Peter Hutchinson: Zu Peter Huchels Gedicht „Der Garten des Theophrast“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Der Garten des Theophrast“ aus dem Band Peter Huchel: Gesammelte Werke Band 1 – Die Gedichte. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Der Garten des Theophrast
Meinem Sohn

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.

 

„Der Garten des Theophrast“ – Ein Epitaph für Peter Huchel?

Man muß bedauern, daß Peter Huchel heute in England so wenig bekannt ist, denn obgleich sein Werk kaum kritische Erörterung gefunden hat, ist er zweifellos einer der größten lebenden Lyriker Deutschlands. Huchels Ansehen im Osten wie im Westen gründet sich jedoch nur zum Teil auf seine Gedichte; es beruht mindestens ebenso, wenn nicht gar zum größeren Teil, auf seiner Tätigkeit als Herausgeber von Sinn und Form, die er vom ersten Heft im Jahre 1949 an vierzehn Jahre ausübte. Auf Betreiben von Johannes R. Becher, des damaligen Präsidenten des Kulturbundes der Sowjetischen Zone, wurde er Chefredakteur, und in kurzer Zeit hatte er die Zeitschrift zum besten literarischen Blatt in beiden Teilen Deutschlands gemacht. Doch gerade das, wodurch sich diese Publikation vor andern auszeichnete, raubte Huchel die Gunst der DDR-Kulturspitze und führte schließlich zu seinem Sturz: seine liberale herausgeberische Linie (die ihn nicht nur westdeutsche Schriftsteller, sondern auch so berühmte unorthodoxe Marxisten wie Ernst Bloch, Georg Lukács, Hans Mayer und Ernst Fischer veröffentlichen ließ) widerstrebte den führenden Dogmatikern Alfred Kurella und Kurt Hager, die von Sinn und Form eine viel eindeutigere politische Orientierung forderten, als Huchel zuzugestehen bereit war. Allen ihren Protesten und Drohungen zum Trotz blieb Huchel kompromißlos, aber es war deutlich nur eine Frage der Zeit, wann die Duldung seiner „westlichen“ Allüren durch die Partei ein Ende finden würde. Wahrscheinlich trug der Bau der Berliner Mauer zur Beschleunigung bei; nach ernsten Schwierigkeiten mit der Partei Anfang 1962 trat Huchel nach dem Erscheinen der letzten Ausgabe jenes Jahres „freiwillig“ zurück. Er fiel zwangsläufig einigen aus der Vergangenheit herrührenden politisch-kulturellen Attacken zum Opfer, hat aber seither ein zurückgezogenes und unbehelligtes Leben geführt, von den meisten anderen Schriftstellern der DDR geächtet.
Das letzte Heft von Sinn und Form, das Huchel herausgeben sollte, enthielt das folgende Gedicht:

DER GARTEN DES THEOPHRAST
Meinem Sohn

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.

Eine klare Intention Huchels läßt sich diesem Gedicht schwer entnehmen; es beeindruckt formal, besitzt jedoch keine scharf umrissene „Bedeutung“. Freilich gibt es drei Ebenen, auf denen man Bedeutung untersuchen kann: zunächst an der Oberfläche, wo die Klage eines Sterbenden über persönlichen Verlust und Verfolgung als Thema erscheint. Die zweite Ebene ist die der klassischen Bezüge: indem der Leser dem Leben der zentralen Figur, Theophrast, nachgeht, klären sich für ihn bestimmte rätselvolle Bilder und Motive des Gedichts, insbesondere die Dominanz von Begriffen aus dem pflanzlichen Bereich. Schließlich gibt es die persönliche Ebene: obgleich es beim Interpretieren ungemein helfen kann, wenn man die klassischen Anspielungen verfolgt, so scheint mir doch ein vollständig befriedigendes Verständnis des Gedichtes nur auf dem Weg über die biographische Untersuchung erreichbar. Zudem glaube ich, daß der Dichter die Suche nach einer persönlichen metaphorischen Ebene erwartete – daß er also die rätselhaften Bilder als Maske gebrauchte, um den Leser dazu zu verleiten, sich in die Tiefe der Bezüge unter der Oberfläche des Gedichts einzulassen.
Leider hat bisher nur ein Kommentator klar erkannt, wie wichtig für das Verständnis von Huchel die Betrachtung der biographischen Umstände seines Werdegangs ist. Insbesondere entbehrt nicht der Ironie, daß selbst ein so hervorragender Literaturwissenschaftler wie Hans Mayer, der nicht nur ein naher Freund des Dichters war, sondern sogar selbst von „Doppeldeutigkeit“ und „Geheimsprache“ in der Literatur der DDR gesprochen hat, die klassische Fassade von „Der Garten des Theophrast“ nicht durchdringen konnte, und daß Michael Hamburger, der den Nachweis einer persönlichen Grundlage des Gedichts für sich geltend machte, es desungeachtet so allgemein behandelt, daß unersichtlich bleibt, wie er es interpretiert. Lediglich Robert Lüdtke hat mit Erfolg nach biographischen Bezügen geforscht; da er diese jedoch nur kurz skizziert und gewisse, meines Erachtens bedeutsame Punkte übergeht, dürfte eine ausführlichere Interpretation gerechtfertigt erscheinen.

