die weissen Wolken über dem Dorf
Du gehst den Pfad
wo Schafe liessen die Wolle
an der Distel hängen.
Es steht der Hirt am Haus.
Die Ferne des Alls
weht hart an sein Aug.
Die Kitsch-Qualitäten der ersten und dritten Strophe sind schwer zu leugnen, Huchel gerieten solche Zeilen nicht ins Gedicht. Aber von Bedeutung waren sie vielleicht als eine Art Stimmungskontext für das Bild der zweiten Strophe, das sich weitergearbeitet und umgestellt wiederfindet in dem Gedicht „Elegie“ aus Chausseen Chausseen:
Hinab den Pfad,
Wo an der Distel
Das Ziegenhaar weht.
Das Gedicht wird beschlossen von dem Bild der Knaben, die warten mit „Läusen im Haar“. Auf den Seiten des Pflug- und des Sichel-Zeichens, wo diese Sentenz in den verschiedensten Sinnzusammenhängen auftaucht, sammelte Huchel weiterhin Material für den Gedicht-Zyklus zur Bodenreform „Das Gesetz“. Diese einzige thematisch orientierte Sammelstelle im Notizbuch erlaubt, den Beginn des Buches auf 1954/55 zu datieren. Mitte 1954 bezieht Huchel sein Haus im Hubertusweg, auf den das Buch „im Falle des Verlusts“ adressiert ist. Der holländische Literaturwissenschaftler Hub Nijssen hat nachgewiesen, daß Peter Huchel bis Mitte der 50er Jahre an Fassungen des „Gesetzes“ schrieb, von denen eine Anfang 1956 in der neuen deutschen literatur erschien. Danach hat Huchel es wahrscheinlich aufgegeben, daran weiterzuarbeiten. Obwohl er den Text für unfertig und nicht gelungen hielt, konnte er sich – enttäuscht von der Agrarpolitik im Osten – nicht mehr dafür motivieren. Eine abschließende Datierung ist schwieriger, da das Buch praktisch als zeitloser Speicher angelegt ist. Bei der Mehrzahl der Notizen aber handelt es sich um Materialien und Vorarbeiten zum Band Chausseen Chausseen, der 1963 im S. Fischer Verlag erschien. Einiges allerdings taucht später auf, z.B. in den Gedichten „Schnee / Dem Gedächtnis Hans Henny Jahnns“ und „Der Schlammfang“ aus Gezählte Tage (1972), einiges schließlich findet sich erst in den spätesten Gedichten wieder. Unter dem Zeichen der Frucht bzw. der Blüte ist der fast vollständige Entwurf des Gedichts „Der Holunder öffnet die Monde“ notiert, mit dem Huchel seinen letzten Gedichtband eröffnete.
Das erwähnte Läuse-Bild ist übrigens nicht das einzige, das trotz der thematischen Vorgaben des Gesetzes (Nachkrieg, Flüchtlingszüge, ländlicher Wiederaufbau etc.) schließlich in ganz andere Gedichte und „Gleichnisse“ abwanderte. Aus dem „Gesetz“-Material stammt zum Beispiel das abschließende Bild zum Gedicht „Psalm“, letztes Gedicht im Band Chausseen Chausseen: „Ein Geschlecht, eifrig bemüht, sich zu vernichten“. Als Variante im ansonsten eher pathetisch-optimistisch orientierten Gesetz-Material steht daneben noch: „Ein Geschlecht, mit allen Sinnen trachtend, glücklich zu leben.“ Auch die Stimme der Magd in „Le Pouldu“, die sagt „Herr, ich bin Wasser in deiner Hand“, hat ihre Fundstelle unter dem Zeichen des Pflugs („Da war ich Wasser in deiner / hohlen Hand“). Mit Metaphern beliefert aus dem Material des „Gesetz“-Zyklus wurde auch das Gedicht „Ferme Thomassett“, doch die meisten Notizen auf diesen mit Bleistift eng beschriebenen Seiten blieben ungenutzt. Oft handelt es sich dabei um ein der Huchelschen Diktion im Grunde fremdes Material, das am poetischen Zensor ohnehin nicht vorbeikommen konnte wie „Aber es tagt, es tagt! / Du stehst bald im Licht / Aber du weißt es nicht!“ (Seite 71) oder Worte wie „Traktorenpark“ und „Anhängegeräte“. Das Ganze zeigt, wie ernsthaft Huchel sich um eine Thematisierung der Bodenreform mühte. Zugleich wird deutlich, wie eingeschränkt seine dichterischen Möglichkeiten waren, sobald eine thematische Vorgabe wirkte. Christof Siemes hat darauf hingewiesen, daß in Huchels Texten die Bedeutung der Naturzeichen wechselt, mitunter gar nicht exakt festzulegen ist. Huchels Arbeitsweise im Notizbuch unterstreicht das: eine freie, keiner Option folgende „Veranlagung“ des poetischen Materials, die später einen ebenso freien, auf die Bedürfnisse des jeweils aktuellen Textes orientierten Zugriff erlaubte.
„Signatur“ nennt Jakob Böhme die Gesamtheit der sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten eines Dings. Bekannterweise orientierte sich Huchel stark an der Mystik Böhmes und dessen Überzeugung, daß bei Mensch, Tier und Pflanze die äußere Erscheinung der „inneren Gestaltniß“ entspricht. Huchels Registratur der Natur-Erscheinungen, wie sie sich in seinem Notizbuch wiederfindet, kann ohne weiteres als ein System solcher „Signaturen“ gelesen werden, nach denen er es unternahm, seine poetische Welt zu bestimmen. Signatur für Signatur versucht der Dichter seine Landschaft und mit ihr das Wesen der Dinge aufzunehmen und in Sprache, in „äußere Gestaltniß“ zu verwandeln. Vierzehn Signaturen für das Ritual des Gehens im Symbolkreis der Natur, jenem „nicht zu Ende / geschlagenen Kreis / aus Nadeln und Nässe, über dem / der Zirkel zerbrach“.
Lutz Seiler, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 150, Juli 1999
„Seltsam, daß gerade die Lyriker, diese angeblich doch zeitfremdesten Poeten, in Gleichnis und Bild so viel Gültigeres über unsere Gegenwart aussagen als die Romanciers in dickleibigen Büchern.“ Zu dieser Feststellung kommt Walter Jens in seiner Deutschen Literatur der Gegenwart bei der Interpretation von Huchels Chausseen Chausseen, und er fährt fort:
Sollte die brachylogisch-zeichenhafte Struktur der modernen Verknappungstendenz besser entsprechen als der auf Ausführungen verwiesene Roman? Die Chiffre als legitimer Spiegel dieser geisterhaft-flüchtigen, im Übergang und rapiden Wechsel begriffenen Zeit?
