Peter Huchel: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Huchel: Gedichte

Huchel-Gedichte

IN MEMORIAM GÜNTER EICH

Hinfließen wird der Himmel,
aber wir werden dem Schnee,
der ins schwarze Wasser sinkt,
kein Tedeum mehr sprechen.

Ein verwüstetes Haus zwischen Himmel und Erde.
Im Torweg die Kröte,
noch immer
die goldene Krone auf dem Kopf.

 

 

 

Nachwort zur Ausgabe von 1973

… Der Dichter Peter Huchel ist der Lyriker Peter Huchel. Seine wenigen Prosa-Arbeiten, seine wenigen Hörspiele nehmen (anders als bei seinem Jugendfreund Günter Eich, anders als bei Ingeborg Bachmann) nur eine periphere Position in seinem Werk ein.
Es gibt kaum Äußerungen von ihm über ihn. Er hat eine Zeitschrift gemacht, 14 Jahre lang (und man kann bei Hans Mayer nachlesen, mit Hilfe welcher Qualitäten er sie zu der großen Zeitschrift gemacht hat, die sie einmal war: dank Sensibilität und dank Strenge, und einsam entscheidend mit der Autorität dessen, der seiner Sache sicher ist); und er hat Gedichte gemacht. Sein Lebenslauf aus dem Jahre 1931 „Europa Neunzehnhunderttraurig“ ist eine seiner kargen Selbstäußerungen, im übrigen gilt: Der „Text will für sich selber stehen und sich nach Möglichkeit behaupten gegen seine Interpreten, gegen etwaige Spekulationen, Erhellungen und Biographismen“ (So Huchel zu seinem „Winterpsalm“, in „Doppelinterpretationen, hg. von Hilde Domin, 1966). Womit er freilich, so fährt er fort, dem Interpreten nicht das Recht abspricht, „mit legitimen Mitteln den Text zu deuten und dessen einzelne Schichten aufzudecken“.
Zu solchen legitimen Mitteln gehört die Aufdeckung von Einfluß, Berührung und Verwandtschaft, von Tradition und Nachwirkung – freilich, dergleichen bringt oft nicht viel ein. Die Literaturkritik kennt zwei Huchel gewidmete Topoi: Er sei als ein Vertreter der sog. Naturdichtung zu bezeichnen; und: Es sei ein beharrlich weitergegebenes Mißverständnis, Huchel als Vertreter der sog. Naturdichtung zu bezeichnen. Mit beiden Feststellungen hat es – das ist im Bereich der Literaturkritik möglich – seine Richtigkeit.
Die naturlyrische Schule, deren Haupt in Deutschland der Lehrer und Dichter Wilhelm Lehmann war (gest. 1968), empfindet Natur nicht als Metapher und Szene, sondern sie macht sie zum eigentlichen Daseinsraum, empfindet sie als beseelt von Göttern, Halbgötttern und irdischen Wesen, strebt nahezu ein Aufgehen des Lebendigen in ihr als einer Wirklichkeit über Raum und Zeit an. Das Tellurische und Mineralische, das Pflanzen- und Tierwesen, das Lunarische und das Elementarische erscheinen als des Menschen eigentliches Element, aus dem er kam, in das er geht. Solcher Art des Dichtens und Denkens haben sich einige der bedeutendsten unserer Lyriker gelegentlich oder dauernd, locker oder intensiv verbunden gefühlt: so Günter Eich und Elisabeth Langgässer, Oskar Loerke und Oda Schaefer, Karl Krolow und Hans Henny Jahnn – und auch Huchel gehört in diesen Zusammenhang. Damit aber ist er nicht aufgeschlüsselt, und wenngleich von jedem Dichter, der Anspruch erhebt, gehört zu werden, erwartet werden kann, daß er ein Eigener ist, so ist doch von Huchel zu sagen, daß er ein Eigener immer in ganz besonders eigentümlichem Maße gewesen ist. Natürlich hat er Einflüsse aufgenommen, hat gelernt und sich bewegen lassen. Er hat die Dichtung und die Geschichte studiert, und das Reservoir seiner Verse ist der große Raum seines Gedächtnisses (s. das Augustinus-Motto zu seinem zweiten Gedichtband, S. 55), ist das Bewußtsein, in einem großen, wenngleich ständig gefährdeten Bildungs-Zusammenhang zu stehen. Aber er hat nie Moden mitgemacht – hat allenfalls Mode gemacht. Er versagt sich den Pathos-Schrei seiner expressionistischen Generationsgenossen, sein Leiden ist leise; und so fehlt ihm auch die Naturverzückung, die zur Verschwisterung mit den Elementen des Botanischen und Zoologischen drängt, und er spürt nicht den Trieb, aufzugehen in magischer und mystischer Verbindung mit den Göttern der Pflanzen und Libellen, der Kräuter und der Seen. Die Natur mit ihren Einfachheiten ist ihm von Anfang an nicht die Welt, aber die selbstverständliche Umwelt; und was geschah, das geschah innerhalb ihrer und wurde, genau und ohne Schwärmerei beobachtet, Teil des Gedichtes, das sich der eigenen Person in ihrer Herkunft zu vergewissern suchte.
Diese Phase in Huchels Dichten, die etwa die Jahre 1925 bis 1935 einnahm, ist in dieser Auswahl vertreten vor allem durch die Beispiele aus der ersten Abteilung der ersten Gedichtsammlung von 1948 (S. 7 bis 56).
Von Beginn an ist für ihn Natur kein locus amoenus, nicht Maienlust und Winterbehaglichkeit, Herbstesfülle und Sommerlicht, und nicht beseelter Mythenspielraum, sondern sie ist gewissermaßen naturgegeben, ist der Raum, in dem Leben geschieht, wertfrei fast. Klingt es einmal frohgemut, klingt es seltsam daneben:

Knaben, schön ist das Leben,
wenn es noch stark ist und gut.
Seht, wie die Lerchen schweben
spät in der Abendglut.
(„Sommerabend“, und der letzte Vers lautet dann auch: „bald ist der Sommer vorbei.“)

