Peter-Huchel-Preis 1992: Ludwig Greve

Mashup von Juliane Duda zum Peter-Huchel-Preis 1992: Ludwig Greve

Peter-Huchel-Preis 1992: Ludwig Greve

HANNAH ARENDT

Drei, vier Stufen tastet herab, als sei da
Wasser, diese Frau von woher – das bunte
Kleid, amerikanisch, bedeutet nichts, der Stolz ist das
aaaaaFremde,

so ein Zug von Wildheit um ihren Mund, wo
sah ich das? auf griechischen Münzen, unscharf
hie und da am Rand wo die Fingerkuppen vieler
aaaaaGeschlechter

diesem Gott ein bißchen Gefühl beibrachten,
seiner Jugend Hinfälligkeit. Die Stimme …
solches Wetter grollen und lachen hört man selten im Alltag,

keine Sängerin, aus Gedanken holt sie
einen Klang wie die aus der Luft. Das Lächeln
grüßte mich im vollen Café – und angelehnt wie zu Pessach

teilten wir den Vorrat, das Scharfe, auch das
Süße der Verbannung, die Freiheit. Ihre
Lippen zuckten, wenn ich wie früher, um ein Mädchen zu halten,

vor Begeisterung das Verkehrte sagte,
und die Antwort hinwerfend, ohne lang zu
zielen, stand da wirklich ein Mädchen. Jeden Morgen am Schreibtisch

saß sie im Gespräch mit dem toten Lehrer,
seine Briefe ordnend; wer eintrat, solch ein
Blick empfing ihn voller Erwartung, daß sich noch der Geringste

Mühe gab, sie nicht zu enttäuschen. Abends
schmeckte ihr das Essen, wenn Freunde kamen
aus der Welt, sie fand in drei Sprachen Wohnung. Aber von uns wer,

mitten im Gespräch sich nach vorne beugend,
kann noch so Gedichte hersagen, deutsche,
Wort für Wort … Sie trugen die Bürde, Hannah, nichts ging verloren.

 

 

 

„Sprache der Sterblichkeit“

Die behutsame Strenge, die sich Ludwig Greve im Umgang mit der Sprache auferlegt hat, nicht nur in seinen Gedichten, von denen hier zu reden ist, macht befangen, wenn über ihn geredet werden soll. Die innere Stimme fragt: Hättest du vor ihm bestanden? Ich kam bei meinen Vorüberlegungen wie beim Schreiben dieser Rede nicht von der Vorstellung los, der Preisträger schaue mir kritisch über die Schulter. Ich weiß von seiner Vokabel-Empfindlichkeit, von seinem Abscheu vor falschen Tönen. Die wenigen Gedichte, die er gelten ließ, sind immer seltener werdende Beispiele authentischen Denkens und Sprechens. Ich will versuchen, ein Bild von ihm zu entwerfen, das ihm ähnlich ist und ihm annähernd gerecht wird.
Es heißt, der postum mit dem Peter-Huchel-Preis 1992 ausgezeichnete Lyriker Ludwig Greve sei ein stiller Mann gewesen, der in unauffälliger Bescheidenheit lebte. Er mochte sich nicht als Dichter ausstellen. All das, was heute gemeinhin für literarische Öffentlichkeit genommen wird, erreichte ihn seit langem nicht mehr oder ließ ihn unbeteiligt. Mit allen Konsequenzen, wie sie sich aus scheuer Zurückgezogenheit ergeben. Die Gedichte sollten für sich sprechen, der Autor als Person trat in ihren Schatten zurück. „Scheu“ ist ein Wort, das in mehreren Bedeutungsabschattungen für ihn zutrifft. Am stärksten war wohl seine Offenbarungsscheu. Zugleich sind seine Gedichte immer auch offene oder angedeutete Selbstbekenntnisse. Seine Dichtung kann als eine lyrische Biographie gelesen werden. Von solchen Spannungen, die zunächst paradox anmuten mögen, wird seine Biographie getragen, brückenartig von Gedicht zu Gedicht hinüberreichend.

Sowie ich an Biographie rühre, sträubt sich der Stoff, also auch ich, aufs haarigste.

An anderer Stelle gibt er sich Rechenschaft über seine literarischen Anfänge:

Ich wich in meine Biographie aus, die bot genügend exotischen Stoff.

Ich sehe darin keinen unaufhebbaren Widerspruch. Beide Sätze werden von den dauerhaften Schreibskrupeln zusammengehalten. So ist das lyrische Werk konsequenterweise schmal geblieben. Die Gedichte raffen, setzen Punkte und geben Konzentrate existentieller Erfahrungen. Von Betroffenheit möchte ich nicht reden, es sei denn, man vermöchte dem Wort seine ursprüngliche Sinnfülle zurückzugeben. Lebensstationen, ja, ganze Lebensabschnitte werden auf eine Sentenz, auf einen Satz verknappt. Der Kontext, „der große Hof des Gedächtnisses“, um mit Peter Huchel zu sprechen, wird ausgeschwiegen, ausgespart. Ein Verfahren, das mit Wortökonomie und Schreibdisziplin zu tun hat. Noch der leiseste Anflug von verbaler Redundanz in einem Text muß ein Greuel gewesen sein. In einigen frühen Gedichten erreichte er mit seinen harten Satzverschneidungen und abrupten spartanischen Fügungen mitunter den Eindruck, auf Hermetismus aus zu sein. In späteren Gedichten, in denen er etwa Hexameter ins Freirhythmische hin aufbricht und zu einem eigenen Zeilenklang kommt, mildert er dies, indem er den erzählenden Gestus freier und gelassener schwingen läßt In seinem einzigen poetologischen Text, einer 1979 vor Freiburger Studenten gehaltenen Rede, die in den preisgekrönten Band Sie lacht und andere Gedichte aufgenommen wurde, äußerte er:

Heute noch muß ich beim Schreiben mich manchmal vor der Ungeduld zurücknehmen, alles in einem Satz auszudrücken.