Peter Huchels Gedichte sind fast ausnahmslos Spiegel des Flüchtigen und der Vergänglichkeit. Von der „Herkunft“, die den Band der Gedichte eröffnet, bis zu dem „Traum im Tellereisen“, den Huchel im letzten, unter seiner Verantwortung erschienenen Heft der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlichte, stemmen sich seine Verse dem Verfall entgegen, indem sie ihn benennen.
Die Stimme wird zu Sand
Und wirbelt hoch und stützt den Himmel
Mit einer Säule, die zerstaubt.
Besser als in diesen Zeilen (aus dem Gedicht „An taube Ohren der Geschlechter“) lassen sich die paradoxen Spannungen, aus denen Huchels Lyrik lebt, kaum kennzeichnen. Sie sind geschrieben, obwohl sie mit tauben Ohren rechnen. Auch Huchels Gedichte bauen nicht mehr auf eine „Gemeinde“, kaum auf ein Gegenüber; sie sind – um Enzensbergers Rubrik aufzunehmen – „gedichte für die gedichte nicht lesen“; sie leben aus der Distanz: der zum Leser und der zu den Worten.
Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Es ist, als suchten Huchels Verse immer wieder das Wort als letzte Markierung vor dem Verstummen.
TRAUM IM TELLEREISEN
Gefangen bist du, Traum.
Dein Knöchel brennt,
Zerschlagen im Tellereisen.
Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben
In regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis –
Das Schweigen.
Der Hagel meißelt
Die Grabschrift auf die schwarze Glätte
Der Wasserlache.
Die letzte Strophe, die zunächst anmutet wie eine Variation der Keatsschen Grabinschrift, ist keineswegs eine literarische Reminiszenz. Huchels Gedicht lebt aus den schroffen Antithesen. Unauslöschlich ist nur, was sich stumm vor der Welt versiegelt. Unvergessen, wie mit dem Meißel eingeschlagen, bleibt nur, was ins Wasser geschrieben wurde. Huchels Gedichte „handeln“ von der Unzerstörbarkeit des Zerstörbaren, von der Unvergänglichkeit des Vergänglichsten. Sie sind Vers gewordener Widerspruch, der sich nur in der Form löst. Huchel bannt eine zerscherbte, zerscherbende Welt in unverletzbare Formen; er überredet das Schweigen, überführt das stumm Vergängliche ins Wort, das die Dauer chiffriert, indem es sie verleugnet.
Flüchtigkeit, die sich in Form rettet – daß dies die Aufgabe seines Gedichts ist, hat Huchel oft genug selbst formuliert: „Quellwasser, auf den Boden geschüttet, hat nur geringen Glanz, in ein Glas gegossen, ist es voll Licht.“ So fängt er die Wirklichkeit in den Gläsern seiner Gedichte ein, in einer Form, die das Stumpfe aufleuchten läßt. Form ist für ihn nicht nur das souveräne Wechselspiel des Reims, den er riskiert (vor der Herz-Schmerz-Banalität ebenso gesichert wie vor den gesuchten Extravaganzen des Reimlexikons). Form ist auch nicht nur der reiche strophische Vorrat, zu dem sich seine Verse zusammenschließen, als hätte es eine Krise des Gedichts nie gegeben, Form ist vor allem der „metallene Glanz“ seiner Gedichte, von dem er spricht, wenn er seinen doktrinären Parteikritikern vorwirft:
Sie versuchen gleichsam mit einem Büchsenöffner den metallenen Glanz eines September-Gedichts aufzureißen, um den aktuellen Inhalt zu finden. Genau so könnte man versuchen, mit einer Sense den Abendhimmel aufzureißen.
Dieser „Glanz“ der Huchelschen Gedichte ist ihre flüchtigste, verletzlichste Eigenschaft. Er taucht seine Verse in wechselndes Licht, bannt vorüberhuschende Reflexe:
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt
In Momenten verschränken sich Dauer und Vergänglichkeit. Augenblicke werden gesammelt, aber sie weiten, sie dehnen sich in die reißende Zeit. Das Abenteuer der Huchelschen Lyrik ist die Zeit, wie in der „Landschaft hinter Warschau“, wo aus einer Momentaufnahme ein Tag vom Morgen in die Nacht stürzt als ein bedrängendes, jagendes Davoneilen, gegen das sich die letzten Zeilen stellen wie ein Damm, auf dessen Schwäche Huchel vertraut. In den flüchtigen Spuren findet das Gedicht die Chiffren dessen, was sich dem Strom der Vergänglichkeit entzieht.
Spitzhackig schlägt der März
Das Eis des Himmels auf.
Es stürzt das Licht aus rissigem Spalt,
Niederbrandend
Auf Telegrafendrähte und kahle Chausseen.
Am Mittag nistet es weiß im Röhricht,
Ein großer Vogel.
Spreizt er die Zehen, glänzt hell
Die Schwimmhaut aus dünnem Nebel.
Schnell wird es dunkel.
Flacher als ein Hundegaumen
Ist dann der Himmel gewölbt.
Ein Hügel raucht,
Als säßen dort noch immer
Die Jäger am nassen Winterfeuer.
Wohin sie gingen?
Die Spur des Hasen im Schnee
Erzählte es einst.
Walter Jens hat auf den „sense of past“ aufmerksam gemacht, der den Augenblicken der Huchelschen Gedichte Kontrast gibt.
Alle leben noch im Haus:
Freunde, wer ist tot?
heißt es in der „Herkunft“. Wendische Hirten, Mägde, der Knabenteich, polnische Landarbeiter, die toten Träume, die als Fische auf dem Grund ziehen – immer ist die Gegenwart der Verse von dem durchzogen, was war. Huchels Gedicht verfügt über die Zeiten; die Zeiten verfügen über die Gegenwart. Wo Huchels Gedicht „jetzt“ sagt, sagt es immer auch „Einst“. Aber Huchel erschwindelt keine Wiederkehr der Mythen. Wo sie beschworen werden, verbleiben sie in der Negation, wie im „Weihnachtslied“. Sie sind erstarrt, haben ihren Sinn ausgegossen; sie vermitteln nicht, sie befremden:
Agaven heben die Lanzen,
Drücken den Essigschwamm
An den dürstenden Mund des Himmels.
Huchel setzt das Hölderlinsche „Und wohl geschieden“, er überredet keine Vergangenheit zur Gegenwart. Die Mythen sind stumm, blind geworden. Huchel erzählt von ihnen, wie von Abgelebtem, im Präteritum – „hier ging Theophrast“. Er erinnert an Stimmen, von denen er weiß, daß sie endgültig verstummt sind:
Die Erde schenkt uns keine Zeit
über den Tod hinaus.
