– Zu Rainer Kirschs Gedicht „Sonett“ aus Rainer Kirsch: Ausflug machen. –
RAINER KIRSCH
Sonett
Und als die siebente Stunde Frühe schlug
Erwachten wir sehr blaß in ihrem Bette.
Ich fragte, ob ich sie genügend hätte.
Sie sagte: nein. Und wie ich sah, mit Fug –
Genug, sprach sie, ists nie. Selbst sieben Male
(Ich will nicht lügen, fünf, doch gut für sie)
Sind nichts, wenn sie vorbei sind, d.h. fast nie
Mehr als Erinnerung, und was soll die: male
Den Mund mir mit den Lippen rot, und laß
Die Sonn (sie sagte: Tags Stern) mir am Bauch
Allein nicht, sie könnt friern, ich denke, Rauch
Geraucht, wird kalt, wir sind nicht Rauch: nur daß
Du mich jetzt faßt, beweists, komm laß uns wippen.
Da fing mirs an. Sie hat geschickte Lippen.
Als ich von meinem Vorhaben, der Frankfurter Anthologie von Rainer Kirschs Sonett Bescheid zu geben, den Dichter Martin Opitz unterrichtete, befand der, dies sei ja schon wieder ein „klincgeticht“, erbot sich aber dennoch, mich in den Salon am Main zu begleiten „wiewol es mir nicht gefallen wil“.
Derart ermutigt, wenn auch zweischneidig, begab ich mich zum angegebenen Ort und erwartete nichts mehr als das lasche Abwinken der Jüngeren, von denen ich wußte, daß sie mit Sonetten soviel am Hut haben wie die modernen Mafiosi mit der Hühnerfeder des Räuberhauptmanns. Allem die Älteren hatten sich in respektabler Menge zur Begutachtung eingefunden. Ich verteilte rasch den Text und sparte nicht mit Hinweisen auf die Herausforderung des alten Themas (Vergänglichkeit! Vergänglichkeit!), lobte die spielerische Ausführung und die egomane Behandlung und erinnerte, daß wir mit erotischen Bildern derzeit nicht eben reich bedacht seien. Man bat um Ruhe. Man wollte sich, völlig unzeitgemäß, vom Gedicht belehren lassen und nicht umgekehrt. Nur Schiller und Hölderlin verzogen sich in eine Ecke. Sie hatten nie etwas mit Sonetten zu tun gehabt und wollten es auch dabei bleiben lassen.
Schließlich brach es aus Johann Heinrich Voß heraus. „Grillenhafte Reimkünstelei“ schrie er, „galante Sehellentracht, altfränkischer Klingelschuh“, und wir konnten schon froh sein, daß er nicht noch mehr Schaum vor den Mund brachte. „Na und“, schrie der dicke Franz Werfel zurück, „im Deutschen müssen sich die Sachen reimen“, erntete aber nur schallendes Gelächter von allen, die sich reimlos ausgewiesen hatten. Und inmitten des Lärms skandierte Alfred Lichtenstein, als sei die Kenntnis der Klassiker Kirschs einziges Vergehen, unentwegt fünfhebige Jamben auf die Tischplatte:
Wer trillert nun die imitierte Flöte: Verlogner Shakespeare und erborgter Goethe.
Der wiederum, offensichtlich geniert, murmelte etwas wie: die Sache sei „aus ganzem Holze“. Im übrigen verrate das Vorliegende ein großes Herz, zu dem auch die Liebe zur strengen Form gehöre, beides geeignet, selbst ein Sonett – „Das Allerstarrste“! rief Voß, Goethe imitierend, dazwischen – mit Feuer aufzuschmelzen. Wenn dies auch nicht mit der von ihm gewohnten Kraft, sondern mit der Sparflamme der Lakonik geschehe, so sei dies einzig dem Energiegeiz, der zur Zeit des Autors herrsche, zuzuschreiben.
Nun hielt es auch August Wilhelm Schlegel nicht länger – das Präsidium des Sonettenkränzchens war ihm vorbehalten, wenn auch nicht unumstritten, aber von den Jüngeren wollte keiner, selbst Törne, Endler und Mickel nicht; Brecht hatte vormals schon mürrisch abgewinkt – und Schlegel erhob sich von seinem Sitz und begann seine gezählten Erbsen abwechselnd in die eine oder die andere Waagschale zu werfen. Zwar habe der Autor unziemlich gegen ziemlich alle Regeln verstoßen, die er, Schlegel, für die Herstellung von Sonetten aufgestellt habe – so in der Sorglosigkeit des Reims, so beim geradezu lausbübischen Hang zu Enjambements (an dieser Stelle begann Rilke vornehm zu lachen), und es sei „ganz bestimmt fehlerhaft, Partikeln, die gar nicht für sich allein bestehen können, zu Reimwörtern zu wählen“ –, aber es sei doch unverkennbar, daß durch die Kunstfertigkeit des Autors sein Thema (Lob der Gegenwart oder: Was man hat, hat man!) „aus den Regionen der schwebenden Empfindung in das Gebiet des entschiedenen Gedankens gezogen wird“. Daraufhin ließen es die Dichter gut sein und gingen zusammen auseinander. Mir und Opitz blieb das Weinhaus, wobei mir Opitz nach dem fünften Glas versprach, sich das Sonett noch einmal anzusehen. Aber man weiß ja nie, was man von Dichterworten halten kann.
Peter Maiwald, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992
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