– Zu Peter Huchels Gedicht „Winterpsalm“ aus dem Band Peter Huchel: Gesammelte Werke Band 1 – Die Gedichte. –
PETER HUCHEL
Winterpsalm
für Hans Mayer
Da ich ging bei träger Kälte des Himmels
Und ging hinab die Straße zum Fluß,
Sah ich die Mulde im Schnee,
Wo nachts der Wind
Mit flacher Schulter gelegen.
Seine gebrechliche Stimme,
In den erstarrten Ästen oben,
Stieß sich am Trugbild weißer Luft:
„Alles Verscharrte blickt mich an.
Soll ich es heben aus dem Staub
Und zeigen dem Richter? Ich schweige.
Ich will nicht Zeuge sein.“
Sein Flüstern erlosch,
Von keiner Flamme genährt.
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Ich stand auf der Brücke,
Allein vor der trägen Kälte des Himmels.
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
der vereiste Fluß
Auch dieser Text will für sich selber stehen und sich nach Möglichkeit behaupten gegen seine Interpreten, gegen etwaige Spekulationen, Erhellungen und Biographismen, womit dem Interpreten keineswegs das Recht abgesprochen sei, mit legitimen Mitteln den Text zu deuten und dessen einzelne Schichten aufzudecken. Dem Autor indes ist es nahezu verwehrt, den gewonnenen Sprachraum auf jene Distanz zu verlassen, die für eine Selbstinterpretation Voraussetzung wäre. Bei diesem Versuch liefe er Gefahr die vorliegenden Metaphern gegen neue auszutauschen. Auch gäbe es kein sicheres Zurück in den Beginn, Wortklänge, Bildvisionen, auf kein Thema hin geordnet (träge Kälte des Himmels, Mulde im Schnee, Wind mit flacher Schulter gelegen, Kehle des Schilfrohrs), das war alles – ein paar Eisenspäne gewissermaßen, noch außerhalb des magnetischen Feldes. Im späteren Prozeß das Bild als Gleichnis. Und wenn sich dort am äußersten Rand Erfahrung mitteilt, so ist das durch die Situation bedingt und kein Verschlüsseln aus Manier. Hier ist dem Autor wiederum die Analyse verwehrt. Überdies glaubt er, daß es keine Schwierigkeiten bietet, in den Sinn des Textes einzudringen. Die Sprache ist einfach, nichts wird verdunkelt. Trägt das Bild einen Gedanken oder schlägt der Gedanke in ein Bild um, die Metapher bleibt klar. Der Text ist ein Monolog, der in die Stimme des Windes eingeht:
Alles Verscharrte blickt mich an.
Soll ich es heben aus dem Staub
Und zeigen dem Richter? Ich schweige.
Ich will nicht Zeuge sein.
Die Stimme des Windes evoziert die Gegenstrophe, vier Zeilen eines Psalms. Anruf in einer erstarrten, beklemmenden Landschaft:
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Der Leser wird seine eigenen Erfahrungen in den Text legen und alles messen an seiner eigenen Haltung. Es ist seiner inneren Einstellung überlassen, inwieweit er die Stimme des Windes als mea res agitur empfindet oder ob er die kreatürliche Angst vor der Gewalt (ich will nicht Zeuge sein) als Schwäche verurteilt. Sind nicht, wie ein verborgener Dialog, die beiden Stimmen so gegeneinandergesetzt, daß im Zentrum des Textes die Isolation gebrochen wird? Aber der Monolog – als letzte, uneinnehmbare Position – bleibt von der Stimme des Windes und vom Anruf unberührt. Der Monolog kehrt am Schluß zu seinem Ausgangspunkt (allein vor der trägen Kälte des Himmels) zurück, er bietet keine Prophetie. Der Monolog stellt die Frage, die nicht beantwortet wird:
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
Der vereiste Fluß?
Peter Huchel, Gesammelte Werke in zwei Bänden, Bd. 2: Vermischte Schriften, Suhrkamp Verlag, 1988
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