Ins Gewebe der Nacht genäht
Versinken die Stimmen
Unauffindbar.
Das Etikett „Naturlyrik“, das man für Huchel bereithält, ist mißverständlich. Gewiß gelten viele seiner Gedichte den Jahreszeiten, Monaten und Landschaften, der „wilden Kastanie“, der „Sibylle des Sommers“, „Verona“ und dem „Löwenzahn“. Aber statt des beschwörenden Raunens, bei dem Merlin mit dem Zauberstab alles zu einer seligen Einheit zusammenschließt, bleibt bei Huchel die Natur in einer elegischen Distanz. Huchels „Naturgedichte“ sind sozusagen nach dem Erwachen geschrieben, sie können mit Rosmarin und Suppenkraut keine Kinderträume malen. Das Naturparadies Huchels ist ein verlorenes Paradies:
Es glänzt, armer Zyklop,
Dein ausgepfähltes Aug.
Du siehst nicht mehr
Das Schwanken der Lampe
Unter dem Karren.
Eine ähnliche Metapher für die Blindheit, mit der die Vergangenheit geschlagen ist, findet sich in dem Gedicht „Chiesa del Soccorso. Forio“:
Salzige Brandung,
Bist du das letzte
Erstarrte Bild,
Das aus den Augen der Toten
Die Fische fraßen mit sanftem Maul?
Huchels Dichtung berührt sich hier weniger mit der Naturlyrik Wilhelm Lehmanns als mit den Meeresgedichten Albertis, Nerudas, mit Brechts „Ballade vom ertrunkenen Mädchen“.
Huchels Gedichte reflektierten zunächst – man darf das nur nicht als versifizierte Autobiographie mißverstehen – seine Kindheit und Jugend im Dorf Alt-Langerwisch in der Mark Brandenburg. Als die Nazis auch in der Literatur ihr tausendjähriges Reich zu gründen suchten, glaubten sie, in Huchel einen Blut-und-Boden-Barden gewinnen zu können. Huchel verhinderte damals das Erscheinen des Gedichtbandes Der Knabenteich. Diese Gedichte sind nichts weniger als pseudoromantische Verbrämungen ländlicher Schlichtheit und Einfalt, wie sie damals der Dichtung als Aufgabe zugeschrieben wurden. Sucht man nach Vergleichbarem, so lassen sie am ehesten an die Gedichte Sergej Jessenins denken, die Huchel ins Französische übersetzt hat. Wie in Jessenins Gedichten – etwa in „Keine Halme mehr“ – leben die Verse Huchels aus der Distanz, die benennt, indem sie negiert. Ihr elegischer Grundzug, das ständig angeschlagene „Nicht mehr“ wird jedoch nie romantisch betrauert, sondern konstatiert.
Daß sich Huchels Gedicht die Natur zum Thema macht, ist keineswegs eine Art von Eskapismus. Die „Modernität“ seiner Verse ist deshalb auch nicht darauf angewiesen, sich mit Neonlicht oder Autolärm modisch zu drapieren. Sie ist tiefer begründet als im zeitgenössischen Vokabular, sie ist keine Angelegenheit des Stoffs, sondern des Bewußtseins. Huchels Gedichte sprechen von einem Sturz in die Fremdheit. Sie riskieren Poesie als Abschied von der Poesie:
Dann schnitt der Pflug
Durch Asche, Bein und Schutt.
Und der es aufschrieb, gab die Klage
An taube Ohren der Geschlechter.
Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen könnte, als schirmte sich das Gedicht bei Huchel gegen die Politik ab, ist sein Weg nicht der der inneren Emigration. Ein „Gespräch über Bäume“ erschien ihm nicht als gangbarer Ausweg, sondern als Verbrechen. Die „Zwölf Nächte“ sind, wie Brechts Gedichte, keine in Verse gefaßten Klagen, sondern lyrische Diagnosen eines politischen Zustands. Später, an den erforderlichen Hymnen zum „Aufbau des Sozialismus“ scheiterte Huchel wie an einem Pflichtstoff. Hofdichtung gedeiht auch an proletarischen Höfen nicht. Das „Gesetz“, das die Bodenreform zum Inhalt hat, wurde nur teilweise veröffentlicht.
Huchels Lyrik ist dort stärker „politisch“, wo sie den wörtlichen Pakt vermeidet. Sie ist es, weil sie dann ihrem Wesen nach mit der Herrschaft uneins ist und sich gegen die offiziellen Forderungen sperrt. Ihre Brisanz war ein Thema des diesjährigen SED-Parteitages. Gedichte wie die Huchels lassen sich schwer tolerieren, weil sie die Sicherheiten der Schlagworte zertrümmern, den proklamierten Optimismus Lügen strafen. Im „Winterpsalm“ heißt es:
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Daß Huchel nicht, wie die Parteilinie es will, die Nacht schon als vergangen ansieht, darüber gibt eine an Ernst Bloch gerichtete Verszeile Auskunft: „Er ahnt, was noch die Nacht verschweigt (…)“
Hellmuth Karasek aus Klaus Nonnenmann (Hrsg.): Schriftsteller der Gegenwart. Deutsche Literatur. 53 Porträts, Walter Verlag, 1963
Huchels bisheriges lyrisches Werk umfaßt zwei Bände,1 die zusammengenommen etwa 120 Gedichte vereinigen. Darüberhinaus erschienen in Sinn und Form, der (Ost-)Berliner Zeitschrift für Literatur, die Peter Huchel bis zu seiner spektakulären Entlassung 1962 leitete und zu einem weit über die Grenzen der DDR und der Bundesrepublik hinaus bekannten Organ gemacht hatte, einige wenige Gedichte, von denen er nur das bereits 1927 entstandene Gedicht „Lenz“ in die Neu-Ausgabe des 1948 erschienenen ersten Bandes aufnahm.2
Diese Trennung seiner Gedichte in zwei Bände ist nicht nur ein durch die Entstehungszeit der Gedichte bedingtes, mehr zufälliges Faktum. Bereits in der Ausgabe von 1948 fällt auf, wie außerordentlich sorgfältig Huchel die Textanordnung, die Reihenfolge der einzelnen Gedichte und ihre Placierung im Kontext vornimmt. Der in drei Abschnitte gegliederte Band beginnt mit einem Text, der den Titel „Herkunft“ trägt und endet mit dem Gedicht „Heimkehr“. Auch innerhalb der einzelnen Abschnitte fällt das Anordnungsprinzip auf. Die ersten drei Titel des ersten Abschnittes etwa lauten: „Herkunft“, „Wendische Heide“ und „Kindheit in Alt-Langerwisch“. Die letzten drei heißen: „Ostern in Alt-Langerwisch“, „Der Zauberer im Frühling“ und „Der glückliche Garten“.3 Ohne diesen Befund ungebührlich zu strapazieren, erscheint dieser Kompositionswille doch auch übertragen auf die Ausgabe bzw. Neu-Ausgabe der Gedichte in zwei Bänden und besagt eine deutlich vom Dichter gesetzte Markierung zwischen frühen, im Zeichen der sogenannten Naturlyrik entstandenen Gedichte und jenen, nahezu ausnahmslos im Band Chausseen Chausseen versammelt, die sich diesem an sich schon mißverständlichen, nicht eindeutigen Begriff der Naturlyrik, des Naturgedichts rigoros entziehen in Richtung auf ein Sprechen, das mehr und mehr als Chiffre, hermetisch abgeschlossene Bildhaftigkeit, – als Zeichen-Setzung auftritt. So sind es vor allem die Gedichte des zweiten Bandes, die hier interessieren. Auf jene, die für die erste Phase seiner Produktion stehen, wird nur, dann ausdrücklich zurückgegriffen, wo sie erste Ansätze zu der eben skizzierten Entwicklung geben.