Wenn ein Gedicht Günther Eichs einsetzt: „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!“, so wäre der führe Huchel gewiß gleicher Meinung gewesen, aber sein anfangs ungebrochenes, fast vertrauliches Verhältnis zur Natur hätte vermutlich solche Anrufung als Stilisierung empfunden, die aus der Natur herausführt. Natur, das ist Erde, Baum, Wasser, Wind, Feuer, ist Kälte und ist Wärme, ist nicht böse noch gut, nicht Trost noch Entmutigung, sondern Herkunft und (so degeneriert das Wort auch klingen mag) Heimat. „Natur“, das ist auch die soziale Umwelt, einfache Tiere und einfache Menschen, Katze und Ziege, Magd und Schnitter, Kesselflicker, Ziegelstreicher und Hirt; ist einfaches Gerät: Sense, Kiepe und Kummet. Ein Dichter der Provinz, in solchem Sinne „provinziell“ (stellte Peter Hamm zu recht fest). Selbst wenn Frankreich, selbst wenn der Balkan das Motiv liefert.
Natur als Heimat – das freilich bleibt sie nicht. Die Entwicklung des Lyrikers Huchel („Entwicklung“ ist ein peinliches Wort, es hat etwas von Ermutigung und Anerkennung an sich und deutet hin auf ideale Ziele – hier ist es lediglich gemeint im Sinne von „Prozeß“) verleibt die Natur und ihre Elemente ein – um sie auf solche Weise zunehmend zu entsinnlichen. Sie wird zum Bild, wird zum Zeichen, wird zur Chiffre. Auch auf dieser Stufe (sie führt über den zweiten Band Chausseen Chausseen hin zu dem letzerschienenen Gezählte Tage) keine Moralisierung und Dämonisierung von Pflanze, Vogel und Eis, wohl aber ihre Nutzung zum Zwecke der Vermittlung finaler Phasen: Versteinerung, Vekrustung, Vereisung.

Novembernebel, Regen, Regen
und Katzenschlaf.
Der Himmel schwarz
und schlammig über dem Fluß.

Natur also nicht als Gegenposition menschengeschaffener Kultur. Natur nicht als mythisches Äquivalent des Individuums, nicht als das Szenarium halb menschlicher, halb göttlicher Triebmächte – sondern Natur als nature morte, Natur als Sigle der Erstarrung, als Signal des Verstummens. Nicht Kulisse der Stimmung, sondern Materie der Entsprechung. Natur, die sich vor sich selbst zurückzieht, in sich selbst einnebelt und verfrostet – als Entsprechung von Endzeitgedanken.
Aber auch da ist Landschaft, wo Huchel Zeit als Gegenwart erlebt, wo er das Aktuelle, das Politische in die Dimension des Geschichtlichen steigert: in den Gedichten „Deutschland“, „Rückzug“, „Griechischer Morgen“ der Sammlung von 1948; im „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“, im „Treck“ oder im „Winterquartier“ (aus dem Band Chausseen Chausseen): auch hier ist Natur, auch hier gibt es die Elemente in Formation und Deformation: Terre des Hommes.
Freilich sind es andere Stimmen als die der Naturlyriker, die durch diese Verse hindurchklingen in Klage, Verzweiflung und Anklage: Stimmen der Gryphius und Hölderlin, Trakl und Brecht…

Peter Wapnewski, aus dem Nachwort zur Ausgabe von 1973

Zu dieser Auswahl und ihrer Erweiterung

Als 1973 die Ausgewählten Gedichte erschienen, gab es Huchels letzten Gedichtband noch nicht: Die neunte Stunde, Frankfurt/Main bei Suhrkamp, 1979. Das bedeutet: die vorliegende Neuausgabe verdankt ihren erweiterten Umfang vor allem der Aufnahme von 19 Titeln aus den insgesamt vierzig Gedichte umfassenden letzten Band.
Darüber hinaus fanden nunmehr noch drei Stücke aus Chausseen Chausseen (von 1963), fünf aus der Sternenreuse (von 1967) und vier aus den Gezählten Tagen (von 1972) zusätzlich Aufnahme. Was dazu führte, daß während der Auswahlarbeit eine triviale Erfahrung sich dringlich wiederholte: der Zweifel an der Verbindlichkeit des elegierenden Verfahrens. Intensiver noch als vor 16 Jahren irritierte der Verdacht, daß nahezu jedes Gedicht auch durch ein anderes, ein benachbartes aus dem gleichen Kontext und der gleichen Phase von Huchels Dichten hätte vertreten sein können. Ein Verdacht, der kompensatorisch zumindest annähernd beschwichtigt wurde durch die Einsicht, die jede nachhaltige Beschäftigung mit Huchels Werk letztlich hinterläßt: die Erfahrung von dessen motivischer Kontinuität, von der Zeitlosigkeit der dieses Dichten und Denken beherrschenden Chiffren. Mag in der Frühzeit die unmittelbare (nicht also die metaphorisch genutzte) Beziehung zur organischen Natur, zu Pflanze und Tier, sinnlicher, handfester spürbar sein als in späteren, sich zunehmend der symbolhaften Erhöhung der Worte widmenden Stadien, so bleibt doch grundierend der Orgelpunkt stehen: der Ton der endlosen Trauer über die große Kälte, über die Hitze des Verdorrens, die Verödung und den steinernen Frost, über Verfall und Verwesung und den das Menschenwesen stigmatisierenden Mangel der sinngebenden Signale. Unauslöschlich der Zweifel an der Lesbarkeit der Welt. Der Gesang dieses Lebens ist einer der stummen Klage, des Leidens unter dem Gesetz der Verdammung des erlösungsbedürftigen Menschen zur Unerlösbarkeit. Trauer, die nicht Halt bietet, in der sich einzurichten verwehrt ist: „Unbewohnbar die Trauer, / die an den Klippen verebbt“ („Schottischer Sommer“, S. 138)
Es kann nicht überraschen, daß in dem Alterswerk der Neunten Stunde – dessen Titel, dem gleichnamigen Gedicht entnommen, Christi Passion, seinen Todesschrei und das zerreißen des Tempelvorhangs auffängt, und ins Visionäre transponiert – die alten Motive dunkler noch getönt, vorherrschender noch instrumentiert sind als in dem vorausgehenden Werk. „Resignatio ist keine schöne Landschaft“, notierte sich einst der junge Gottfried Keller während der Arbeit an seinem Grünen Heinrich auf dem Löschblatt. Resignatio ist die Landschaft, in deren Formationen sich Huchels Verse von früh an entfalteten und darin sich die Frage nach ihrer ästhetischen Funktion nicht mehr stellt. In der Spätphase ist ihre dunkle Tönung dominant geworden. Wo aber sie Milde auszuströmen scheint und Ruhe, handelt es sich um die Gelassenheit eines sich selbst aufgebenden Bewußtseins, dem alles, was Menschenlos bestimmt, entglitten ist in Gleich-Gültigkeit: „Mein ist alles, sagt der Staub“ („Das Grab des Odysseus“, S. 131): Cinis – et nihil.
Jenseits solcher gesetzhaften Gebrechlichkeit der menschlichen Natur und der vanitas des Menschenwesens verhält in unwandelbarer Statik die Natur als kosmischer Raum. Nicht der einzelne Bau, nicht die Frucht, die Pflanze – wie oft in ihrer einzigen Art auch besungen oder beschworen von Huchel −, sondern Natur als Elementargesetz, als Kontinuum, unberührbar durch den Menschen, und ihn nicht berührend:

Die See schreibt
in der Schrift der Algen
die letzte Seite des Logbuchs
auf salzige Felsen −
verleugne die Heimkehr,
sei unterwegs
auf Meeren mit stürzendem Himmelsstrich,
wo jeder Name verlorengeht

Der Mensch, der Vergeblichkeit ergeben. Was als Spur bleibt, ist ein flüchtiger Einklang mit der unmenschlichen Natur:

Der Fremde geht davon
und hat den Stempel
aus Regen und Moos
noch rasch der Mauer aufgedrückt.
(„Der Fremde geht davon“, S. 150)

Der Versuch, quia absurdum immer wieder unternommen, das Ungesagte und das Unsagbare zu sagen. Sisyphus in dem Glück seines Elends. Die letzten Gedichte lassen die Frage zu, ob über sie hinaus überhaupt noch etwas hätte gesagt werden können, ob hier nicht das Wort an seine letzte Grenze gestoßen ist in seinem störrischen Willen, das Unfaßliche zu fassen.
Das Spiel ist die Kerzen nicht wert: Es ist – natürlich – kein Zufall, daß die große Lyrik deutscher Sprache in diesem Jahrhundert nicht als ein Sang in glaubensfroher Zuversicht tönt: George und Rilke noch im antizipierenden Gestus, dann die dunkle Summe ziehend Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann, Paul Celan – und Peter Huchel. Ihre Verse nehmen Not und Wunden, die Schmerzenslast dieses unseligen Saeculums auf sich – nichts rechtfertigend als des Menschen Bedürfnis, sich seiner selbst zu vergewissern in der großen Ungewißheit, sich zu begreifen im Chaos des Unbegreiflichen.

Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegt weniger in dem, was sie aussprechen, als darin, daß es ihnen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen. Hoffnung ist am ehesten bei den Trostlosen. (Theodor W. Adorno, Minima Moralia)…

Peter Wapnewski, aus dem Nachwort zur Neuausgabe

 

Peter Huchel (1903–1981)

Zählt zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern der Gegenwart. Die Auswahl aus dem Gesamtwerk zeichnet den Weg des Dichters durch fünf Jahrzehnte nach – von der geschlossenen zur offenen Form, vom freigebig benutzten zum extrem verknappten Bild.
„Das Jahr ist Winter, der Tag ist Nacht, die Luft ist Regen, die Sonne ist staubig, der Vogel die Krähe, die Erde der Sand, der Sand öde… Wohin er sieht offenbart sich ihm, was der Prediger Salomon gesehen hat. Huchel ist kein Prediger. Seinen Beruf erfaßte man einst unter dem Begriff des ‚Sängers‘. Dieser hier, behaust in der Zone des Schmerzes, singt ‚mit einer Distel im Mund‘.“ Peter Wapnewski

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1989

 

Peter Huchel: Gedichte

Als Zeugnisse für die Lebendigkeit des deutschen Gedichtes in einer Epoche, die sich das Große zwar vornimmt, über das Mittelmäßige jedoch selten hinausgelangt, werden die hundert Seiten dieser Gedichtsammlung stets von besonderer Bedeutung sein.
Es gibt kein mittelmäßiges Gedicht in diesem Bande. Die Auswahl ist nach strengen künstlerischen Gesichtspunkten getroffen; und nicht durch Überfülle, sondern durch inneren Reichtum und die Geschlossenheit des einzelnen Gedichtes wirkt das Buch. Jedem einzelnen dieser Gedichte liegt ein tiefes und ursprüngliches Gefühl für das Menschliche und Kreatürliche zugrunde, und so echt wie die Dinge empfunden sind, auf so bewunderungswürdige Weise gelangen sie zur Darstellung; sie empfangen das Leben noch einmal, und alles: Klang, Rhythmus, Metrum, Metapher, wirkt mit, sie in ihrer großen bedrängenden Realität zu fassen. Es ist Verzauberung und Entzauberung zugleich.
In den einzelnen Strophen ist das Ganze enthalten, und alle Gedichte zusammen bilden ein großes Gedicht, ein Gedicht von der Welt, in dem alles anklingt, was uns an ihr freut und womit sie uns quält, unsere Hoffnungen nährt und unsere Pläne vereitelt. Es sind fast ausschließlich einfache und schlichte Urmotive, von denen diese Dichtungen ausgehen, Kindheitserinnerungen, Landschaftserlebnisse, Krieg und Zusammenbruch, aber gerade in der Beschränkung der Thematik, die nur das wirklich Erlebte einbezieht, zeigt sich die Kunst des Dichters. Man erleidet und genießt diese Gedichte, wie man bedeutende Schicksalstage erleidet und genießt. Sie enthalten kein in Reime gegossenes Parteiprogramm, keine Anweisungen zum seligen oder unseligen Leben, sondern sind selbst Leben und Dasein und Natur.
Es sind große realistische Gedichte, wie man sie selten in solcher Vollendung zu lesen bekommt: nirgends ein Mißklang, nirgends bloße formalistische Spielereien, hergeholte Worte, verschrobene Metaphern, dunkle Symbole und was sonst noch alles aus den Reimschmiedewerkstätten des Dilettantismus stammt. Nichts von alledem bei Huchel. Aber auch die Kaffeekränzchenwärme dichtender Tanten nicht oder der Lärm lyrischer Geräuschkulissenverfasser. Sondern: die alte Welt in neuen Bildern. Und das ist vielleicht die kürzeste Formel, auf die sich der Inhalt dieses Gedichtbuches bringen läßt. Denn jeder Dichter, sofern er diesen Namen verdient, schafft die Welt neu und läßt uns die unwiederbringliche Einmaligkeit der Dinge mit der gleichen Intensität erleben wie ihren inneren Zusammenhang mit dem Ganzen. Er macht ihre individuelle Physiognomie sichtbar und zeigt uns das Urphänomen, das ihnen zugrunde liegt. So steht ein besonderer Herbst im Gedicht für tausend andere Herbste, und nur wo dieses wunderbare Gleichgewicht zwischen Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit sich einstellt, darf von großer Kunst gesprochen werden.
Peter Huchel ist einer von den wenigen zeitgenössischen Lyrikern, denen dies gelingt. In seinen Gedichten ist die Welt in ihrer ganzen tragischen Zerrissenheit unmittelbar gegenwärtig. Ohne das abgenutzte und abgegriffene Vokabular der sozialen Lyrik zu gebrauchen, spiegelt sich in seinen Gedichten die gesellschaftliche Situation des heutigen Menschen, und was er über Deutschland und seine Verhängnisse, über Krieg, Rückzug und Heimkehr auszusagen weiß, ist zwingend. Und erschütternd ist die Frage, ob der Dichter den Ölbaum, das Wasser, die Kraft des Halmes preisen dürfe – „eh nicht der Mensch den Menschen erlöst“? Das ist die Frage, die heute eine ganze Welt bewegt, und wenn Huchel darauf keine programmatische Antwort gibt, so hat er sie mit seinen Dichtungen schon längst überzeugend gegeben – als ein Mensch, der den Krieg und die Mächte der Vernichtung verabscheut und das Leben wie einen alten Birnbaum liebt.
Selten ist der Herbst, ist die Fruchtbarkeit der Erde schöner gepriesen worden als durch ihn. Aber so lange der Mensch sich seine Herbste selbst verdirbt, hat der Dichter das Recht zu tiefer, freudloser Melancholie, und seine Einsamkeit wird nie ein Ende haben, wenn nicht aus Unsinn endlich Vernunft und aus Plage Wohltat wird. Huchels Gedichte bestärken uns in dieser Hoffnung. Sie sind eingebettet in den großen Strom der humanistischen deutschen Dichtung, von Vorbildern nicht frei, aber keineswegs abhängig: Schöpfungen eines Dichters.