Das könnte auf Spruchdichtung und Aphorismus hinauslaufen, auf geistreiche Prosasplitter, wie sie der Impressionist Peter Altenberg bevorzugte, der seinen Stilwillen auf die Formel brachte:

Ich möchte einen Menschen in einem Satz schildern, ein Erlebnis der Seele auf einer Seite, eine Landschaft in einem Wort.

Bei Ludwig Greve geht es hingegen viel eher um die konzise Fügung, um Prägnanz und Leuchtkraft der Sprache. Wobei er mit Bildern sparsam umgeht, wenn er sie setzt, dann jedoch so, daß sie aufscheinen und nicht überlesen werden können. Diese Bilder sind neu gesehen. Sie stehen in einem Kompositionsgefüge, das auf einen Schluß hin aufgebaut ist.
Deutsch war für Ludwig Greve, der 1933 zum „Juden ernannt“ worden war und Deutschland 1939 mit seiner Familie verlassen mußte, die „Stiefmuttersprache“. Vor allem in den frühen Gedichten finden sich paradigmatische Verse für stringente Raffungen der Biographie, ein Gestaltungsprinzip, bei dem sich Scheu und Abscheu die Waage gehalten haben mögen:

Nachtschatten flocht den Stirnen Kränze.
Hob die Blume des Weins ihr Haupt?
Juden, kamen wir ausgeraubt
mit zehn Worten über die Grenze
(„Abschied vom Bernstein“)

Oder – ich zitiere die Eingangsstrophe zu „Lucca, Giardino Botanico“ −:

Klausur der Bäume. Alte Mauer
verrät nichts. Krieg; und alles irrt,
Die Kreatur, die ihn verliert,
bewahrt die Kindersonntagstrauer.

Das Gedicht „Vor Havanna“ steht für einen der dramatischsten Lebensabschnitte, für eine mißglückte Lebensstation, die sich erst voll in ihrer Tragik erschließt, wenn man den 1949 erschienenen Bericht „Heimatlos auf hoher See“ von Gustav Schröder kennt, dem Kapitän der „St. Louis“, die neunhundert Emigranten an Bord hatte. Die kubanische Regierung nahm die Flüchtlinge nicht auf und zwang das Schiff zur Rückkehr nach Europa. Ludwig Greve nimmt die Emigrantenirrfahrt weit zurück, indem er nur andeutet:

Die Insel voller Preise
− das Schwert der Ananas, die falschen Rosen −
ist das Gelobte Land nur für Matrosen.
Und flohen wir, so auf die Lebensreise.
Doch immer wird Havanna uns zum Hafen,
wenn Macht, die Auster, aufgeht und im Grauen
Perlmutt des Morgens glänzt.

In einer früheren Fassung, die sich in Hans Benders Anthologie Junge Lyrik 1958. Eine Auslese findet, lautet die Schlüsselzeile noch: „Und was nur Flucht schien, ist die Lebensreise.“ Seine prägenden Jugendjahre hat Ludwig Greve auf der Flucht verbringen müssen, die ihm zu einer Odyssee geriet. Er und seine Mutter, die im Januar 1944 in einem piemontesischen Bergdorf von einer Granate an der Schulter schwer verwundet wurde, überlebten in einem Versteck. Sein Vater und seine jüngere Schwester, deren Andenken das Gedicht „Lucca, Giardino Botanico“ gewidmet ist, wurden deportiert. Spätestens hier drängt sich der sehr bekannt gewordene und viel zu oft zitierte Satz von Theodor W. Adorno auf Diese Bemerkung und alles Unheil, die sie bedenkt und umschließt, hat Ludwig Greve das Schreiben so schwer gemacht. Adornos tausendfach widerlegte Behauptung, ein Appell an das Gewissen gegen die Vergeßlichkeit, ist in all seinen biographisch mehr verschwiegenen als offenbarenden Gedichten mitzulesen. Die Skrupel, sich der geschändeten deutschen Sprache dichterisch zu bedienen, sind ohne diesen Erlebnishintergrund nicht zu verstehen, nicht zu ermessen. Wenn sich ihm die Haare sträubten bei allem Biographischen, dann wohl vor allem deshalb, weil er seine Irrfahrt und Lebensunruhe nicht als exotischen, abenteuerlichen Stoff ausgestellt wissen mochte. Seine Gedichte sollten als Dichtung wirken. Er wollte keinen Bonus auf seine Exiljahre und das persönliche Leid. 1984 schrieb Friedhelm Kemp, nachdem der Privatdruck Playback erschienen war: „Das offenbare Geheimnis der Dichtung ist ihre Unsichtbarkeit. Je lauter, je selbstgewisser einer spricht, desto weniger hört man, desto weniger sieht man ihn. Scheinwerfer verdunkeln. Da hilft nichts, als das Licht auszudrehen und zu warten, ob sich was zeigt; zu warten, ob ein Wort sich dafür einstellt. In Ludwig Greves Gedichten kommt das Ungeheure unscheinbar daher; genauer, das Unscheinbare ist schon das Ungeheure, jeden Tag, hier, den Bahndamm entlang, nicht anders als dort, wo gestorben wird. Die Grundierung bleibt dunkel, davor leuchtet diese Schrift. Furchtlos, des Furchtbaren inne und seiner gewiß.“
In der Zelle eines aufgelassenen Priesterseminars, dem ersten Versteck in Lucca, begann der Zwanzigjährige zu schreiben. Er hat darüber in der Rede vor den Freiburger Studenten aus selbstkritisch-ironischer Distanz berichtet. Ein weiterer autobiographischer Bericht, in dem er von Lucca erzählt, findet sich in der Festschrift für Rudolf Hirsch. Damals galt für ihn „nicht Dauer, in Perioden gegliedert, sondern das Leben auf dem Sprung“. Als dichterische Gattung habe er den „gereimten Aufruf“ bevorzugt. Diese frühe Schreibphase, aus der sich keiner seiner Versuche erhalten hat, könnte „Vom Stabreim zur Empörung“ überschrieben werden. Mit sarkastisch abwehrenden Handbewegungen dieser Bündigkeit, die seine Situation auf den Punkt brachten, glossierte er seine tastenden Versuche, die ihm Überleben halfen. Am wenigsten weiß man, weiß ich über die fünf Jahre, die er nach Kriegsende in Palästina verbrachte. Er vermochte dort nicht Fuß zu fassen, weil er „zwischen Unerfahrenheit und Stolz kein Auskommen fand“.