Das Gedicht „Damals“ erschien zuerst in dem Band Chausseen Chausseen von 1963. 1967 wird es in die Neu-Ausgabe der Gedichte 1925–47 (zurück-)genommen. Das Gedicht, übrigens auch das den selben editorischen Weg nehmende Gedicht „Caputher Heuweg“, bezeichnet ineins die naturlyrische Verfahrensweise der frühen Gedichte wie die, wenn auch noch nicht explizit ausgesprochene Ankündigung des Huchelschen Sprechens als Zeichen-Setzung. Der Text lautet:
DAMALS
Damals ging noch am Abend der Wind
mit starken Schultern rüttelnd ums Haus.
Das Laub der Linde sprach mit dem Kind,
das Gras sandte seine Seele aus.
Sterne haben den Sommer bewacht
am Rand der Hügel, wo ich gewohnt:
Mein war die katzenäugige Nacht,
die Grille, die unter der Schwelle schrie.
Mein war im Fenster die heilige Schlange
mit ihren Schläfen aus milchigem Mond.
Im Hoftor manchmal das Dunkel heulte,
der Hund schlug an, ich lauschte lange
den Stimmen im Sturm und lehnte am Knie
der schweigsam hockenden Klettenmarie,
die in der Küche Wolle knäulte.
Und wenn ihr grauer schläfernder Blick mich traf,
durchwehte die Mauer des Hauses der Schlaf.4
Die Metrik des vier-hebigen Verses, von Huchel in den frühen Gedichten eindeutig bevorzugt und nur selten mit Drei-Hebern gepaart, prägt durchgehend auch dieses Gedicht. Der formale Aufbau wird vom Reim bestimmt: in freier Variation, das festliegende Schema verschiebend und auflockernd, sind Paar-Reim, Kreuz-Reim und umarmender Reim im Spiel, der Rhythmus dadurch gelassener, nicht so deutlich von den Versschlüssen her akzentuiert. Das Beschriebene des Gedichtes, prononciert verdeutlicht mit dem ersten Wort „Damals“, ist Erinnertes. Erinnerung durchzieht das Werk Huchels wie ein roter Faden:
Wo bin ich? Hier lag einst die Schoberstange.5
(…), der Sommer weht her
Vom Heuweg der Kindheit, wo ich einst saß6
Einst waren wir alle im glücklichen Garten7
Oder, in der Mahnung, zu gedenken:
Gedenke mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt8
Auch, wie in einem späten Gedicht, als Abwehr, als Schweigen, das die Erinnerung beläßt, formuliert:
Hebe den Stein nicht auf,
Den Speicher der Stille.
Unter ihm
Verschläft der Tausendfüßler
Die Zeit9
Der Zeichen-Charakter dessen, was in „Damals“ noch gleichsam erzählend ins Gedicht geholt wird, Erinnerungen, ist hier bereits deutlich: das Verrinnen von Zeit und die Unmöglichkeit, diesen Vorgang aufzuhalten, wird reduziert ins Bild gebracht, im Sprachvorgang selbst verschlossen. Der Ansatz für diese Wendung liegt schon in den frühen Gedichten und zwar überall dort, wo Erinnertes nicht beschrieben, sondern beschworen wird, liegt in der Reduktion auf magisch-formelhafte Wendungen und ihre Placierung im Gedicht an zumeist vorbereiteter Stelle. So auch in „Damals“: der Einsatz erfolgt nach der durch den Doppelpunkt geschaffenen Zäsur, steigert sich über die Verse
Mein war im Ginster die heilige Schlange
Mit ihren Schläfen aus milchigem Mond
bis hin zur Wahrnehmung („Lauschen“) der „Stimmen im Sturm“ und der Anlehnung an die „schweigsam hockende Klettenmarie“, deren Blick „schläfernd“ genannt wird, eine außerordentlich bewußt vorgenommene Verkürzung, Präzisierung des gesamten Vorgangs. In dem Gedicht „Kindheit in Alt-Langenwisch“10 findet sich die alte Beschwörungsformel:
Milch, blaue Milch, Satansmilch du
im Namen des Vaters vergeh!11
Oder auch eine Strophe aus dem Gedicht „Wendische Heide“ mag für diese Tendenz stehen:
Wendische Heide, weißes Feuer,
du Bütte Gold und Mittagsspuk,
die Grille huscht, schrillte scheuer
am Stein, der keinen Schatten trug12
„Der Stein, der keinen Schatten trug“: hier wird die Zeichenhaftigkeit des späten Huchelschen Gedichts thematisiert. Auch die in „Damals“ gleich zweimal gesetzte Versicherungsgeste: „Mein war…“ und die damit verbundene Sehnsucht, das Gewesene – wenigstens in der Beschwörung der Erinnerung – zurückzugewinnen, wieder „mein“ werden zu lassen, deutet in diese Richtung. In Abwandlung der Definition Cesare Paveses, die mythische Sehweise der Kindheit bestehe darin, „daß die Offenbarungen der Dinge in die Sphäre einzigartiger Geschehnisse emporgehoben werden; deshalb leben sie im Bewußtsein als Normenschemata der Phantasie weiter“,13 wäre, auf Huchel bezogen, zu sagen, daß die Offenbarungen der Dinge, in den frühen Gedichten beschwörend beschrieben, ins Magische, Chiffrierte versetzt, nun in die Sphäre „einzigartiger Zeichen“ gehoben werden, deren Normenschemata der sprachlichen Einbildungskraft zugehören. Diesen Vorgang reflektiert Ernst Bloch, wenn er feststellt:
… und vermutlich reicht – bereits außerhalb des lediglich nicht Abreagierten – diese Fähigkeit traumhafter Halluzination so tief herab, daß alles willensmäßig „Infantile“ in uns: das Tierische, Pflanzenhafte in unserem kompendiösen Aufbau, derart „geträumt“ im Traum bewußtseinsfähig werden könnte, sich in menschliche Erinnerungsinhalte bildhaft, symbolhaft einschlagend.14