Herbert Roch, Ost und West 3, Heft 5, 1949
(Diese Rezension bezieht sich auf Peter Huchels Band Gedichte von 1948 bzw. 1949.)

 

Eine Freundschaft

Die Erde fühlend mit jeder Pore
Hörte ich Disteln und Steine singen.

In mehreren Sommern der dreißiger Jahre, zuletzt im Juni 1939, verbrachten Peter Huchel, mein Vater und Günter Eich ein paar Wochen in Poberow an der Ostsee, in einem Bungalow, der Günter Eich gehörte, Typ eines Sommer- oder Ferienhauses, nicht bewohnbar im Winter, ein auf Betonfundament errichteter, barackenartiger Holzbau mit Kabinen und einer Diele. In diesen Wochen wurde Ringtennis gespielt und gearbeitet. An den Abenden zeigte man das am Tag Geschriebene und sprach die Arbeiten für den Rundfunk durch. Peter Huchel lehnte es ab, seine Verse zu sprechen, und man kam überein, die Gedichte zu zeigen, nicht laut zu lesen. Günter Eich und mein Vater verdienten das meiste Geld – nicht immer gutes Geld für gute Texte – am Berliner Funk, der seit 1933 den nationalsozialistischen Richtlinien folgte. Günter Eich schrieb Hörspiele und Hörfolgen, mein Vater Feuilletons und Rezensionen über Autoren der NS-Zeit, Busse, Burte, Kolbenheyer. Peter Huchel schrieb Hörspiele und Funkbearbeitungen preußischer und märkischer Stoffe, er hatte mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun. Günter Eich galt als undurchsichtig, „kleinbürgerlicher Chinese“, und war wie mein Vater durch die Landschaft seiner Herkunft geprägt. Peter Huchel hatte in diesen Jahren etwas von einem aufgeklärten märkischen Heimatdichter. Die Freundschaften stimmten überein, man war am Zeitgeschehen kaum orientiert und die gegenseitige Kritik hielt sich in Grenzen. Keine Debatten über Politik Peter Huchel war der von den Freunden anerkannte Dichter mit dem fertigen Gedicht und dem starken eigenen Ton. Sein Bereich, auf Landschaften, Ortschaften, Geschichte und Menschen der Mark gegründet, war fest umrissen, frühes Eigentum. Westliche Kritik versuchte später, ihn auf „Naturlyrik“ festzulegen, auf Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann, und die östliche unterbot ihn mit ideologisch-humorlosen Atemkontrollen – umsonst. Er war der nicht bürgerliche Einzelne, der Unabhängige von Anfang an, und er war der überzeugte, von Gefühl und Erfahrung bestimmte Linke, der einzige unter den Freunden der dreißiger Jahre (zu denen auch Martin Raschke und Horst Lange gehörten), und später der einzige, der eine literarisch-politische Position einnahm. Es ist denkbar, dass ohne sie und die für ihn verheerenden Folgen, die ihn zum öffentlichen Fall machten, sein Gedicht heute nicht mehr wahrgenommen würde. Andere Lyriker verfügten über Vokabular, Peter Huchel war im Besitz eines Wortschatzes, der sich später erweiterte, doch ungewöhnlich fest und intensiv auf seinen Grundbestand beschränkt blieb. Mit seinen Worten „Reuse“, „Eis“, „Nebel“, „Brache“, „Öde“, die an Dichte und Zauber nie verloren, unerschöpflich blieben, magisch erschienen, baute er die Haupträume seines Welthauses bis zuletzt.
Sein einziger Gedichtband für zwei Jahrzehnte – Gedichte – 1948 im Aufbau-Verlag erschienen, stand in der Bibliothek meines Vaters in Freiburg neben frühen Veröffentlichungen von Stomps, Eich, Süßkind, Raschke, Lehmann, Lange und Britting mit der Widmung „Für Eberhard Meckel, Ihr ergebener Peter Huchel“ und war für mich ein Schatzkasten der Nachkriegszeit, ein Buch, das ich gewissenlos an mich nahm, das erste Buch, das ich stahl (bräunlicher Pappband, holzhaltiges Papier der russischen Zone). Ich liebte Peter Huchels ländliche Welt und glaubte die Verse wie kein anderer zu kennen. Sie gehörten mir. Ihr Ton erschien mir reich und rein, vor allem echt (was ich in den Versen meines Vaters vermisste). Ich verschwand in die nahe, dichte Intimität ihres Klangs, warm wie Laubmulde und Schober, betörend wie nirgends sonst in der Lyrik der Zeit. Die Reime waren einfach, genau und fest gefügt wie Dachbalken, wie Fachwerk, oder beiläufig zusammengekommen wie im Winter abgefallene Zweige des Nussbaums. Alt waren die Gegenstände in dieser Musik, Häuser und Bäume, Wege und Wasser, Tisch und Kessel. Die Tonart der Gedichte war selbstverständlich, immer dieselbe, als sei sie schon immer vorhanden gewesen, und selbstverständlich in ihr war die Wärme des Sommers, Licht und Luft heißer Tage im Flussand. Im Vers keines andern war der Frost so kalt, der Nebel rauchend über See und Ried, und kein Himmel so öde wie der Himmel der Mark in diesem lyrischen Raum. Die Temperaturen der Natur und der Jahreszeit, Gold des Herbstes und November der Seele, waren unmittelbar in Klang und Strophe verwandelt, und im Zyklus „Der Rückzug“ gestaltet aus dem, was mir aus der Kindheit unheilbar vertraut war: Zerstörung durch Krieg. Das Haus war verletzt, der Wald, der Mensch und die Luft. Peter Huchels Kriegsgedichte (und wenig später jene von Günter Eich) waren für mich die ersten Signale – ich war vierzehn Jahre alt −, dass das Entsetzen gestaltet werden konnte, von Peter Huchel gestaltet worden war. „O Nacht der Trauer, Nacht April, / die ich im Feuerdunst durchschwamm“ – ich stellte mir vor, dass Peter Huchel, um sich zu retten, mit Trümmern und Toten durch schwarzes Winterwasser geschwommen und unter kahlen Weiden an Land gegangen war.