Der angelesene Zionismus, von dem ich mir Ersatz für die Hoffnung versprach, die mich so lange getragen hatte, hielt der Wirklichkeit nicht stand.

Eine lapidare Übersicht für einen Lebensabschnitt.
Als Ludwig Greve 1950 nach Deutschland kam und sich als „später Schüler“ der deutschen Sprache wie ihrer Literatur überantwortete, fand er ein ganz anderes Deutsch vor, als er es sich bewahrt hatte. In dem Katalog Klassiker in finsteren Zeiten (zwei stattliche Bände, Marbach 1983), zu deren Beiträgern auch Ludwig Greve zählt, äußerte er sich über die Auswirkungen des Abgeschnittenseins vom lebendigen Strom der Sprache. Was er generell für alle Schriftsteller im Exil meint, konnte er aus eigener Erfahrung aufzeichnen: „Wendeten die einen den Haß, der ihnen aus Deutschland entgegenschlug, in Gegenhaß, der eigentlich Heimweh war, so redeten die andern sich ein, daß ihre Herkunft ein Makel sei und führten in der Sprache des Gastlandes eine Art Ersatzleben. Den Schriftstellern war das versagt. Sie liefen freilich, ausgeschlossen vom Alltäglichen, Gefahr, in ein Sonntagsdeutsch zu verfallen, in dem alles, was sie sagen wollten, eine Spur zu feierlich und altmodisch klang. In diesem Dilemma zog es manche zu den klassischen Vorbildern… „Gewiß, es ließen sich auch Gegenbeispiele finden. Ich könnte auf Michael Hamburger verweisen, wie Greve 1924 in Berlin geboren, jedoch bereits seit 1933 in England lebend und dort Schriftsteller englischer Zunge geworden, dennoch der deutschen Literatur eng verbunden. Für Greve gilt, wie für die meisten der nach 1933 aus Deutschland Vertriebenen: Sie schrieben weiterhin Deutsch, das allerdings nicht zu verwechseln war mit der „Lingua tertii imperii“. Den Anschluß an das Alltägliche, auf den der Rückkehrer so entschiedenen Wert legte, hat er in vielen seiner Gedichte thematisiert. Die Dankbarkeit für die wiedergefundene Sprache des Alltags wird vielleicht am inständigsten benannt in der siebenstrophigen Ode, die er Dorothea Kuhn in kollegialer Verehrung gewidmet hat:

Der Weg hier unten, beiläufig, wie er ist,
erweist mir Freundlichkeiten, wie anders soll
ich’s nennen, daß beim Gang zur Arbeit
Kühle mich streift, ein Geruch von Moder.