Ingo Seidler hat im Hinblick auf diese Entwicklung und zur Charakterisierung des Huchelschen Spätwerks vorgeschlagen, den Begriff des „Imagismus“ nutzbar zu machen.15 Seidler versteht darunter, „in Vereinfachung Poundscher Thesen“, den Versuch, „einzelnen Bildern immer größeres Gewicht und immer größere Freiheit zu geben, bis solche Bilder schließlich zum einzig angestrebten Selbstzweck werden: Die Selbstherrlichkeit der Metapher geht zum Teil auf Kosten traditioneller Syntax, die bis auf Blöcke rein nominaler Nennungen abgebaut werden kann. Auch gefährdet solche Freiheit nicht selten den Gesamtnexus. Dieser kann so sehr geschwächt werden, daß der Eindruck überaus scharf gesehener, aber voneinander völlig unabhängiger Einzelbilder entsteht“.16 Dagegen ist allerdings zu halten, daß der traditionelle Metaphernbegriff, den Seidler hier im Auge hat, auch bei Huchel zuweilen nicht mehr hinreicht. Warum die traditionelle Syntax nicht abgebaut werden sollte und warum an ihre Stelle nicht Serien von rein nominalen Nennungen treten könnten, bleibt hier ziemlich unklar. Als Beleg für den Vorwurf der Privatheit, den er Huchel macht, nennt er das Gedicht „Hinter den weißen Netzen des Mittags“, in dem es etwa heißt:
(…)
Die Sterne verlöschen.
Nicht zähle die Jahre, zähle die Stunden.
Du schrittest unter Felsen den Weg.
Es wehten die weißen Netze des Mittags.
Das Gedicht schließt mit der Strophe:
Zwischen Himmel und Klippe
Die Drift der schreienden Vögel.
Ich lag am Strand,
Gefesselt im Garn der Algen,
Mit brennender Lippe
Vor einer Muschel17
Die Forderung, das Sinn-Gefüge eines solchen Gedichts zu erschließen, ist sicher legitim. Nachzudenken wäre freilich, da hier nicht nichts gesagt wird, warum gerade die Setzung und Reihung von syntaktisch übersichtlichen Aussagen – „Die Sterne verlöschen“ – „Ich lag am Strand“ – „Gefesselt im Garn der Algen“ – „Es wehten die weißen Netze des Mittags“ – sich der unmittelbaren Kommunikation entziehen. Offensichtlich unverschlüsselt, entziehen sie sich zunächst der belegenden Interpretation. Daß eine solche Interpretation – nachdem was bisher über die Entwicklung der Huchelschen Sprache aus ihren Anfängen in ein sich verstärkendes Zeichensystem gesagt wurde – erst nach Abklärung der Zusammenhänge und Bedingungen dieses Zeichen-Systems, seiner Struktur-Internität möglich wird, sollte unmittelbar einleuchten.
Der Band Chausseen Chausseen wird eröffnet durch ein Gedicht, das den Titel „Das Zeichen“ trägt:
DAS ZEICHEN
Baumkahler Hügel,
Noch einmal flog
Am Abend die Wildentenkette
Durch wäßrige Herbstluft.
War es das Zeichen?
Mit falben Lanzen
Durchbohrte der See
Den ruhlosen Nebel.
Ich ging durchs Dorf
Und sah das Gewohnte.
Der Schäfer hielt den Widder
Gefesselt zwischen den Knien.
Er schnitt die Klaue,
Er teerte die Stoppelhinke,
Und Frauen zählten die Kannen,
Das Tagesgemelk.
Nichts war zu deuten.
Es stand im Herdbuch.
Nur die Toten,
Entrückt dem stündlichen Hall
Der Glocke, dem Wachsen des Epheus
Sie sehen
Den eisigen Schatten der Erde
Gleiten über den Mond.
Sie wissen, dieses wird bleiben.
Nach allem, was atmet
In Luft und Wasser.
Wer schrieb
Die warnende Schrift,
Kaum zu entziffern?
Ich fand sie am Pfahl,
Dicht hinter dem See.
War es das Zeichen?
Erstarrt
Im Schweigen des Schnees,
Schlief blind
Das Kreuzotterndickicht.18
Das Gedicht setzt mit einem Zeichen ein: „Baumkahler Hügel“, die Entsprechung, das blind schlafende „Kreuzotterndickicht“ beschließt es. Das lyrische Ich nimmt eine Beobachterposition ein: er sieht „noch einmal flog die Wildentenkette“, im Dorf „das Gewohnte“. Dagegen steht, gleichsam ein dauerndes Gewohntes: das Wissen der Toten. Was sie wissen, wird bleiben. Dazwischen ein genau gesetztes Zeichen:
Die warnende Schrift,
Kaum zu entziffern
Sprache, kaum zu entziffern: Sprache als Zeichen. Die Zeichenhaftigkeit der Sprache als Zeichensprache der Dinge: der Bogen vom Einsatz des Gedichts: „Baumkahler Hügel“ bis hin zum Ende: „Schlief blind / Das Kreuzotterndickicht“ als Befragung der Sprache auf ihre Zeichenhaftigkeit hin, auf die Sprache der Dinge ist geschlossen.
Mit diesem Gedicht schrieb sich Peter Huchel in eine Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen erscheint, eine Entwicklung, die die Widerruflichkeit von Sprache, von Sprechen sprachlich festhält, ein Vorgang, der in verwandter Weise, aber weitaus thematisierter auch in der Lyrik Johannes Bobrowskis zu beobachten ist.
Gregor Laschen, aus Gregor Laschen: Lyrik in der DDR. Anmerkungen zur Sprachverfassung des modernen Gedichts, Athenäum Verlag, 1971
– Gehalten bei der Verleihung des Fontane Preises an Peter Huchel im April 1963. –
Mit dem Berliner Kunstpreis für das Gebiet der Literatur, der in Erinnerung an Werk und Person des Dichters Theodor Fontane den Namen Fontane-Preis führt, wurde der in Wilhelmshorst bei Potsdam lebende Schriftsteller Peter Huchel in Würdigung seines lyrischen Gesamtwerkes ausgezeichnet. (Mitglieder der Jury waren: Dieter Hildebrandt, Kurt Ihlenfeld und Rudolf Hartung.)