Die Freundschaften begannen in Berlin, zu Beginn der dreißiger Jahre. Man besuchte Peter Huchel in Michendorf, fuhr im DKW meines Vaters (Günter Eich besaß dasselbe Modell) durch die Mark in den Spreewald, nach Wiepersdorf, und traf sich regelmäßig in Kneipen am Alexanderplatz. Die Autofahrten zu Martin Raschke nach Zinnwald – durch Sachsen, Mainfranken und an die Oder wurde später – tempi passati! – zur Erinnerung an die letzten guten Jahre und den Rest der Jugend! Ideologie war weiterhin kein Grund zur Auseinandersetzung. Man empfand einander – nach einem Wort Günter Eichs – als „selbstverständliche Menschen“. Ein paar Jahre bewohnten Peter Huchel und mein Vater mit ihren Frauen und den ersten Kindern nebeneinander liegende Wohnungen am Laubenheimer Platz, der als „Künstlerkolonie“ zur Legende wurde (die Razzien der so genannten „Kristallnacht“ begannen in diesem Bezirk). Dort hatten Tucholsky und Hannah Arendt gewohnt, dort lebten Wolfgang Weyrauch und Martin Kessel. Peter Huchel hatte kein Geld, war oft verschuldet, liebenswürdig, zu Trägheit neigend und laisser faire (was manchen in der Illusion bestärkte, mit ihm befreundet zu sein), ein Bohemien, der die Tür seiner Wohnung nur auf Klingelzeichen hin öffnete.
Die Freundschaft rettete einmal Günter Eich. Man traf sich wie gewohnt in einer Berliner Kneipe und Günter Eich erschien dort mit dem Parteiabzeichen sichtbar an der Jacke. Peter Huchel und mein Vater lachten ihn aus (beide erzählten gleichlautend dasselbe), sie lachten ihn einfach aus und Günter Eich gab das Abzeichen an die Partei zurück.
Ich fand es eigenartig, dass diese Dreißigjährigen – die Frauen hatten an der Freundschaft teil – an einem förmlichen Sie festhielten, einander Huchel, Eich und Meckel nannten, ihre Vornamen nie gebrauchten. War das Zurückhaltung? Förmlichkeit aus Konvention? Ausdruck von Wertschätzung? Bescheidene Aufwertung, die man als Autor beanspruchen konnte? Als Peter Huchel, dreißig Jahre älter als ich, mir das Du vorschlug, war das keine Überraschung, weil Sie zum Hindernis geworden war.
Nach dem Weltkrieg wurden die Freundschaften nicht erneuert und nicht fortgeführt. Verbindungen blieben erhalten, man traf sich einmal in zehn Jahren, begegnete einander in München, Freiburg und Ostberlin, hatte aber in der literarischen und politischen Gegenwart, in BRD und DDR, nicht viel miteinander zu tun. Zwischen Peter Huchel und Günter Eich kam es, auf einer Tagung der Gruppe 47, zu vehementen Zerwürfnissen über der Frage, was Sprache der Dichtung in Staat und Gesellschaft zu sein oder nicht zu sein habe. Nach Jahren versöhnte man sich und widmete Gedichte. Peter Huchel:

− Wir werden dem Schnee,
der ins schwarze Wasser sinkt,
kein Tedeum mehr sprechen

Günter Eich:

Vor soviel Zuversicht
bleibt unsere Trauer windig,
mit Regen vermischt,
deckt die Dächer ab,
fällt über jedes Lächeln,
nicht heilbar.

Immer freute mich, zu erfahren, dass Peter Huchel ein großzügiger Mensch war, in den Zwängen der DDR kam das selten zum Vorschein. Er verzieh meinem Vater manches „Mißverständnis“ und verhalf ihm zu Veröffentlichungen, die ohne Huchels Befürwortung nicht möglich gewesen wären.

Indianersommer
Staubfäden, Sonnen
Gold aus chinesischen Schatzkammern
für den Feierabend des Königs
das Recht zu träumen
und nirgend sein
und der Schlaf im Laub
alte Verwunschenheit, bescheiden, für nichts
und wieder nichts
und eine Katze
die im Pantoffel des Königs schläft.
für Peter Huchel 20.2.1981 Firenze, San Martino

Christoph Meckel, aus: text + kritik – Peter Huchel Heft 157, edition text + kritik, Januar 2003

3.3 Exkurs: Natur als Zeichensystem bei Huchel und Arendt

In „Das Gesetz“ (1952) bearbeitet der Mensch die Natur, arbeitet mit und in ihr, prägt ihr sein Zeichen ein. („O Gesetz, / mit dem Pflug in den Acker geschrieben, / mit dem Beil in die Bäume gekerbt!“)1
Die Natur ist in Huchels Gedichten immer Zeichenraum. Jedoch gibt sie nicht Zeugnis, wie etwa in der Romantik von der inneren Befindlichkeit des Betrachters und seinen Projektionen, sondern scheint auch ohne ihn eingefügt zu sein in ein Zeichensystem, das der Betrachter zwar als solches wahrnimmt, aber nicht in sein eigenes Zeichensystem übertragen kann. 