(„Marbach, am Bahndamm“). Wie ernst er es meinte mit einer immer Distanz wahrenden Zuneigung gegenüber Freunden, wie er sie in der Bernsteinschule um HAP Grieshaber und Max Fürst fand und später im Schiller-Nationalmuseum, als deren Bibliothekar er eine Lebensaufgabe fand, bezeugen vielleicht die weit verstreuten Prosatexte, weniger schwer und beschwert zwar, aber alle geschliffen und poliert, darunter Kabinettstücke wie die altehrwürdige Verbeugung vor dem Jean-Paul-Forscher Eduard Berend, Porträts von Max und Margot Fürst, von Grieshaber samt Achalm und Fritz Eggen, der nicht ohne Antiquariat abzubilden ist. Sie alle sind Beispiele für lang währende Freundschaft. Mit Augenmaß weiß er jene Distanz und Dezenz zu wahren, die den Angesprochenen immer in seiner (ihrer) menschlichen Würde zeigt. Ich denke, spätestens heute, an dem Tag, an dem Ludwig Greve mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wird, sollte es beschlossen werden, beschlossene Sache sein: Die nur mit akribischer Lust und List aufzuspürenden Texte des Laureaten müssen einen eigenen Band bilden.
Auf klassische Vorbilder, von denen im Katalogtext Klassik im Exil die Rede war, hat sich auch Ludwig Greve bezogen. Wohl hauptsächlich aus Ablehnung oder zumindest aus einer tiefen Skepsis heraus gegenüber der mißbrauchten Sprache. Horaz, Góngora, Klopstock sind verschiedentlich als Vorbilder genannt worden. Der heilignüchterne Ton Hölderlins ist nicht zu überhören. Rilke und Borchardt, Loerke und Lehmann haben dem „späten Schüler“ das Weggeleit gegeben. Die Wertschätzung Rudolf Borchardts als Klassik-Mittler wäre vielleicht einer speziellen Untersuchung wert. Seltsam zeit- und weltenthoben residierte der nationalbewußte deutsche Dichter jüdischer Herkunft unweit von Lucca, seit Jahrzehnten freiwillig außerhalb des deutschen Sprachraums lebend und dabei aufs engste mit dem Ewigen Vorrat deutscher Poesie – so der Titel seiner 1926 erschienenen und noch immer exemplarischen Anthologie – versehen und verbunden, und durchaus auch mit den Vibrationen der Alltagssprache, wenn ich an die Erzählungen Die neue Dido und Das Gespenst (beide 1929) denke, die sich meiner unmaßgeblichen Wertschätzung erfreuen. Der Romanist und Curtius-Schüler Karl Eugen Gaß hat in dem Pisaner Tagebuch von 1937/38 sehr anschaulich über seine Begegnungen mit Borchardt in der Villa Bernardini wie auch in Lucca geschrieben. Im Grunde müßte man alle Gedichte kennen, die einem Lyriker im Laufe seiner Entwicklung etwas gegolten haben, um seine Schreibart tiefer ergründen zu können, um besser nachvollziehen zu können, wie er sich aufgebaut, und von wo aus er sich abgestoßen hat. Das wird sich jedoch niemals wirklich ausschöpfen lassen, auch wenn man noch so gründlich recherchierte. Als ein Beispiel für das Hintergründige und Unterirdische im poetischen Bezugsfeld, das weit in die Geschichte zurückreicht und sprachlich manche Grenze überschreitet, möchte ich ein Gedicht von Auden setzen, das mehrfach ins Deutsche übersetzt worden ist. Vor Ludwig Greve taten dies Georg von der Vring und Hans Egon Holthusen. Die Version von Ludwig Greve scheint mir ebenjene Rückschlüsse zuzulassen, die ich anzudeuten suchte. Die Übersetzung, die ich Ihnen vorstelle, entstand 1987. Sie wurde erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. Juli 1988 gedruckt, wieder veröffentlicht in dem Privatdruck Abschied von Ludwig Greve, Marbach am Neckar 1991. Es ist dies die einzige Gedichtübertragung, die mir von ihm bekannt geworden ist.

IF I COULD TELL YOU

von Wystan Hugh Auden

Die Zeit sagt nur, Ich hab’ es ja gewußt.
Der Preis, den sie uns abverlangt, das zählt;
wenn ich es könnte, gäb’ ich dir Bescheid.

Ob uns vor Clowns ein Weinen überkommt,
und ob wir straucheln, von Musik betört,
die Zeit sagt nur, Ich hab’ es ja gewußt.

Wahrsagen ist nicht mein Geschäft, obwohl,
da du mir lieb bist, mehr als ich versprach,
wenn ich es könnte, gäb’ ich dir Bescheid.

 

Der Wind erhebt sich kaum von ungefähr,
und Gründe gibt’s, warum das Laub verfällt;
die Zeit sagt nur, Ich hab’ es ja gewußt.

Vielleicht behauptet sich die Rose doch
und findet Sehnsucht eine Bleibe hier;
wenn ich es könnte, gäb’ ich dir Bescheid.

Nimm an, die Löwen stünden friedlich auf,
Armeen kehrten um, die Bäche selbst;
ob Zeit dann sagt, Ich hab’ es ja gewußt?
Wenn ich es könnte, gäb’ ich dir Bescheid.