Sieht man von den dörflich-balladesken Hörspielen ab, besteht das Werk Peter Huchels, der zu Beginn dieses Monats seinen 60. Geburtstag beging, aus einem einzigen, hüben wie drüben vergriffenen Gedichtband; ein zweiter Band mit neuen Gedichten soll, voraussichtlich, in diesem Herbst erscheinen.
Wer das vorliegende Werk kennt, wird die quantitative Kargheit dieses Lyrikers als Zeichen für ein hochentwickeltes Verantwortungsbewußtsein verstehen: die Intention auf Genauigkeit und Bündigkeit der künstlerischen Gestalt, der beharrliche Verzicht auf jene Experimente, die spielerisch aus sich selber leben, legten diese Beschränkung auf. Was entstand, mag als Naturlyrik verbucht werden: als Versuch, das schmale und zumeist dunkle irdische Gefilde unter sommerlichem oder herbstlichem Himmel ganz zu erfassen, die treue Mühsal und die Trauer der Vergänglichkeit, das Raunen und die Stimmen in der nie preisgegebenen Landschaft der Kindheit – jener Landschaft, in der Peter Huchel nach Jahren des Reisens und nach dem Krieg wieder lebt. So ging, wenn man will, ins Gedicht Peter Huchels, in die reiche und sensible Musikalität seiner Strophen nur eine kleine, umgrenzte Welt ein; trotz jener Gedichte, welche die Landschaft der Provence oder des Balkans aufrufen, könnte man ihn fast einen Dichter der Heimat nennen –
Schön ist die Heimat,
wenn über der grünen Messingscheibe
des Teichs der Kranich schreit
und das Gold sich häuft
im blauen Oktobergewölbe.
Hinzuweisen aber ist darauf, daß das solchermaßen die Heimat rühmende Gedicht Peter Huchels immer gefeit war gegen den faschistischen Stumpfsinn von Blut und Scholle, ebenso wie gegen eine Kulturindustrie, welche das Wort Heimat hartnäckig verhunzt. Umdrängt von diesen Gefährdungen, lebt das Gedicht Peter Huchels, indem es lauter und kraftvoll die nahen irdischen Dinge aufruft, die mit uns in der Zeit sind und uns anrühren; lebt das Gedicht Peter Huchels kraft seiner suggestiven und wahren Sprache, welche alle Trennung überbrückt.
Rudolf Hartung, Hommage für Peter Huchel, Piper Verlag, 1968
Seltsam, daß gerade die Lyriker, diese angeblich doch zeitfremdesten Poeten, in Gleichnis und Bild so viel Gültigeres über unsere Gegenwart aussagen als die Romanciers in dickleibigen Büchern.
Zu dieser Feststellung kommt Walter Jens in seiner Deutschen Literatur der Gegenwart bei der Interpretation von Huchels Chausseen, und er fährt fort:
Sollte die brachylogisch-zeichenhafte Struktur der modernen Verknappungstendenz besser entsprechen als der auf Ausführungen verwiesene Roman? Die Chiffre als legitimer Spiegel dieser geisterhaft-flüchtigen, im Übergang und rapiden Wechsel begriffenen Zeit?
Peter Huchels Gedichte sind fast ausnahmslos Spiegel des Flüchtigen und der Vergänglichkeit. Von der „Herkunft“, die den Band der Gedichte eröffnet, bis zu dem „Traum im Tellereisen“, den Huchel im letzten, unter seiner Verantwortung erschienenen Heft der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlichte, stemmen sich seine Verse dem Verfall entgegen, indem sie ihn benennen.
Die Stimme wird zu Sand
Und wirbelt hoch und stützt den Himmel
Mit einer Säule, die zerstäubt.
Besser als in diesen Zeilen [aus dem Gedicht „An taube Ohren der Geschlechter“] lassen sich die paradoxen Spannungen, aus denen Huchels Lyrik lebt, kaum kennzeichnen. Sie sind geschrieben, obwohl sie mit tauben Ohren rechnen. Auch Huchels Gedichte bauen nicht mehr auf eine „Gemeinde“, kaum auf ein Gegenüber; sie sind – um Enzensbergers Rubrik aufzunehmen – „gedichte für die gedichte nicht lesen“; sie leben aus der Distanz: der zum Leser und der zu den Worten.
Gedenke derer
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Es ist, als suchten Huchels Verse immer wieder das Wort als letzte Markierung vor dem Verstummen.
TRAUM IM TELLEREISEN
Gefangen bist du, Traum.
Dein Knöchel brennt,
Zerschlagen im Tellereisen.
Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben
In regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis –
Das Schweigen.
Der Hagel meißelt
Die Grabschrift auf die schwarze Glätte
Der Wasserlache.
Die letzte Strophe, die zunächst anmutet wie eine Variation der Keatsschen Grabinschrift, ist keineswegs eine literarische Reminiszenz. Huchels Gedicht lebt aus den schroffen Antithesen. Unauslöschlich ist nur, was sich stumm vor der Welt versiegelt. Unvergessen, wie mit dem Meißel eingeschlagen, bleibt nur, was ins Wasser geschrieben wurde. Huchels Gedichte „handeln“ von der Unzerstörbarkeit des Zerstörbaren, von der Unvergänglichkeit des Vergänglichsten. Sie sind Vers gewordener Widerspruch, der sich nur in der Form löst. Huchel bannt eine zerscherbte, zerscherbende Welt in unverletzbare Formen; er überredet das Schweigen, überführt das stumm Vergängliche ins Wort, das die Dauer chiffriert, indem es sie verleugnet.
Flüchtigkeit, die sich in Form rettet – daß dies die Aufgabe seines Gedichts ist, hat Huchel oft genug selbst formuliert:
Quellwasser, auf den Boden geschüttet, hat nur geringen Glanz, in ein Glas gegossen, ist es voll Licht.
So fängt er die Wirklichkeit in den Gläsern seiner Gedichte ein, in einer Form, die das Stumpfe aufleuchten läßt. Form ist für ihn nicht nur das souveräne Wechselspiel des Reims, den er riskiert [vor der Herz-Schmerz-Banalität ebenso gesichert wie vor den gesuchten Extravaganzen des Reimlexikons). Form ist auch nicht nur der reiche strophische Vorrat, zu dem sich seine Verse zusammenschließen, als hätte es eine Krise des Gedichts nie gegeben, Form ist vor allem der „metallene Glanz“ seiner Gedichte von dem er spricht, wenn er seinen doktrinären Parteikritikern vorwirft:
Sie versuchen gleichsam mit einem Büchsenöffner den metallenen Glanz eines September-Gedichts aufzureißen, um den aktuellen Inhalt zu enden. Genau so könnte man versuchen, mit einer Sense den Abendhimmel aufzureißen.