[…]
Weltalte Schrift,
Weltaltes Zeichen,

[…]
2

Christof Siemes spricht von drei Variationen, die diese Verbindung von Natur- und Schriftmagie eingeht. „1.) Natur selbst schreibt Zeichen; 2.) Natur spricht; 3.) Natur schweigt.“3 Durch die Analyse von Huchels „Das Gesetz“ können wir eine weitere Kategorie ergänzen. 4.) Der Mensch schreibt Naturzeichen.
Mißverständlich wäre es sicherlich, dabei von Geschichtsoptimismus zu sprechen. Zwar liegt in der Heilserwartung für die kollektive Entität des Volkes ein utopisches Element, das zielt aber nicht auf historische Progression, sondern auf ein Eins-werden von Mensch und Natur in einem gemeinsamen Zeichensystem. Diese utopische Tendenz findet keine Fortsetzung in Huchels Werk. Statt dessen läßt sich nur noch die Signifikanz der Natur beobachten, die Deutungssuche bleibt erfolglos, heuristisch:  

Die Öde wird Geschichte.
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
In den Sand.

(„Psalm“)4

Christof Siemes folgert, daß die Schrift, die von der Natur selbst geschrieben wird (seine erste Variante), entschlüsselbar ist.5 Meines Erachtens bleibt die Schrift selbst unentschlüsselbar; verständlich ist nur der literarische Topos als der sie fungiert. So wird in „Winterquartier“ die Spur des Huhns auch nicht als Zeichensystem gelesen, sondern nur durch eine weitere Metapher gedeutet.
Mit dem Topos der (un)lesbaren Tierspur nähert sich Huchel aufs Neue der dichterischen Praxis Lehmanns: 

Die Signatur
Damastner Glanz des Schnees.
Darauf liest sich die Spur
Des Hasen, Finken, Rehs,
Der Wesen Signatur.

In ihre Art geschickt,
Lebt alle Kreatur.
Bin ich nur ihr entrückt
Und ohne Signatur?
[…]
Die leisen Stimmen wehn
Aus den verzückten Höhn
Ein Cembalogetön.
Die Vogelkreatur,
Kann ich sie hören, sehn,
Brauch ich nicht mehr zu flehn
Um meine Signatur
.6

Beide nutzen den Topos mit anderer Absicht: Bei Lehmann ist die Versenkung in die Natur und das Aufgehen des Betrachters in ihr Ziel und Konsequenz der Signatur-Vorstellung. Bei Huchel ist das Individuum der Außenstehende und Außenbleibende: Die Zeichenhaftigkeit der Natur bedingt die existentielle Erfahrung der Differenz. Der Bildvorrat der huchelschen Lyrik konzentriert sich seit den sechziger Jahren um die Naturschrift Metapher.
Huchels Naturkonzept besteht vor allem in dieser Zeichenhaftigkeit der Natur. Axel Vieregg sieht den Ursprung dieses Naturkonzeptes in der Natursprachenlehre des Mystikers Jacob Böhme.7 In Böhmes Vorstellung spricht jedes Ding eine von Gott gegebene Natursprache und weist auf verborgene Bedeutung. Die Aufgabe des Beobachters ist es, aus der Signatur (alle sinnlichen Qualitäten) eines Dinges, Rückschlüsse auf dessen Wesen zu ziehen. Wenn er den richtigen Zugang findet, bringt er die Natur zum Sprechen.8 Siemes kritisiert an Viereggs These, daß dieser Huchels Zeichensprache in Anklang an Böhme als theologisches Konzept („Vergötterung der Erde“)9 sieht und nicht als ästhetisches. Denn Huchels Naturkonzept hat auch in der Lyrikgeschichte poetologische Vorgänger, die sich aus der theologischen Natursprachenlehre entwickelt haben. Zu denken ist zum Beispiel an Brackes Topos vom Buch der Natur bis zu Hölderlins Gottferne des Menschen, als deutungsloses Zeichen. Gerade der Zeichenbegriff bei Hölderlin scheint mir ein essentieller Hintergrund für die Zeichen-Metaphern bei Huchel und Arendt zu sein. In „Patmos“ heißt es:

der Vater aber liebt,
Der über allem waltet,
Am meisten, daß gepfleget werde
Der veste Buchstab, und Bestehendes gut
Gedeutet.
Dem folgt deutscher Gesang
10

Auch der Fliegende, der Dichter in den „Flug-Oden“ steht in der Tradition dieses Gesangs: „du lasest die Zeichen“11 – jedoch sind die Zeichen schon fraglich geworden – „dies rührende Zeichen […] für wen?“12 und „Wo […] war das alte Zeichen der Menschen, ihr Licht?“13 Ein hinter den Zeichen stehender Gott ist nicht mehr zu belangen, aber auch die Säkularisierung des Buches der Natur bis zur Apotheose des Individuellen, wie in der Romantik (In der Natur findet sich nicht ein Gott, sondern das, „was du selber in sie geschrieben“ (Schiller)),14 ist keine Alternative.
Diese längst fällige Distanzierung von der einseitigen Definition des Werkes und der Metaphern als Privatreligion,15 ermöglicht ein Verständnis für das, ab den sechziger Jahren eintretende, und überall herrschende Schweigen der Natur in Huchels Werk.

Die Seekarten schweigen.
Es schweigt
die Muschel
am Nacken des Steins.

(„Venedig im Regen“)16

Wohin sie gingen?
Die Spur des Hasen im Schnee
Erzählte es einst.

(„Landschaft hinter Warschau“)17

Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben in regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis –
Das Schweigen.

(„Traum im Tellereisen“)18

Schneenarben an den Felsen,
Schriftzeichen, nicht zu entziffern.