„Der Garten des Theophrast“ beginnt mit einem rätselvollen Bild: Flammen der Dichtung erheben sich über Urnen. Hier mag eine literarische Anspielung intendiert sein, in jedem Fall aber eine unverständliche. Die Urne selbst ist natürlich ein traditionelles Symbol des Todes (zumal für die Asche, die nach dem Tod zurückbleibt), aber an diesem Punkt muß eine solche Andeutung vielsinnig bleiben; sie läßt sich nur im Licht dessen, was folgt, interpretieren. Das Bild bewirkt, daß der Leser unverzüglich in die Welt des Dichters eintaucht – weder jetzt noch später erhält er irgendwelche Zugeständnisse; es wird von ihm erwartet, daß er sich ohne Hilfe in diesem persönlichen Zeugnis zurechtfindet, das noch obendrein an den Sohn des Dichters gerichtet ist.
Der Vorgriff – „Wenn (…)“ – und das Enjambement der ersten beiden Verse wecken im Leser ein Gefühl der Erwartung und leiten hinauf zu einem rhythmischen Höhepunkt in den ersten Wörtern von Vers 3. Die Kürze dieses Satzes steht in plötzlichem Kontrast zu der Länge des Vorhergehenden, während die Pause nach dem feierlichen Gebot „Gedenke“ sowie die rauhen Laute „g“, „d“ und „k“ die Vorwärtsbewegung aufhalten; so fällt die steigende Kadenz der ersten beiden Verse schroff im Verlauf einer halben Zeile. Weiter verstärkt wird das Gewicht dieses Satzes durch den Kontrast zum Vorangehenden hinsichtlich der Verständlichkeit: seine Schlichtheit steht kraftvoll gegen das Dunkel des ephemeren Eröffnungsbildes. Die Wiederholung von „Gedenke“ besitzt mehrfache Wirkung: sie betont das Thema Erinnerung, indem sie unterstreicht, daß das Gedicht für die Nachwelt bestimmt ist; sie bringt einen würdevollen Ton hinein, der durch den ein wenig archaischen Charakter des Verbs „gedenken“ noch verstärkt wird; vor allem aber dehnt sie den Höhepunkt bis auf die Schlußwörter von Vers 4 aus. Das Gewicht, das diesen Wörtern in ihrer Klimax-Stellung normalerweise zukäme, wird durch zwei Faktoren noch gesteigert: zunächst sind sie durch die Wiederholung in Vers 3 aufgeschoben, die zur Folge hat, daß man erst in der vierten Zeile zu dem Objekt von „Gedenke“ vordringt; so kommt zu Beginn von Vers 3 eine steigerungsträchtige Spannung auf – wo das Verb ohne einen nachfolgenden Genetiv gebraucht ist –, die sich erst löst, wenn man die abschließende erläuternde Ergänzung erreicht. Und zweitens wird nach „einst“ eine winzige Lesepause notwendig; so verleiht die Retardierung des Rhythmus den folgenden Wörtern mehr Nachdruck, und entsprechend ragt die Wortgruppe „Gespräche wie Bäume gepflanzt“ als grammatische, rhythmische und folglich auch emotionale Klimax hervor. Beim ersten Lesen mag einem die Bedeutung dieser Wendung dunkel erscheinen, doch gerade die Qualität des Ungewöhnlichen, die der Metapher anhaftet, hilft beim Interpretieren. Der Leser kommt kaum umhin, sich an eine ähnlich ungewöhnliche Verknüpfung in Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ gemahnt zu fühlen, und der Vers bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn man ihn als Anspielung darauf erkennt:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Diese Vermutung wird gestützt durch die Tatsache, daß „An die Nachgeborenen“ zu Brechts bekanntesten Gedichten gehört, zumal in der DDR, wo sein Thema besondere