Das Gedicht besteht aus fünf Terzetten und einem an den Schluß gesetzten Quartett, in dem die alternierenden refrainartigen Schlußzeilen der Terzette aufeinander zulaufen, um schließlich miteinander verknüpft zu werden. Der Anlaß für das Gedicht wird in einer Zeile untergebracht, um nicht zu sagen, versteckt: „da du mir lieb bist, mehr als ich versprach“. Um diese Achse werden die Vergleiche gruppiert. Was aber das Gebilde zu einem großen Gedicht macht, ist nicht seine Stofflichkeit, diese ist wohl fast beliebig, sondern der Tonfall elegischer Gelassenheit. Das Unentschiedene, das Indefinite, das Unausgesprochene bringt das Gedicht zum Schweben, bildet gewissermaßen seine Flügel. Naheliegendes wird Entferntem verknüpft, so daß verblüffende Kontakte entstehen, die wiederum Spannung erzeugen. Die verwendeten Mittel lassen an antike Vorbilder denken, zugleich aber sind die volksliedhaften Anklänge nicht zu überhören: „wenn ich…“ Lebensgefühl und Weitsicht – nicht etwa Weltanschauung – bilden einen klarsichtigen Hintergrund. Das Didaktische wird unaufdringlich in Gleichnisse gehüllt von einfacher Bildhaftigkeit, ebenso archetypisch wie modern zu verstehen. Das Kunstvollste am Ganzen ist die Komposition, die Stringenz des Ablaufs, wie von Vergleich zu Vergleich erneut angesetzt wird, der Angeredeten Unaussprechliches mitzuteilen. Am Ende ist daraus ein geschlossenes Kunstwerk geworden, ein in sich ruhendes Gebilde. Im Gegensatz zu den anderen Übersetzern hat Ludwig Greve auf den Reim verzichtet, sich dafür ganz dem Sprechton anvertraut. Ich sehe in dieser Freizügigkeit der Anverwandlung, dem Gestus und der Grundhaltung Audens so nahe als möglich zu kommen eine aufschlußreiche Probe aus seinem Vorrat von Gedichten, die ihm etwas bedeuteten. In einem Text über Auden heißt es: „Ähnlich wie Eliot – dem er entscheidende Anregungen verdankt – verbindet er den natürlichen Sprechton bis hin zum niederen Vokabular mit dem hohen Stil antiker Vorbilder … Auden ist Didaktiker; ihm geht es wie den Dichtern des 17. und 18. Jahrhunderts – um die Sichtbarmachung einer bestimmten Weltschau, wobei er freilich unserer optimistischen Gesellschaft niemals nach dem Mund redet.“ Dies führt zumindest nahe an Greves Vorstellungen von Poesie heran. Seine Nachdichtung kann auch als ein Beitrag zur eigenen Poetik gelesen werden. Die Arbeit an eigenen Gedichten lehrte ihn, „weniger auf Originalität zu sehen als auf Stimmigkeit“. Stimmigkeit schließt für mich all das ein, was ein Gedicht zu einem nach Maß gesetzten Kunstwerk macht, in dem sich Handwerkliches und Ingeniöses zu einer Neuschöpfung verbinden. Was Greve untertreibend ein Ausweichen in die eigene Biographie nennt, gerät zur Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte. In seiner sensitiven Trauerarbeit spiegelt sich deutsche Geschichte. Ähnlich wie Ungaretti schreibt er von Gedicht zu Gedicht an einer lyrischen Biographie punctatim. Die poetische Selbstgestaltung hält in gesteigerten Szenen Stationen fest, die das individuelle Schicksal, das so viele Korrespondenzen hat, im doppelten Wortsinne, wie ihn Hegel meint, aufheben. In dem Selbstbekenntnis „Warum schreibe ich anders?“ heißt es dazu: „Wenn ich mein Leben nicht dem ZufalI verdanken wolle, müsse es exemplarisch werden, hielt ich mir vor … Das gesteigerte Leben, nach dem mich wie einen Süchtigen verlangte, vielleicht war es noch aus Poesie zu holen. Freilich bedrängte mich nicht mehr Gefahr, sondern ein, wie ich es sah, schäbiger Alltag; dem wollte ich mit Versen auf den Leib rücken, daß er Farbe bekannte.“ Die Gedichte sind tatsächlich als Steigerungsformen selbst gelebten Lebens zu verstehen. Das Ausfragen und Ausforschen des unbekannten Ichselbstundkeinanderer, was heute meist mit dem Begriff Identitätssuche umschrieben wird, vermochte schließlich in einem schmerzlichen Prozeß die Schuldgefühle des Überlebenden aufzuheben. Das, was noch dunkel war, wird beim Namen genannt. Ziel der Suche war, eine Sprache zu finden, die vor den Opfern wie vor den Überlebenden zu bestehen vermag. Ludwig Greve nannte sie „Sprache der Sterblichkeit“.
Was er damit meinte, löste er exemplarisch mit der Ode „Mein Vater“ ein. Diese Totenklage, in der sich das persönliche Leid vertausendfacht, weist über vieles Ephemere hinaus. Ich scheue mich nicht, von einem großen Gedicht in deutscher Sprache zu reden, das bislang weithin unerkannt geblieben ist. In seiner weit zurückgreifenden Metrik als einem Mittel der Bändigung und Mäßigung lebenslangen Schmerzes und seiner zugleich ungewöhnlich kühnen Vergegenwärtigung gelingt die Bewältigung auf originäre Weise. Uwe Pörksen hat in der Frankfurter Anthologie diesem Gedicht seinen Rang zugewiesen. Ich zitiere aus seiner Interpretation: „Es ist, als stelle sich dem Andrang der Bilder ein ebenso starker Widerstand entgegen. Die Zeilen fallen und steigen, geregelt, in einem zögernden und springenden Rhythmus.“ – „Wo niemand wartet, Vater: im Schweigen, wo / in Salz und Asche kenne ich deinen Mund, / der nach den Kindern ruft und ächzend / bittet um Gnade die Menschensöhne.“ Es waren nach Auschwitz viele Totenklagen zu singen „mit geschlossenem Mund“. Das lyrische Werk von Nelly Sachs hebt an:

O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft −.

Der aus Czernowitz stammende Jude Immanuel Weissglas, Generationsgefährte von Ludwig Greve, Michael Hamburger, Erich Fried und Schulfreund von Paul Celan und Alfred Gong, nannte eines seiner Epitaphe „Massengrabschrift“, sein 1944 entstandenes Gedicht „Er“ setzt ein: „Wir heben Gräber in die Luft.“ In Paul Celans „Todesfuge“ geht die Klage in Anklage über:

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.

Ludwig Greve hat sich und uns erklärt, warum er anders schreibt und wie er zu einer Sprache der Sterblichkeit fand.
Die Steigerungen des Alltäglichen und Unscheinbaren kommen ohne Pathos aus. Greves Gedichte kreisen um wenige Themen, um elementare und kreatürliche Natur, um Freundschaft und Liebe, um den Alltag seiner Biographie. Die sogenannten „großen“ Gegenstände und mithin alles Heroische spart er mit Fleiß aus.

Noch ist Tag, sein Hauch bewölkt
den kalten Spiegel, er ruft sein Bild aus der Tiefe
und lautlos antwortet Schnee,
rieseln Flocken, geistern im Rauch
wie schöner Tage Asche,
doch am Lebendigen, wenn sie es schwärmend berühren,
erlischt die winzige Helle.