(„Im Kun-Lun-Gebirge“)19 

Im theologischen Modell Viereggs steht diese Häufung der „leeren Transzendenz“20 im Spätwerk Huchels zwangsläufig für das Scheitern der Privatreligion:

Mit der Stellung des Individuums vor der Vergänglichkeit aber kommen wir zu Huchels Alterswerk und zu der Frage, die dieses an ihn stellt: kann Huchel die umrissenen Grundpositionen seines Werkes, antichristliche Revolte und Vergötterung der Erde, bis zum Ende aufrechterhalten? Wie weit trägt, so müssen wir fragen, eine solche Privatreligion ihren Schöpfer angesichts des Todes, um den alle seine späten Gedichte kreisen? Um die Antwort vorwegzunehmen: sie trägt nicht, so wie auch Hölderlins Privatmythologie diesen zum Schluß nicht mehr trug.21

Zu fragen wäre allerdings ebenfalls, ob hier tatsächlich Huchels Privatreligion an ihre Grenzen stößt, oder nicht eher das Modell der Privatreligion als Schlüsseldeterminante für Huchels Werk. Gleiche beziehungsweise ähnliche literarische Bilder müssen nicht unbedingt gleich bedingt sein, zeigen aber, daß Tropen ihre Begründung in unterschiedlichen Sphären haben. Denn eine Abkehr von Böhmes Natursprachenlehre scheint als Begründungszusammenhang bei dem folgenden Gedicht (1963) von Erich Arendt doch sehr weit hergeholt:

DAS FENSTER

Ich löste die Spange
am Mantel der Nacht:
Nackt glänzte,
Schlangengeäder, die Schulter
des Marmors, naxisch.
Alte wirrende
Wasser! Handloses
hob die Welle. Traum-
hieroglyphe im Sand: Der
Vogelfuß. Schweigender Tanz
eines Flügelpaars. Schatten.
Von fern-
gesichteter Insel – tausend
im Meer – schmal, schwimmend
des Spätmonds
zitternde Schrift,
undeutbar. – Im Schwarz
eines Fensters
die Doppelbrust, hell, ihr
kretischer Leib, stumm
die Locken, der Nackensturz
nah:
aaaaaEs glühte wie Atem
aaaaadie Spange in meiner
aaaaageschlechtlichen Hand
.22

Während in Huchels Gedichten die Naturzeichen und deren ausbleibende Deutung im Zentrum des Gedichts stehen, von dem sich seine Spannung herleitet und sich seine Bedeutungshöfe aufbauen, sind die Schriftmetaphern in diesem Gedicht von Arendt deutlich eingebunden in einen semantischen Kontext, der zwar innehält beim Schweigen der Schrift, aber schließlich andere Objekte der Konzentration findet. Die Stimme des Gedichts deutet weder die Naturzeichen, noch legt sie ihre eigene Stimmung in sie, nur um sie dann wieder zu entdecken. Die besondere Aufmerksamkeit des lyrischen Ich führt nicht dazu, daß es die Naturdinge zum Klingen bringt, das Wesen hinter der Signatur erkennt, sondern dazu, daß es ihm überhaupt möglich ist, Natur bedeutungsgeladen zu erfahren. Dabei relativiert sich das Gedicht selbst: nötig ist nämlich dafür ein exzentrischer Zustand, eine Traumsequenz. Die Intensivierung des Erlebens, die sich in Sprache ausdrückt, läßt den Dichter nicht zum Auguren werden. Insofern ist die Verweigerung der Naturdeutung ein Reflex auf die romantische Natursprachenkonzeption. 

Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort
.23

Im Rahmen des Vergleiches der Werke von Celan und Arendt mutmaßt Wolfgang Emmerich, daß Arendts Poetik vielleicht sogar diesem Vierzeiler von Eichendorff nahe stünde.24 (Einem Konzept, dem Huchel in seinen Gedichten bis in die fünfziger Jahre durchaus verpflichtet ist.) In diesem Gedicht grenzt Arendt sich aber gerade von der romantischen Auffassung ab: Die Euphorie des lyrischen Ichs wird im Gedicht nicht mehr durch das Zauberwort ausgelöst. Natur wird noch als zeichenhaft erfahren, ohne daß das Schweigen dieser Zeichen als Verlust betrachtet würde. Siemes spricht von einer „im Gedicht geleistete[n] Reflexion auf die eigene dichterische Weltdeutung und deren Legitimation.“25 Dies gilt auch für das Erkenntnisinteresse des Gedichts von Arendt. Was sich unterscheidet, ist die Erkenntnis selbst:

Huchel erreicht in seinen selbstreflexiven Gedichten einen äußersten Punkt: Der Dichter schreibt der Natur etwas zu (Zeichen zu sein), das für ihn selbst unausdeutbar bleibt. Das ist die letzte Bedeutung, die Huchels Naturgedichte vermitteln: daß die Projektion der Kunst auf die Natur keine Bedeutung mehr vermittelt. Damit wird das Gedicht nicht überflüssig, im Gegenteil. Denn diese Grenze des Gedichts kann nur in ihm selbst ausgedrückt werden; sie immer wieder sichtbar zu machen und bewußt zu halten, bleibt eine unabschließbare Aufgabe.26

Implizit spricht auch Arendts Gedicht von dieser Grenze, die zur Basis des Sprechens wird. Huchel schreibt hingegen immer wieder zu dieser Grenze hin (nicht gegen sie an). Nach Siemes Schlußfolgerung sprächen Huchels Gedichte aus einer passiven Haltung, wären fixiert auf dieses eine Projekt, nämlich die Grenze und nicht die Möglichkeiten der Poesie aufzuzeigen. Huchel nimmt die eigenen Voraussetzungen seiner Lyrik im Gedicht selbst zurück: Der Dichter ist kein Augur, der die Natur deutet. Die Natur gibt keine Antwort – aber genausowenig gibt der Dichter eine Antwort. Die einzige Antwort hat das Gedicht und die ist die Spannung zwischen diesen Leerstellen, die im Gedicht ausgehalten wird. Die unlesbare Welt der Naturzeichen wirft das Ich zurück auf ein anderes Zeichen, deutungslos. Dies ist nicht die Grenze des Gedichts, sondern seine ihm spezifisch zugängliche Erkenntnis.
Auf die Grenze des Gedichts wird in „Das Fenster“ (ein auch poetologisch zu verstehender Titel: das Gedicht gewährt Aus- und Einblicke) nur beiläufig hingewiesen. Dafür sind die Entgrenzungen um so nachdrücklicher. Wenn sich das Gedicht von der Naturdeutung abwendet, wem wendet es sich zu? – Einem tiefen sinnlichen Erleben könnte man sagen. Eros spricht aus dem Text:

Es glühte wie Atem
die Spange in meiner
geschlechtlichen Hand.