Relevanz besitzt und die genannten Zeilen daraus am häufigsten zitiert werden. Huchel ist mit Brechts Werk wohlvertraut; die Dichter waren Freunde, solange Brecht lebte, und nach seinem Tod erschien in Sinn und Form wiederholt Material aus seinem Nachlaß. Und das Heft, in dem „Der Garten des Theophrast“ erstveröffentlicht wurde, enthielt einen bis dahin unpublizierten Essay von Brecht, nämlich seine „Rede über die Widerstandskraft der Vernunft“. Die Nebeneinanderstellung so ungewohnter Wörter wie „Gespräche“ und „Bäume“, die jedoch dem Dichter wie seinem Publikum aus einem andern Zusammenhang genau bekannt war, spricht deutlich für die Vermutung, es handle sich hier um eine bewußte Anspielung.
Geht man einmal davon aus, so kehrt Huchel offen Brechts Wertskala um. Wo dieser „Gespräche über Bäume“ (d. h. über das Schöne und somit Irrelevante) verdammt, scheint Huchel auf seine Aufmerksamkeit für solche Gegenstände stolz zu sein. Jedenfalls läßt der ernste, durch den schwerfälligen Rhythmus noch verstärkte Ton den Schluß zu, daß der Dichter etwas zur Nachahmung empfiehlt. Eine weitere wörtliche Parallele zwischen „An die Nachgeborenen“ und „Der Garten des Theophrast“ deutet auf genau denselben Punkt hin: das Verb „gedenken“, das in beiden Gedichten thematisch zentral vorkommt. Während sich Huchel aus einem Gefühl des Stolzes und Märtyrertums heraus zubilligt, an die Erinnerung seines Sohnes zu appellieren, ist Brecht von Scham erfüllt, weil sein Werk der historischen Situation nicht angemessen ist; er bittet darum die Nachwelt, sich seiner Generation mit Nachsicht zu erinnern: „Gedenkt unsrer! Mit Nachsicht.“ Wie Huchel wiederholt Brecht dieses Verb und gebraucht es das erste Mal ohne nachfolgenden Genetiv, um eine Spannung zu erzeugen; so gehäufte Indizien beweisen praktisch, daß wir es mit einem kryptischen literarischen Zitat zu tun haben.
Rhythmisch wie thematisch folgt darauf ein plötzlicher Bruch im Gedicht. Vers 5 ist förmlich ein Aufschrei, und das Schreckliche der Situation wird durch die ungewohnte Stellung des Wortes „tot“ noch intensiviert; es ist zudem die einzige voll betonte Anfangssilbe im ganzen Gedicht. In der Kürze der folgenden Kola wie auch in ihrer parataktischen Anordnung spiegelt sich das Gefühl von Atemlosigkeit, auf das schon mit „Mein Atem wird schwerer“ hingewiesen wird, jedoch scheint dieses neue Thema in keiner Beziehung zum vorangehenden zu stehen, und auch die folgenden Verse tragen kaum zu seiner Interpretation bei; sie dienen einzig dazu, eine Verbindung zum Titel herzustellen. Aber sie greifen das Thema der Erinnerung neu auf, wiederum mit einer leicht archaischen Wendung: „bewahre die Stunde“; wie „gedenke“ (Vers 3) hat auch „bewahre“ einen biblischen Klang, und beide Verben erhalten durch ihre Stellung am Beginn des Verses Gewicht. Solch feierliche Gebote bewirken eine Verdichtung der Aura von Würde, die den Sprecher umgibt; ja im Verbund mit der Widmung, der strengen Form und der undurchsichtigen Bildwelt erheben sie ihn beinahe zum Seher.