Besänftigt sind Mensch und Stein,
als lechze die Stadt mit tausend Zungen
nach Reinheit, dem schmelzenden Abendmahl…

So beginnt das Wintergedicht „Schnee“, ein tradiertes Thema, neu gesehen – neu gesetzt. In dem Landschaftsgedicht „Schwäbische Alb“ tritt die Schilderung zurück, in der Vorstellungskraft verlebendigt sich das anthropomorphe Gebirgsmassiv:

… ein Vlies erwärmt die schwarzen, grünen Nacken der Alb.

Wenige Tage. Da schwindet, kaum daß sie Leben gewann,
die Alb im Dampf ihrer Nüstern;
wo oben ruhige Kraft mich trug
und weitertrug, ein Kind, das nicht aufhören will,
da glänzt die Leere, im Silberdunst
verschmelzen Tag und Gebirge.

Komm. Mit Wacholderbüschen,
mit Kuppen, hergeschwungenen Flächen komm
und laß mich den Fuß auf deine schlafenden Wellen setzen…

Wenn zunächst der Sprachfluß durch Einschübe und Nachstellungen gebremst wird, wenn er durch harte Verschneidungen und sperrige Fügungen und so über möglichst viele retardierende Brechungen vorankommen muß, wird er später fließender, schwingender. Der so stärker herausgearbeitete Erzählgestus kann Gebärden und Bewegungen, all das, was selbst nicht sprechen kann, deutlicher in Sprache aufnehmen. Die antiken Versmaße sind aufgebrochen und ihrer vorgeschriebenen Strenge enthoben zugunsten des individuellen Redetons. An Rudolf Borchardts Gedichten und Nachdichtungen anknüpfend, insbesondere an die Agallis-Ode der Sappho, gewann Greve, eine „eigene Gangart lockeren Ernstes“, wie er seinen Entwicklungsgang selbst beschrieb. Wenn die erste Stufe der Suche nach Freisetzung im Wort, „vom Stabreim zur Empörung“ geführt hat, könnte der spätere Abschnitt, von dem Gedichte überliefert sind, „Von der Empörung zur Gelassenheit“ überschrieben werden. „Aller Augenschein ist für Ludwig Greve nur Anlaß, sich in sich selbst zu versenken und aus der Bitterkeit des Erleidens eine gelassene und gefaßte Wahrheit zu keltern.“ Auf diesen resümierenden Satz brachte Heinz Piontek sein Urteil zu dem ersten Gedichtband. Auf „gelassene und gefaßte Wahrheit“ hat Ludwig Greve unbeirrt Kurs gehalten. Die Selbststrenge kann leicht nachvollzogen werden, wenn man Fassungen vergleicht oder feststellt, welche Gedichte er für den Band Sie lacht nicht mehr gelten ließ.
Allen modischen Schwenks und Trends hat er sich ferngehalten. Auf eingängiges Parlando konnte er sich nicht verstehen, bis hin zum Störrischen, wie ihm konzediert worden ist. Für ihn behielten die Worte ihren Ernst und ihre Bedeutungsschwere. Sie meinen das, was sie sagen. Da er sich gar nicht oder nur schwer vergleichen läßt, wurde ihm die Rolle des Außenseiters zuteil. Sichtet man zeitgenössische Anthologien, so ist er überhaupt nicht existent. Vielleicht trägt die Zuerkennung des Peter-Huchel-Preises dazu bei, seinen literarischen Rang nun auch außerhalb des Freundeskreises publik zu machen.
Ungeachtet fortschreitender Entfremdungstendenzen, die Selbstentfremdung und Entpersönlichung bis in die Sprache hinein nach sich ziehen, ließ sich Ludwig Greve nicht verniemanden. Dichtung war ihm eine ernste Sache, die mit existentieller Not wie Freude als den bei den Seiten einer Medaille zu tun hat. Er hat Gedichte im hohen Ton entgegengehalten, die für ihn nur so und nicht anders geschrieben sein konnten. Er brachte Erfahrungen ein, die es ihm schmerzhaft verwehrten, in auch nur einer Wendung Beliebigkeit durchgehen zu lassen. Auch wenn ich keinen direkten Bezug zum Patron des vom Land Baden-Württemberg und vom Südwestfunk gestifteten Literaturpreises herzustellen vermag, da mir nichts über Begegnung und Wertschätzung bekannt ist, wurde in Ludwig Greve ein würdiger Preisträger gefunden, denn beider Dichtung zeichnet sich durch Unverwechselbarkeit aus, Huchel wie Greve stehen ganz bei sich selbst, jedes ihrer Gedichte ist aus einer unnachahmlichen Eigenheit heraus gewachsen und fest geworden.
In einem ruhigen, weit schwingenden Gestus wird elementare Natur in Sprache hineingenommen in ihrer Vergänglichkeit und Einmaligkeit. Ich zitiere einige Verse aus dem Gedicht „Bei Ebbe II“:

Aber wo Licht den Wind im fliegenden Strandhafer einholt,
daß seine Schneiden blinken, ja länger als Sommertage
segeln die Wolken über dem Meer in verschiedener Höhe,
aber im selben Raum, der uns wie den Vögeln sich auftut.
Ja, so erschienen vielleicht den Alten die Götter, so mühelos
wechseln sie Farben, die Körper – ein schillerndes Taubengefieder,
bald von den Jägern zerfetzt, Gebirge, mit Wasserfarben
trübe getuscht, die ohne Gewalt im Westen sich bauschen,
bis sie an Rändern durchlässig blitzen, schwanger mit Sonne.

Aus der Welt, die zu Lebzeiten kaum Notiz von ihm nahm, ist der Dichter Ludwig Greve am 12. Juli 1991 fortgetrieben worden.