Dieser „Glanz“ der Huchelschen Gedichte ist ihre flüchtigste, verletzlichste Eigenschaft. Er taucht seine Verse in wechselndes Licht, bannt vorüberhuschende Reflexe:
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt
In Momenten verschränken sich Dauer und Vergänglichkeit. Augenblicke werden gesammelt, aber sie weiten, sie dehnen sich in die reißende Zeit. Das Abenteuer der Huchelschen Lyrik ist die Zeit, wie in der „Landschaft hinter Warschau“, wo aus einer Momentaufnahme ein Tag vom Morgen in die Nacht stürzt als ein bedrängendes, jagendes Davoneilen, gegen das sich die letzten Zeilen stellen wie ein Damm, auf dessen Schwäche Huchel vertraut. In den flüchtigen Spuren findet das Gedicht die Chiffren dessen, was sich dem Strom der Vergänglichkeit entzieht.
Spitzhackig schlägt der März
Das Eis des Himmels auf.
Es stürzt das Licht aus rissigem Spalt,
Niederbrandend
Auf Telegraphendrähte und kahle Chausseen.
Am Mittag nistet es weiß im Röhricht,
ein großer Vogel.
Spreizt es die Zehen, glänzt hell
Die Schwimmhaut aus dünnem Nebel.
Schnell wird es dunkel.
Flacher als ein Hundegaumen
Ist dann der Himmel gewölbt.
Ein Hügel raucht,
Als säßen dort noch immer
Die Jäger am nassen Winterfeuer.
Wohin sie gingen?
Die Spur des Hasen im Schnee
Erzählte es einst.
Walter Jens hat auf den „sense of past“ aufmerksam gemacht, der den Augenblicken der Huchelschen Gedichte Kontrast gibt. „Alle leben noch im Haus: / Freunde, wer ist tot?“ heißt es in der „Herkunft“. Wendische Hirten, Mägde, der Knabenteich, polnische Landarbeiter, die toten Träume, die als Fische auf dem Grund ziehen – immer ist die Gegenwart der Verse von dem durchzogen, was war. Huchels Gedicht verfügt über die Zeiten; die Zeiten verfügen über die Gegenwart. Wo Huchels Gedicht „Jetzt“ sagt, sagt es immer auch „Einst“. Aber Huchel erschwindelt keine Wiederkehr der Mythen. Wo sie beschworen werden, verbleiben sie in der Negation, wie im „Weihnachtslied“. Sie sind erstarrt, haben ihren Sinn ausgegossen; sie vermitteln nicht, sie befremden:
Agaven heben die Lanzen,
Drücken den Essigschwamm
An den durstigen Mund des Himmels.
Huchel setzt das Hölderlinsche „Und wohl geschieden“, er überredet keine Vergangenheit zur Gegenwart. Die Mythen sind stumm, blind geworden. Huchel erzählt von ihnen wie von Abgelebtem, im Präteritum – „Hier ging Theophrast“. Er erinnert an Stimmen, von denen er weiß, daß sie endgültig verstummt sind:
Die Erde schenkt uns keine Zeit
über den Tod hinaus.
Ins Gewebe der Nacht genäht
Versinken die Stimmen
unauffindbar.
Das Etikett „Naturlyrik“, das man für Huchel bereithält, ist mißverständlich. Gewiß gelten viele seiner Gedichte den Jahreszeiten, Monaten und Landschaften, der „wilden Kastanie“, der „Sibylle des Sommers“, „Verona“ und dem „Löwenzahn“. Aber statt des beschwörenden Raunens, bei dem Merlin mit dem Zauberstab alles zu einer seligen Einheit zusammenschließt, bleibt bei Huchel die Natur in einer elegischen Distanz. Huchels „Naturgedichte“ sind sozusagen nach dem Erwachen geschrieben, sie können mit Rosmarin und Suppenkraut keine Kinderträume malen. Das Naturparadies Huchels ist ein verlorenes Paradies:
Es glänzt, armer Zyklop,
Dein ausgepfähltes Aug.
Aber du siehst
Nicht mehr
Das Schwanken der Lampe
Unter dem Karren des Bauern…
Eine ähnliche Metapher für die Blindheit, mit der die Vergangenheit geschlagen ist, findet sich in dem Gedicht „Chiesa del Soccorso. Forio.“:
Salzige Brandung,
Bist du das letzte
Erstarrte Bild,
Das aus den Augen der Toten
Die Fische fraßen mit sanftem Maul?
Huchels Dichtung berührt sich hier weniger mit der Naturlyrik Wilhelm Lehmanns als mit den Meeresgedichten Albertis, Nerudas, mit Brechts „Ballade vom ertrunkenen Mädchen“.
Huchels Gedichte reflektierten zunächst – man darf das nur nicht als versifizierte Autobiographie mißverstehen – seine Kindheit und Jugend im Dorf Alt-Langerwisch in der Mark Brandenburg. Als die Nazis auch in der Literatur ihr tausendjähriges Reich zu gründen suchten, glaubten sie, in Huchel einen Blut-und-Boden-Barden gewinnen zu können. Huchel verhinderte damals das Erscheinen des Gedichtbandes Der Knabenteich. Diese Gedichte sind nichts weniger als pseudo-romantische Verbrämungen ländlicher Schlichtheit und Einfalt, wie sie damals der Dichtung als Aufgabe zugeschrieben wurden. Sucht man nach Vergleichbarem, so lassen sie am ehesten an die Gedichte Sergej Jessenins denken, die Huchel ins Französische übersetzt hat. Wie in Jessenins Gedichten – etwa in „Keine Halme mehr“ – leben die Verse Huchels aus der Distanz, die benennt, indem sie negiert. Ihr elegischer Grundzug, das ständig angeschlagene „Nicht mehr“ wird jedoch nie romantisch betrauert, sondern konstatiert.
Daß sich Huchels Gedicht die Natur zum Thema macht, ist keineswegs eine Art von Eskapismus. Die „Modernität“ seiner Verse ist deshalb auch nicht darauf angewiesen, sich mit Neonlicht oder Autolärm modisch zu drapieren. Sie ist tiefer begründet als im zeitgenössischen Vokabular, sie ist keine Angelegenheit des Stoffs, sondern des Bewußtseins. Huchels Gedichte sprechen von einem Sturz in die Fremdheit. Sie riskieren Poesie als Abschied von der Poesie:
Dann schnitt der Pflug
Durch Asche, Bein und Schutt
Und der es aufschrieb, gab die Klage
An taube Ohren der Geschlechter.
Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen könnte, als schirmte sich das Gedicht bei Huchel gegen die Politik ab, ist sein Weg nicht der der inneren Emigration. Ein „Gespräch über Bäume“ erschien ihm nicht als gangbarer Ausweg, sondern als Verbrechen. Die „Zwölf Nächte“ sind, wie Brechts Gedichte, keine in Verse gefaßten Klagen, sondern lyrische Diagnosen eines politischen Zustands. Später, an den erforderlichen Hymnen zum „Aufbau des Sozialismus“, scheiterte Huchel wie an einem Pflichtstoff. Hofdichtung gedeiht auch an proletarischen Höfen nicht. Das „Gesetz“, das die Bodenreform zum Inhalt hat, wurde nur teilweise veröffentlicht.
Huchels Lyrik ist dort stärker „politisch“, wo sie den wörtlichen Pakt vermeidet. Sie ist es, weil sie dann ihrem Wesen nach mit der Herrschaft uneins ist und sich gegen die offiziellen Forderungen sperrt. Ihre Brisanz war ein Thema des diesjährigen SED-Parteitages. Gedichte wie die Huchels lassen sich schwer tolerieren, weil sie die Sicherheiten der Schlagworte zertrümmern, dem proklamierten Optimismus Lügen strafen. Im „Winterpsalm“ heißt es:
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Daß Huchel nicht, wie die Parteilinie es will, die Nacht schon als vergangen ansieht, darüber gibt eine an Ernst Bloch gerichtete Verszeile Auskunft:
Er ahnt, was noch die Nacht verschweigt…
Hellmuth Karasek, aus Schriftsteller der Gegenwart. Dreiundfünfzig Porträts. Herausgegeben von Klaus Nonnenmann, Walter-Verlag, 1963
Peter Huchel | Stephan Hermlin Zeitzeugen des Jahrhunderts. Literarischer Salonabend im Haus Dacheröden, Erfurt mit Lutz Götze (Manuskript) und Franziska Bronnen (Lesung).
Peter Hamm: Vermächtnis des Schweigens. Der Lyriker Peter Huchel, Merkur, Heft 195, Mai 1964
Franz Schonauer: Peter Huchel – Porträt eines Lyrikers
DU, Heft 11, November 1964
GEDICHT FÜR PETER HUCHEL
Erde, zugewiesen auf Zeit und Unzeit
damit er sie unterbringt in seinem Gedächtnis
das die Schöpfung bewahrt für einen Tag des Erinnerns
an den Ruf der Mandelkrähe
das Rollen des Meers und der Steine.
Erde, ausgeschlachtet, nachdem die Götter
abgetreten sind und Welt für Welt
in Eisen gegossen tost und schrottet; er hört
den Abruf des Meers und das Schweigen der Steine
immer mehr unbewohnbar, in dem letzten
Traum die Rufe der Mandelkrähe.
Christoph Meckel
ZEILEN AN PETER HUCHEL
Am dritten April habe ich sonst nichts vor, nur Nebelkrähen, Neuntöter und Petroleum aus dem Kaufhaus. Das ist schon genug, mein Gedächtnis ist schwach, ich muß es mir aufschreiben, oder ein Wort bilden wie Neneupe, es klingt nach einer Muse, klingt griechisch. Es ist die Muse des Gedächtnisses, die Mohnmuse könnte man sie verdeutschen. Wenn ich andere Dinge vorhätte, ergäbe sich eine aztekische Gottheit, so dumm ist mein Gedächtnis, die Ethnographie schwirrt durcheinander mit gestutzten Nebelflügeln.
Es wäre besser, ich hätte Unken vor, aber es hat sich so ergeben. Unken sind ein Leitmotiv, sie läuten, Petroleum ist zufällig. Das kommt daher, daß ich keine Ordnung in meine Zukunft bringe, alles fliegt in meinen Vormittagsrausch, ich verschlinge es, bin nicht kiesätig, das war früher. Ich weiß nicht, wie es bei dir ist. Ich esse jetzt sogar Spinat, aber lieber nicht durchgedreht.
Ein verlängerter Winter, das ist hier immer so, ein verlängerter Eisgenuß. Die Neuntöter bauen noch nicht, mit den Dachlawinen fliegen die Ziegel vors Haus, ich sammle sie für ein anderes, werde aber nicht weit genug kommen, es liegt alles zu nahe. Sonst gibt es nichts Neues, nur Datum und Jahreszahl.
PS Teile dir mit, daß der Schnee liegen bleibt.
Günter Eich
NICHT GEFÜHRTE GESPRÄCHE
Wir bescheidenen Übersetzer,
etwa von Fahrplänen,
Haarfarbe, Wolkenbildung,
was sollen wir denen sagen,
die einverstanden sind
und die Urtexte lesen?
(So las einer
aus Eulenspiegels Büchern
die Haferkörner)
Vor soviel Zuversicht
bleibt unsere Trauer windig,
mit Regen vermischt,
deckt die Dächer ab,
fällt über jedes Lächeln,
nicht heilbar.
für Peter Huchel
Günter Eich
KATZENLEBEN
Aber die Dichter lieben die Katzen
Die nicht kontrollierbaren sanften
Freien die den Novemberregen
Auf seidenen Sesseln oder in Lumpen
Verschlafen verträumen stumm
Antwort geben sich schütteln und
Weiterleben hinter dem Jägerzaun
Wenn die besessenen Nachbarn
Immer noch Autonummern notieren
Der Überwachte in seinen vier Wänden
Längst die Grenzen hinter sich ließ.
Hommage an Peter Huchel und sein Gedicht „Hubertusweg“
Sarah Kirsch
Konjunktiver Doppelgänger
(für Peter Huchel)
Vom Regen gewaschen
von Krähen geweißt
von Eidechsen besucht
so stünde ich da.
Meine unerkennbaren Schultern
trügen den Tag und die Nacht:
das wäre mein Glaube.
An meiner Oberfläche rieben sich
die Winde wund. Von mir aus
ginge ein Glitzern manchmal
und die geringfügigen Zangen
der Insekten schrieben auf mir
ihre Memoiren.
Innerlich und äußerlich
völlig gleich
insofern kein Zeitgenosse der Zeit
die an mir erst ihr Dasein erkennt
an der Verwitterung meines Gesichts
das mich zur Gänze überzieht.
Ich wäre die Wahrheit
aber erstarrt
vor dem eigenen Anblick.
Günter Kunert
Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973
Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973
Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973
hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973
Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981
Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981
Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981
Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981
Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981
Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981
Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981
Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981
Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981
Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981
Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991
Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984
Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003
Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003
Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003
Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003
Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003
Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003
Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003
Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003
Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003
Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002
Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
Manuskript
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