Die Verse 7 und 8 kehren zum Thema des Gartens zurück und verdeutlichen die Stellung Theophrasts im Gedicht. Im Gegensatz zu der vorhergehenden Parataxe strömen diese Verse wieder Ruhe aus, eine Wirkung, die durch Assonanzen und Alliterationen unterstützt wird. Die entschiedenen „b’s“ in „binden“ und „Bast“ werden verstärkt durch die aneinander anklingenden „nd’s“ in „wunde“, „Rinde“ und „binden“; dies rundet die Atmosphäre von Harmonie und sich sammelnder Kraft, die dem Vers eignet. Hierzu tragen weiter die entschiedenen Anfangs- und Endkonsonanten des einsilbigen Abschlußwortes „Bast“ bei, während ein anderer Aspekt der Konvergenz im Reim „Bast“ – „Theophrast“ zu erblicken ist. Wie alle Reime befriedigt dies den Leser lautlich, spiegelt so den Gefühlsgehalt des Verses wider und vertieft die in dessen Bedeutung enthaltene emotionale Erfahrung. übrigens sind nur wenige der späteren Gedichte Huchels gereimt, doch das hier angewandte unorthodoxe Reimschema (wo der zum ersten Vers gehörende Reim erst viel weiter unten im Gedicht erscheint) findet sich in verschiedenen seiner früheren Arbeiten.
Eine weitere Zäsur folgt; im letzten Teil herrscht ein ruhigerer Ton und eine Spur von Bedauern. Die Bilder geben wieder Rätsel auf, und nur ein Faktum wird sogleich evident: der Befehl, den Olivenbaum zu entfernen, hat die innere Kraft des Dichters nachhaltig gebrochen. Mit dem „ist noch“ in Vers 10 kommt ein leiser Hoffnungsschimmer auf, doch die letzten Verse lösen diese Spannung zugunsten eines eindeutig düsteren Tons. Der vorletzte Vers wirkt plötzlich hart – „sie gaben Befehl“ ist brüsk, das Verb „roden“ gemahnt an Gewalt, und der sozusagen theoretische Reim, der dieses Wort mit „Boden“ verbindet, wird wegen des weiten Abstandes kaum fühlbar. Der hier geschaffene Mißton löst sich in der Schlußzeile wenigstens auf der lautlichen Ebene: die dort dominierenden „s’s“ und „l’s“ haben im wesentlichen einen sanften Klangcharakter und, in diesem Rhythmus, eine mimetische Funktion. Der Gefühlswert des Verbs „sinkt“ wird insbesondere untermauert durch den auf zwei Jamben folgenden Daktylus: das bedeutet, daß zwei Akzente an der Zäsur zusammenfallen, während die beiden folgenden unbetonten Silben im Vergleich dazu ,wegsinken‘. Die abschließende Silbe „Laub“ trägt nur Nebenton, und auch hier ist der Klangcharakter wieder weich („l“ und am Ende „b“): durch kunstvolle Verwendung von Reim- und Klangmitteln gelingt es Huchel vorzüglich, dem herbstlichen Sinn des Verses Nachdruck zu verleihen.
Ich habe oben die Eindrücke angedeutet, die sich aus einer formalen Betrachtung von „Der Garten des Theophrast“ gewinnen lassen. Auf dieser Stufe erscheint es als ein Gedicht, das beachtliche poetische Kunstfertigkeit aufweist, aber durch seine offenbar miteinander unverbundenen Bilder verwirrt. Zwar sind diese für sich genommen durchaus verständlich, aber ihre Bedeutung innerhalb des Ganzen ist dunkel. Ein weiterer rätselhafter Zug ist der scheinbar fehlende Zusammenhang zwischen den drei, aus je vier Versen bestehenden „Strophen“. Darüber hinaus läßt sich schwer sagen, was genau die seelische Krise im Dichter hervorgerufen hat, obgleich die unverbundenen Gedanken seinen inneren Zustand widerspiegeln mögen; der Befehl, die „Wurzel“ zu entfernen, allein erscheint dafür als ein zu trivialer Anlaß. Geht man das Gedicht auf der Ebene der klassischen Bezüge durch, so lassen sich einige dieser geheimnisvollen Punkte aufklären, jedoch beileibe nicht alle.