… immer ist Wasser uns auf den Fersen und löscht die Spuren
deiner und meiner Wärme: ich sehe es ohne Bedauern.

Er gab ein Beispiel. Und ich erlaube mir, bestätigend nachzusprechen, was Helmut Heißenbüttel ihm nachrief: Er war ein Dichter! Ich bedaure, daß den Preisträger meine Worte nicht mehr erreichen.

Wulf Kirsten, Laudatio auf Ludwig Greve, 1992

Danksagung

Es fällt mir nicht leicht, hier an meines Vaters Statt zu sprechen. Wie sehr wünschten wir, er hätte Ihre Auszeichnung selbst entgegennehmen können. Die ihn kannten  wissen, wie es ihn bewegt hätte – trotz seiner Zurückhaltung in solchen Dingen.
Sie müssen nun mit mir vorliebnehmen, die Sie mich vielleicht als die „Fremde Tochter“ aus einem älteren Gedicht meines Vaters kennen, das er auch zur Veröffentlichung in dem letzten Band ausgewählt hat. Ich möchte beherzigen, was mein Vater mir geraten hätte: mich kurz zu halten und Ihnen mit wenigen Sätzen danken für die Ehrung, mit der Sie ihn und seinen Lyrikband Sie lacht ausgezeichnet haben. Erwarten Sie bitte von mir keine literarische Würdigung seines Werkes, zumal es einige und viel Berufenere gibt, die sich kenntnisreich seines Nachlaßes angenommen haben.
Das lyrische Werk meines Vaters umfaßt nur wenige Bände. Schreiben war ihm stets mühevolle Arbeit, Wort und Sprache viel zu bedeutsam, um leichtfertig Seiten zu füllen. So sind die vielen Briefe, mit denen er die Seinen in allen Teilen der Welt bedachte, und die unvollendete Lebensgeschichte, an der er die letzten Jahre arbeitete, eigentlich der umfänglichste Teil seines Nachlasses. Nicht zu vergessen die Lob- und Geburtstagsreden, aber auch die Nachrufe, die ihm in den letzten Jahren das Herz beschwert haben.
Die Maßstäbe, die er sich und anderen anlegte, waren streng. Seine Gedichte sind das Ergebnis lang andauernder Arbeit, in der Wort für Wort gesetzt, immer wieder verbessert und umgeschrieben wurde, bis schließlich ein Text, den eigenen hohen Ansprüchen genügend, getippt werden konnte. Zuspruch und Anerkennung, aber auch das kritische Urteil einiger guter Freunde waren ihm wichtiger, als öffentliche Zustimmung. „Dicht fertig, Margot rufen“ soll ich wohl als Dreijährige gesagt haben.
Geschrieben hat er zunächst für sich, einem inneren Bedürfnis folgend, und für Menschen, die er schätzte. Lob oder Aufmerksamkeit aus dem offiziellen „Literaturbetrieb“, von dem er sich persönlich zusehends mehr fernhielt, verwunderte ihn etwas, gab aber auch neuen Mut zum Weiterschreiben.
Seine schriftstellerische Arbeit, die ja eigentlich eine Wochenendarbeit war, brauchte Ort und Zeit: einen aufgeräumten Schreibtisch ebenso wie einen festen Wochen- und Tagesrhythmus. Morgens früh aufstehen, vor offenem Fenster den Körper zum aufwachen ermuntern, um nach dem Frühstück, keine Störung duldend, die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu schließen, war ihm notwendiger Rahmen. Die freien Vormittage waren stets dem Schreiben gewidmet, dann Kochen, ein Spaziergang am Nachmittag, anschließend manchmal Briefe schreiben. Er brauchte den vertrauten Lebensfluß, Ablenkungen, zumal unerwartete, waren ihm ein Greuel.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie meinen Vater die mit der Preisverleihung verbundenen Anerkennungen gefreut und ermutigt hätte, die schwere, auch schmerzliche Arbeit an der Beschreibung seiner Lebensgeschichte fortzusetzen. Uns, meiner Mutter, meiner Schwester und mir, bleibt nur, Ihnen herzlich für die Würdigung meines Vaters zu danken. Ich möchte mir wünschen, daß die Preisverleihung dazu beiträgt, mehr Menschen auf seine Lyrik aufmerksam zu machen und sein Leben im Gedächtnis zu behalten.
Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle ganz besonders auch bei den treuen Marbachern, die daran arbeiten, daß eine Vielzahl der veröffentlichten, aber auch unveröffentlichten Schriften, Briefe, und Gedichte meines Vaters zusammengestellt und zugänglich gemacht werden.

Cornelia Greve, Dankesrede, 1992

Mitschnitt der Preisverleihung vom 3.4.1992

 