Dem ganzen scheint ein leichtfertiger, beinah ironischer Ton unterlegt, der durch den Vogeltanz unterstützt wird:

Alte wirrende
Wasser!

Gleichzeitig finden sich Metaphern, die ein Nachfragen fordern, Bedeutungsverschiebungen in Gang bringen, wie „die Schulter / des Marmors, naxisch“, „Doppelbrust“, „Nackensturz“. Die Rede von der Haut als Marmor ist ein Topos, hier ist aber nicht der Marmor der Schulter gemeint, sondern deutlich die Schulter des Marmors – zudem naxisch; die zweite Bildschicht verdichtet sich:  Der Marmor von Naxos war das Material einer Bildhauerschule, von der unter anderem eine Artemis-Statue auf Delos (das von Naxos beherrscht wurde) erhalten ist.27 (Delos haben einige von Arendts Texten als Bezugspunkt.) Artemis wurde auf Delos geboren. Sie ist die Göttin der Geburt und der wilden Tiere, zudem die Schwester Apollons. Artemis wird in Ephesos charakteristisch mit vielen Brüsten dargestellt – die Doppelbrust.28
Artemis läßt sich bislang aber noch nicht in Verbindung mit Kreta bringen („kretischer Leib“). Daher muß man davon ausgehen, daß im Gedicht die sinnliche Wahrnehmung von zwei Frauen – einer realen und der Statue – verschmelzen, ohne daß die Übergänge klar wären. Der „Atem“, den das Gedicht hält, ist das Leben – wobei das Erleben der Jetztzeit und die historische Dimension des Ägäis-Raumes eine untrennbare neue Geschichte formen, die das Erkenntnisinteresse, oder weniger unterkühlt: die Leidenschaft der Sprachbewegung auf sich bindet, auf die Deutung der Existenz aus der akkumulierten Geschichte. An die Stelle des Natur-Zeichens tritt das Geschichts-Zeichen. Was ihnen gemein ist, ist ihre soziale Relevanz.

Stefan Wieczorek, aus Stefan Wieczorek: Erich Arendt und Peter Huchel. Kleine Duographie sowie vergleichende Lektüren der lyrischen Werke, Tectum Verlag, 2001

 

 

Peter Huchel | Stephan Hermlin Zeitzeugen des Jahrhunderts. Literarischer Salonabend im Haus Dacheröden, Erfurt mit Lutz Götze (Manuskript) und Franziska Bronnen (Lesung).

 

 

Peter Hamm: Vermächtnis des Schweigens. Der Lyriker Peter Huchel, Merkur, Heft 195, Mai 1964

Franz Schonauer: Peter Huchel – Porträt eines Lyrikers
DU, Heft 11, November 1964

 

 

PETER HUCHEL

peter huchel verließ
die ddr;
in frankfurt am main
erschien sein
neuer gedichtband
„gezählte tage“

Wilhelm König

 

AUSGELIEFERT

Nach einer Lesung Peter Huchels

Der alte Flüchtling
hat sich
verlaufen

Nun liefert er sich aus
denen
die er nie gemeint hat

und selbstverkümmert hält er sich
mit wässriger Stimme
an das mitteilsame Nebeneinander
des Gesprächs unter Fremden

Die Gedichte
– woher?

Wulf Rüskamp

 

ZNOROVY NACHTS
(Für Peter Huchel)

In den Wiesen hängten die Nebel Wäsche auf,
die Rohrdommel rief in der Ferne,
und im Quaken der Frösche
grünte die Nacht.

Auf meinem Weg,
vorbei an den Tennen führte er,
kam ich vor Mitternacht nach Znorovy.

Die Nacht – ein zerrissener Mantel, durchlöchert
von Weidefeuern, die man auf viele Meilen hier sieht –
deckt das Dorf zu.
Undurchdringlich und fruchtbar ist in Znorovy die Finsternis.
Mächtig atmen die Ställe
mit warmer, verschwitzter Brust.

Znorovy nachts. Zwischen den Scheunen
berühren alle Bäume die Dächer.
Hierher kehrten brave Söhne zurück, geschmückt mit einer Träne,
und die Stolzen
gingen in Ketten, stolz,
eine Garbe Haar in der Stirn.

Auch ich ging, als führten sie mich ab,
stieß Pferdemist weg
und Wehmut.
Am Himmel mähte die Sichel,
und der Wind trieb die Wolken
über die kahlen Stellen.

Auch ich ging, als führten sie mich ab,
und ließ den Kopf wie einen schwarzen Flügel hängen.
Die Finsternis schwämmte die Stille,

glänzender Roßhaargraphit.

Unruhig schliefen die Kerle von Znorovy.

Jan Skácel

 

SOMMERABEND
für Peter Huchel

Einer der Abende leuchtet
stiller,
als das verwirrende Licht,
das aus den Seihtüchern rinnt,

eines unbeschnittenen Tages
Nachglut, und dennoch
aus der Armut Geweb,
eine Botschaft
ohne Zeichen und Wort,
ohne Gebot, ohne Gabe.

Es ist
eine unter der Marter
sanft gewordene Zeit,
ist der Abende einer,
um derentwillen
Gott die Erde gemacht hat.

Uwe Grüning

 

MÄRKISCHER ABEND
Für Peter Huchel

… stolze kiefern leuchten
in der spätsonne auf märkischer erde
gebranntes umbra umspannt die stämme
und ocker strahlt in das abendlicht
terra d’ombra im eiszeitlichen sand

auf nadelteppichen tanzt
der weite wald mit mächtigen fängen
im hohlweg bei den Havelbergen
verliert sich die spur der wildschweinrotte

ein lichter schattenwurf streift den abend
am verschwindenden horizont
und lockt elfen aus dem irisierenden moos
es ist die ewige saga der wiederkehr…

Jenny Schon

 

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973

Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973

Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973

Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973

Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973

hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973

Nachrufe auf Peter Huchel:

Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981

Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981

Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981

Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981

Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981

Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981

Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981

Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981

Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981

Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981

Zum 81. Geburtstag des Autors:

Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen
Die Zeit, 6.4.1984

Zum 10. Todestag des Autors:

Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003

Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003

Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003

Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003

Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003

Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003

Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003

Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003

Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003

Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002

Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
Manuskript

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