Das Gedicht gründet sich auf eine Krise im Leben des Theophrast, eines wenig bedeutenden griechischen Philosophen und Botanikers. Für diese Untersuchung sind folgende Aspekte seines Lebens relevant: erstens, daß er der Nachfolger von Aristoteles als Haupt der Peripatetischen Schule war, und zweitens, daß sein Ruhm vornehmlich auf seinen botanischen Arbeiten beruht. Diese zu kennen, hilft sicherlich bei der Interpretation des Gedichts: der Garten (wo Theophrast sich mit seinen Freunden zu unterhalten liebte), die Olive (der für Athen charakteristische Baum), die Verwendung von Eichenlohe (von Theophrast in seiner Naturgeschichte der Gewächse verlangt), die Sorgfalt beim Pflegen der Bäume, der Schmerz über den Befehl, die Wurzel zu entfernen – alles bekommt eine tiefere Bedeutung. Ebenso wie in Gérard de Nervals El Desdichado Anspielungen auf klassische und mythische Gestalten das Grundthema Verlust ergänzen, so untermauern auch in Huchels Gedicht diese historisch verifizierbaren, Theophrast bezeichnenden Züge bestimmte, bereits empfangene Eindrücke. Und doch verleihen diese Züge dem Gedicht zwar eine tiefere, aber keine lebendigere Bedeutung; das Wissen um die klassische Gestalt, um die herum das Gedicht gebaut zu sein scheint, erklärt nur kleine Details und betrifft kaum den Sinn des Ganzen. Einer ernsteren Überlegung wert ist jedoch der Umstand, daß sich gewisse Elemente der klassischen Analogie offenbar widersetzen; der Verweis auf  „Vers“ zum Beispiel, der zu einem Philosophen und Botaniker schlecht passen will; während der Ausgangspunkt des Gedichtes – eine Krise, die dadurch hervorgerufen wird, daß man den Sprecher verfolgt mit der Zerstörung dessen, was ihm teuer ist – auf den klassischen Theophrast in keiner Weise zutrifft. Wenn dieser auch in seinen frühen Jahren verfolgt wurde (er mußte Athen eine Zeitlang verlassen), so wurde er doch in seinem späteren Leben hoch geachtet, besonders zur Zeit seines Todes. Tatsächlich wirkt der klassische Rahmen immer verwirrender, je genauer man die Anspielungen mit dem Thema vergleicht; die meisten Anspielungen scheinen in diesen Rahmen zu passen, aber das Thema ist ihm fremd. An diesem Punkt sieht sich der Leser gezwungen, das Gedicht im Licht der Biographie zu betrachten; wie im Fall von Nervals Werk kann er nur auf diese Weise zu einer völlig befriedigenden Deutung solch scheinbar einander widersprechender Züge gelangen.