Dichter der Stiefmuttersprache

− Gedenkblatt für Ludwig Greve. −

Sein Leben war, hat Ludwig Greve einmal geschrieben, „gleich dunkel grundiert“. Er hätte es leicht gehabt, die Verantwortung für seine verdüsterte Jugend ganz und gar anderen zuzuweisen – den Deutschen, die 1938 seinen Vater ins KZ brachten, die seine Familie in die Emigration trieben, die seinen Vater und seine Schwester 1944 ermordeten. Aber leicht hat es sich Greve nie gemacht, und also stellte er sich rückblickend in eine Reihe mit „vielen jungen Leuten, deren Erwartungen vom Leben, großgeschrieben natürlich, sie in diesem behindern“.
Eine kleine Bemerkung nur, gewiß, aber eine vielsagende: Sie läßt etwas ahnen von der Aufrichtigkeit Greves, von seiner mitunter selbstquälerischen Prüfung des Vergangenen und von seiner Genauigkeit im Umgang mit Worten. Doch in ihr klingt zudem, für jeden, der genau hinhört, ein wenig von seiner Ironie an, von jener heiteren Gelassenheit, die in langen Kämpfen der Melancholie abgerungen wurde.
Er war ein Dichter mit einem schmalen Werk. Nicht weil es ihm an Kraft oder Willen fehlte, hat er wenig veröffentlicht, sondern weil er nur das Vollendete gelten lassen wollte. Rund hundert Gedichte hat er zwischen 1958 und 1984 publiziert in drei „Bändchen“ – wie er sie mit ebenso liebevoller wie wegwerfender Geste nannte. Geduld mit sich selbst zu haben, Rücksicht auf die eigenen Unvollkommenheiten zu nehmen, hat er erst allmählich lernen müssen. Der Entschluß, in sein letztes Buch Sie lacht nicht nur die fünfundzwanzig Poeme aus seinen beiden jüngsten, in Privatdruck für Freunde und Kenner herausgegebenen Sammlungen aufzunehmen, sondern auch frühe Arbeiten, ist ihm sicherlich nicht leichtgefallen – aber er hat ihn danach um so mehr genossen. Er konnte sich, auch wenn er deren Schwächen genauer sah als jeder Kritiker, nun wieder an ihren Schönheiten freuen, und er begriff sie endlich als das, was sie für ihn auch waren: Stufen, die ihn zu seiner späteren Meisterschaft führten.
Der Weg war lang. Als Greve 1950 aus dem Exil zurückkehrte – „nach D., warum nennt man das Land nicht nach dem Autokennzeichen“ −, mußte er feststellen, daß nicht nur die Grenze, sondern auch seine „Stiefmuttersprache“, das Deutsche, sich verändert hatten.

Die Sprache, an der ich solange festgehalten hatte, gab es nur noch in Büchern oder alten Filmen. Was die Leute sagten, hatte zwar eine entfernte Ähnlichkeit damit, aber andere Bedeutung. Natürlich glaubte ich die erste Zeit wie viele Emigranten, es besser zu wissen, und will auch nicht leugnen, daß ich heute noch gegen gewisse Vokabeln empfindlich bin. Aber in dem Maß, in dem ich zu Menschen fand, nahm ich, hinter dem Rücken von Karl Kraus sozusagen, ihre Rede an mit den kleinen Unebenheiten, Verschleifungen usw., ohne die wir wie Denkmäler sprächen.

Greve hat seine lyrische Stimme am strengen Formenkanon der Tradition geschult – vor allem an der Ode, wie er in seiner Rede vor Freiburger Studenten bekannte −, doch er ist nie ein Traditionalist gewesen. Er war überzeugt davon, daß die Sprache im Gedicht eine andere sein müsse als die im Alltag. Doch er wußte auch, daß die Literatur, wenn sie nicht aus der Zeit fallen soll, am Leben mitsamt seinen Moden nicht vorübergehen kann. So hatte er in seinem Gedicht Raum für große Bilder und Begriffe, aber auch für die luftigen Details, in denen die Atmosphäre steckt und die so schwer einzufangen sind. So schrieb er in seinem Poem „Im Zug“ entschlossen parabolisch:

Schlage uns Licht entgegen am Ausgang des Tunnels.

Doch er vergaß über der anspruchsvollen Metapher nicht die kleine Beobachtung auf dem Bahnsteig zuvor:

Das Fett von gestern opfert der Wurstmaxe allen
Pennern und Frühaufstehern.

Sein Mut, sich an der Tradition zu messen, ohne darüber die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren, verlieh seinen Gedichten ihre innere Spannung. So bequem, sich kurzerhand für eine Seite zu entscheiden, machte er es sich nie. Auch nicht im Kampf um die Erinnerung an die Ermordeten, die sein Leben von früh an überschattete. Um dem Vergangenen wirklich gerecht zu werden, rettete er beides in seine Verse: die Trauer über den Verlust, aber auch die nachgetragene Dankbarkeit für das Verschwundene. „Das gibt“, bekannte Greve, im Bewußtsein eines hart errungenen Stolzes, „manchen Gedichten, ob ich auch schweren Mutes anfing, so einen Unterton von Glück, warum sollte ich das leugnen.“
Das Gedicht, das ihm das wichtigste war, widmete er dem verschleppten und getöteten Vater. Die letzte Strophe heißt:

Genügt die Trauer? Atem, Begeisterung,
die Liebesnächte danke ich deinem Grab
und auch die Kinder: unerschöpflich
höre sie lachen… Ich komme, Vater.

Am 12. Juli 1991 ist Ludwig Greve vor Amrum in der Nordsee ertrunken.

Uwe Wittstock, Neue Rundschau, Heft 3, 1991

Weitere Nachrufe auf den Autor:

Harald Hartung: Meer, beruhige
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.7.1991

Ulrich Ott: Die Sprache der Sterblichkeit
Stuttgarter Zeitung, 16.7.1991

Jörg Drews: Schwermut und ein Unterton von Glück
Süddeutsche Zeitung, 18.7.1991

Helmut Heißenbüttel: Nachruf
Süddeutsche Zeitung, 18.7.1991

Jakob Hessing: „Vergessenes Maß, vergessene Leiden“
Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 8 8.1991

Ray Ockenden: Ludwig Greve. (23.9.1924–12.7.1991)
Oxford Magazine, Heft 76, 1991

Uwe Pörksen: Nachruf auf Ludwig Greve
Jahrbuch Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Steiner, 1991

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Archiv + Kalliope

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