„Der Garten des Theophrast“ erschien zuerst gedruckt im letzten Heft von Sinn und Form, das Huchel herausgeben sollte: es stand als erstes einer Folge von sechs seiner eigenen Gedichte, und vielleicht wollte er damit die Aufmerksamkeit darauf lenken. Jedenfalls war sich Huchel nun bewußt, daß sein Rücktritt unmittelbar bevorstand, daß er „ideologischer Koexistenz“ beschuldigt worden war und daß seine Zeitschrift als „Brücke zwischen Ost und West“ galt. Es mußte ihm nahe liegen, seine Gefühle an einem so kritischen Punkt seiner Laufbahn poetisch auszudrücken (wie schon früher in solchen Lagen, zumal während des Krieges), und „Der Garten des Theophrast“ scheint mir das Gedicht zu sein, in dem er dies getan hat; es gibt kein anderes Werk, das die Krise erwähnt.
Die Figur des Theophrast ist ganz deutlich eine Maske für die des Dichters Huchel. Zu diesem Zeitpunkt hätte er seine Gefühle schwerlich direkt ausdrücken können; abgesehen von ästhetischen Gründen hinderte ihn schon die Möglichkeit von Repressalien daran. Statt dessen hat er eine klassische Gestalt gewählt, um seine Intentionen zu verbergen – ein traditionsreiches poetisches Verfahren. Paradoxerweise wird jedoch die Funktion der Parallele zwischen Huchel und Theophrast erst evident, sobald wir verstehen, daß es keine echte Parallele ist; und der Leser, der ein Werk über Theophrast zu Rate zieht (worum man im Falle einer solchen Nebengestalt nicht herumkommt), sticht dies sofort ins Auge. Wie wir weiter oben betonten, läßt sich das Thema des Gedichts nicht auf den Griechen übertragen, wie gründlich man seinem Leben auch nachgeht, und einige andere Aspekte erscheinen ebenfalls nicht passend. Ihnen kann eine spezifisch poetische Funktion nur zugewiesen werden, wenn man sie im biographischen Licht untersucht.
Der erste Hinweis, daß das Gedicht eine persönliche Äußerung verbirgt, ist in der Widmung enthalten: „meinem Sohn“. Es ist deshalb unwahrscheinlich, daß sich die folgenden Verse ausschließlich auf Theophrast beziehen; Huchels Sohn zumindest würde sich mehr an persönlichem Inhalt daraus erwarten, als die allgemeinen, einen unbedeutenden Philosophen und Botaniker betreffenden Informationen. Zudem stellt „Der Garten des Theophrast“ das einzige Gedicht in Huchels gesamtem Schaffen dar, das ausdrücklich seinem Sohn gewidmet ist: das deutet sicherlich darauf hin, daß es wichtig und an die Nachwelt gerichtet ist. Die Andeutung einer Parallele, oder, andererseits, des Fehlens einer solchen, taucht in Vers 6 auf. Vier Verse lang hat Huchel zunächst eindeutig mit seiner eigenen Stimme gesprochen (in der, die ihn die Widmung so fassen ließ, wie er sie faßte), doch dann hält er sich für den verbleibenden Teil des Gedichts eine persona vor und identifiziert sich mit Theophrast in dessen besonderer Rolle als Gärtner. Wenn dieser nun auch für seine botanischen Interessen wohlbekannt ist, so schrieb er doch keine Lyrik; ja er scheint nicht einmal ein großer Liebhaber davon gewesen zu sein. Das wäre an sich ohne Bedeutung, wenn die Theophrast betreffenden Anspielungen metaphorisch auf die Situation des modernen Dichters paßten, jedoch einige von ihnen (vor allem der vorletzte Vers) sind deutlich nicht relevant für das Leben des Griechen. Dies Paradox läßt sich auflösen, wenn man versteht, daß Huchel sich nur teilweise mit dem archetypischen Pfleger der Pflanzen identifiziert – wirkliche Parallelen zwischen beiden auf der metaphorischen Ebene finden sich meines Erachtens nur in den Versen 7 und 8, während Huchel die botanischen Bilder sich im übrigen Gedicht zu eigen macht, um indirekt seine eigene beklagenswerte Lage anzudeuten.
Die Verkehrung von Brecht läßt sich nun klarer verstehen; damit ist impliziert, daß Huchel/Theophrast sich entschlossen der künstlerischen Seite des Lebens gewidmet hat und sich von der Diskussion grundsätzlicherer Fragen fernhält; das Schöne (aber Irrelevante) hat vor dem sozialen Engagement Vorrang erhalten. Derlei Selbstbeschuldigung, oder, was als wahrscheinlicher gelten kann: derlei Selbstbeglückwünschung läßt sich allerdings mit dem Werk des Dichters vereinbaren, das zum größten Teil nicht sozial engagiert ist, wie auch mit der Zeitschrift Sinn und Form; Huchels Ziel war eine Zeitschrift von hohem literarischen Niveau, nicht eine, die Arbeiten vornehmlich wegen ihres Inhalts oder wegen ihrer Bedeutung für den sozialistischen Fortschritt veröffentlichte.
In Brechts Gedicht braucht sich das Wort „Gespräche“ nur auf alltägliche Unterhaltungen zu beziehen, bei Huchel jedoch deutet die Klimax-Stellung, die es einnimmt, auf eine viel größere Signifikanz; ja, es dürfte wohl für die höchsten Errungenschaften des Dichters stehen. Für Huchel sind „Gespräche“ das, worum es eigentlich geht; der wirkliche Dialog ist so wichtig für die Nachwelt wie Bäume, und wie bei diesen dauert es oft viele Jahre, bevor man ihren Wert zu schätzen weiß (übrigens beginnen Olivenbäume erst nach langer Zeit Früchte zu tragen). Ein weiterer Sinn ist, daß alle Bäume im Garten „Gespräche“ darstellen; Huchel hat nicht als einziger Gespräche wie Bäume gepflanzt – „Gedenke derer, die (…)“ –, aber er ist als einziger übriggeblieben; sein Baum allein hat überlebt. Der Beachtung wert ist auch, daß, obwohl „Gespräche wie Bäume gepflanzt“ strenggenommen eine Metapher darstellt (ein Verb mit zwei disparaten Substantiven verbunden), daß dennoch das offenkundige „wie“ die Aufmerksamkeit auch des unsensibelsten Lesers auf das Bild des Baumes lenkt. Nachdem also die Analogie zwischen Gespräch und dem Pflanzen von Bäumen bereits früh im Gedicht angelegt ist, kann man alle weiteren Verweise auf das Tun des Gärtners metaphorisch verstehen – somit ist der Leser auf metaphorischen Hintersinn gefaßt und auch berechtigt, danach zu suchen, wenn der Baum in Vers 8 von neuem eingeführt wird:

(…) hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.

In seiner kurzen Analyse bemerkt Lüdtke, daß diese Verse „gleichnishaft formuliert, eine sehr genaue Beschreibung der Funktion [geben], die Peter Huchel jahrelang im Bereich der mitteldeutschen Literatur ausgefüllt hat“. Die Bildwelt entspricht dem in der Tat, wenn wir erst einmal akzeptiert haben, daß „Gespräche wie Bäume gepflanzt“ die Vernachlässigung des sozialen zugunsten des kulturellen Bereichs andeutet, und wir sind daher versucht, weitergehende Rekonstruktionen und Konjekturen anzustellen, die sich an der Biographie orientieren. Es bleibt natürlich das Problem, wie weit es noch vertretbar ist, die metaphorische Ebene auszuleuchten; man könnte die Assoziationen zu diesen Bildern weit über die Grenzen jener Bedeutung hinaustreiben, die der Dichter intendiert hat. So ist zum Beispiel die Eiche ein Symbol der Stärke und des Alters (besonders in der deutschen Tradition): spielt dann also „mit Eichenlohe zu düngen den Boden“ darauf an, daß Huchel den DDR-Bürgern Anregung bot, indem er Klassiker des Auslands in neuen Übersetzungen von hoher Qualität publizierte? Ähnlich könnte man den folgenden Vers interpretieren: „Die wunde Rinde zu binden mit Bast“ beschreibt die heilende Tätigkeit des Gärtners; nimmt Huchel hier Bezug auf seine schwierige Aufgabe als Hüter der bedrohten und beschädigten Kultur im östlichen Teil Deutschlands? Oder ist die Personifizierung in „wunde Rinde“ im wörtlichen Sinne auf jene DDR-Schriftsteller gemünzt, die wegen ihrer „Dekadenz“ attackiert wurden, in einigen Fällen ins Gefängnis kamen? Nimmt man an, Huchel selbst sei der „Gärtner“, dann kann man sich solchen Spekulationen schwer entziehen. Ja, da die Heilverfahren, die Huchel aus Theophrasts Naturgeschichte der Gewächse auswählt, keineswegs die wichtigsten sind, mag es sehr wohl in des Dichters Absicht gestanden haben, daß der Leser jeder möglichen Parallele bis ins einzelne nachspürt.
Lüdtke hat angemerkt, „der Garten“ (Vers 5) beziehe sich auf Sinn und Form, doch er bleibt uns die näheren Erklärungen zu dieser Behauptung schuldig. Ich möchte statt dessen vermuten, daß damit die DDR gemeint ist und daß sich der „Ölbaum“ in Vers 9 auf die Zeitschrift bezieht. Wenn man so analogisiert, ergibt sich eine befriedigendere Struktur. Zum Beispiel erscheint Vers 9 dann in viel klarerem Licht: Sinn und Form, die einzige im Osten wie im Westen verkaufte Zeitschrift, wird gesehen als etwas, das die beschränkende Mauer durchbricht:

Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer

Jedenfalls gemahnt „spalten“ an die Teilung Deutschlands; im Osten wird das Verb seit längerem pejorativ zur Beschreibung der Aktionen des Westens gebraucht, und man würde sofort die Frage der Teilung dazu assoziieren. „Gemäuer“ muß sich meines Erachtens auf die Berliner Mauer beziehen, ungeachtet dessen, daß man bei diesem Wort eher an ein Gebäude denn an eine Mauer denkt und daß das Epitheton „mürb“ dem stabilen Bau des Jahres 1962 nicht angemessen scheint. Man muß die Wendung jedoch metaphorisch verstehen, und möglicherweise ist damit die seit 1948 bestehende geistige Mauer gemeint; eine offenkundige Bezugnahme auf „Die Mauer“ hätte Huchels Absicht vereitelt.
Der Olivenbaum, und besonders sein Zweig, gilt traditionell als Symbol des Friedens, während er in Huchels Lyrik wiederholt als Symbol der Schönheit vorkommt. Verwendet der Dichter dieses Bild, um auf die humanitären und/oder ästhetischen Zielsetzungen von Sinn und Form im Osten wie im Westen zu verweisen? Eine andere Ansicht ist die von Hans Mayer, der die Olive nur in ihrem klassischen Kontext als der Pallas Athene geheiligt sieht, die zur Allegorie der Weisheit wurde. Die Implikationen dieser These würden ebenfalls passen: man könnte in der Verbreitung von Weisheit sehr wohl ein vorrangiges Ziel der Zeitschrift erblicken.
„Der Garten des Theophrast“ erschien in dem letzten Heft, das Huchel herausgab, und vielleicht kann er darum sagen: „und ist noch Stimme“; aber er weiß, ihm steht die Entfernung aus seiner Position bevor – „Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden“. Die Wurzel des Baums, die Quelle des Lebens, muß sich auf den Dichter beziehen, das ausdrückliche „sie“ (nicht etwa ein anonymes „man“) auf die politische Spitze. Man hat zu beachten, daß die Wurzel des Baums zerstört werden soll, nicht der Baum selbst; auch dies könnte man metaphorisch verstehen – obwohl Huchel aus seiner zentralen Stellung verdrängt wurde, so lebte Sinn und Form doch unter einem neuen Herausgeber, Bodo Uhse, fort. Wie man weiß, konnte sich das Niveau, das er und sein Nachfolger erreichten, nicht mit dem messen, das Huchel der Zeitschrift gesetzt hatte.
„Der Garten des Theophrast“ allegorisiert Huchels Situation am Ende des Jahres 1962; mit einer klassischen Analogie verleiht der Dichter einer persönlichen Klage Ausdruck. Verfolgt der Leser diese Analogie bis an ihre Quelle, so stellt er fest, daß nur einige Aspekte des Gedichts auf das Leben des Theophrast passen, während andere viel mehr Relevanz für die Situation des Dichters selbst besitzen. Dessen Identifikation mit seinem Modell ist also nur eine partielle, und indem er es zuläßt, daß man nur durch elementares Nachfragen herausfindet, wo Abweichungen der Situation des einen von der des andern vorliegen, lenkt er die Aufmerksamkeit ab von der klassischen Fassade und auf seine eigene geistige Krise hin. Setzt man dies voraus, so liest sich „Der Garten des Theophrast“ ganz deutlich als Huchels Epitaph für Sinn und Form. Einigen Lesern des letzten Heftes von 1962 muß dies bewußt geworden sein, doch späteren Kommentatoren ist die Schlüsselbedeutung der Zeitschrift für das Ganze entgangen; vermutlich, weil anscheinend keiner von ihnen beachtet (jedenfalls betonen sie es nicht), daß das Gedicht zuerst in Sinn und Form erschien, nicht in der Sammlung Chausseen Chausseen, die 1963 publiziert wurde und auf die gewöhnlich verwiesen wird. Es ist jedoch unmöglich, das Gedicht losgelöst von seinem ursprünglichen Kontext zu interpretieren; wie man es auch auf der emotionalen Ebene nicht angemessen würdigen kann, denn aus seinem Kontext schöpft es sein Pathos.
Das Gedicht „Der Garten des Theophrast“ richtet sich, wie das Brecht-Gedicht, auf das es anspielt, „An die Nachgeborenen“, und genau darum gibt es einer gewissen Hoffnung Ausdruck: daß nämlich die Nachwelt den Wert von Huchels Werk erkennen wird. Dies dürfte eindeutig aus dem ersten, verwirrenden Bild hervorgehen, auf das ich jetzt zurückkommen möchte:

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt.

Huchel bezieht sich nicht nur auf sich selbst, sondern auf die Urnen all der andern, die sich der Kunst gewidmet haben – „gedenke derer, die (…)“ –, und er sieht in dem künftigen Betrachter jemanden, der ihr Opfer anerkennt. Wie Lüdtke gezeigt hat, ist dies Bild zunächst „ein reales Bild“; doch es ließe sich mit einem so allegorischen Gedicht nicht vereinbaren, wollte man den Symbolwert des Verses ignorieren: das Werk der Dichter, das ist hier zweifellos gemeint, lebt über ihre Asche hinaus weiter. So reiht Huchel sich als letzter ein in die lange Folge von Schriftstellern, die mit ihrem Werk ihr Angedenken zu bewahren suchten, und in dieser Hinsicht – aber allein in dieser – enthält „Der Garten des Theophrast“ eine Spur Optimismus.

Peter Hutchinson, German Life & Letters, Heft 24, Januar 1971
übersetzt von Angela Praesent

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