Wissen Sie, es ist ja ein Mischprodukt vom Grund her, von seiner Entstehung her. Die Lyrik tritt in Beziehung zur Lyra.
(Peter Rühmkorf, 1987)
Wer von Jazz & Lyrik spricht, meint auch Peter Rühmkorf. Und mitgemeint sind Michael Naura und Wolfgang Schlüter. In der Geschichte der deutschen Literatur ist die von dem Lyriker Rühmkorf, dem Pianisten Naura und dem Vibraphonisten Schlüter entwickelte Form von Jazz & Lyrik einzigartig. Sie entstand in den fünfziger und sechziger Jahren mit Auftritten, die von einem Wechsel zwischen dem gesprochenen Gedicht und Jazzmusik lebten und Vorbilder bereits in den dreißiger und vierziger Jahren in den USA hatten. Diese Vorform gipfelte 1966 in der Veranstaltung Dichter auf dem Markt auf dem Hamburger Adolphsplatz mit hunderten von Zuhörern. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Überlegungen und Entwicklungen für gemeinsame Arrangements, Sets, Kompositionen; 1976 erschien mit Kein Apolloprogramm für Lyrik die erste Schallplatte bei ECM:
Ich bin ja auch ein bißchen wie ein Instrument, d.h. meine Gedichte liegen fest, so wie die Tasten auf dem Klavier. Ich muß sie anschlagen mit der Stimme. Mein Gedicht, das ich lese, ist mein Instrument. Ich muß es nur intonieren. (1985)
Zum Jazz hatte Rühmkorf eine tiefe Beziehung von Jugend an. Mit dem Jazz „ging es schon im Kriege los, das war die verbotene Musik, die man nicht hören durfte. Damals war ich noch zu jung, ich war noch nicht musikgebildet genug, aber nach dem Krieg war es die Befreiung, danach griff man, das war Befreiungsmusik, und für uns war das auch unsere Musik, die wir dann annahmen.“ (1985)
Was in den Jahren nach dem Auftritt 1966 dazu führte, daß Rühmkorf, Naura und Schlüter tatsächlich eine gemeinsame musikalische Kompositions- und Arrangementarbeit auf der Grundlage von Rühmkorf-Gedichten begannen, ist noch nicht geklärt – Rühmkorf hat sich in einem geschlossenen, größeren Zusammenhang darüber nicht geäußert, auch nicht Naura oder Schlüter, doch „die Musik ist in jedem Fall für mich etwas Vorgegebenes, mit dem ich rechnen muß, wie mit tragenden Luftschichten“ (Phönix voran! Reinbek 1987).
Im Loccumer Gespräch von 1985, nach inzwischen doch einiger Erfahrung mit dem neuen Medium, beschreibt Rühmkorf immerhin die Veränderungen in seiner Dichtung durch die Musik:
Unsere gemeinsame Tätigkeit hat mich auch sehr beeinflußt, die Organisationsformen, was ich an Lyrik mache, zu öffnen. Dieses Freizügige, auch Improvisierende, eine gewisse Offenheit, eine Anredeform der Gedichte, dies Kolloquiale des Gedichts – diese Gedichte wollen sich auch öffnen, und da hat sich durch unsere lange, gemeinsame Praxis viel bei mir geändert. Ich kann es nur so allgemein sagen, aber ich weiß, daß da eine Menge passiert ist.
Die Arbeit des Trios Rühmkorf, Naura, Schlüter hatte reichlich Höhepunkte – die ersten setzte Manfred Eicher mit zwei ECM-Produktionen, unter den Auftritten gehört die Tournee durch die DDR im September 1989 sicherlich ebenso dazu wie der Jubel beim Berliner Jazzfest im November 1995. Die letzten Auftritte waren Ende der Neunziger. Rühmkorf wollte wohl nicht aufhören – am 27. Juni 1998 sandte er jedenfalls einen Brief an Naura mit einer Auswahl von 33 neuen Gedichten:
Lieber Michel – hier zu Deiner geistigen Vervollkommnung noch mal ein Set von neuen Stücken, wobei ich mir über Auswahl, Reihenfolge und eventuelle Interpunktion im zwischenstrophlichen Bereich noch absolut im unklaren bin. … Alles zusammen natürlich ein gewaltiger Batzen und bedarf noch der gemeinsamen Beratung nebst auch einsamen Überlegungen.
Doch von diesen Gedichten, die ein Jahr später in dem Band Wenn – aber dann. Vorletzte Gedichte gesammelt veröffentlicht wurden, wurde keines mehr von Rühmkorf zur Musik von Naura und Schlüter vorgetragen.
Die Begegnung mit dem (nicht der Jazz-Szene zuzuordnenden) Duo Bonnen und Schilling auf der lit.COLOGNE 2001, das Konzert mit den Bluesmusikern Willisohn und Vollmer im gleichen Jahr, schließlich der bejubelte Gig mit den jungen münsterländischen Jazzern um Christian Kappe im Juli 2005 wurden Fortsetzungen der Jazzarbeit mit Gedichten von Rühmkorf. Daß es ihm mit dem Duo Bonnen und Schilling sehr ernst war, belegt die gemeinsame Studioarbeit 2004. Daß er mit den Münsterländern weitermachen wollte, sagte er deutlich am Ende des Abends des 2. Juli 2005 im westfälischen Nottbeck:
Wir danken Ihnen herzlich für Ihre freundliche Aufnahme. Ein Teil von uns wohnt in der Gegend. Ein Teil kommt wieder.
Doch das war der letzte öffentliche Auftritt von Peter Rühmkorf mit Jazz & Lyrik.
Ja, ich höre unten, wie das schwingt, ich steige da ein, dann tauche ich wieder auf, dann laß ich die Musik ein bißchen und versuche wieder, man hat so dieses Verständnis für das Medium, wann man richtig eintaucht, wann man die Welle kriegt, wann man gegen die Welle eintaucht. Das wird jedes Mal neu entschieden, das ist dann für mich der Improvisationsgang, weil es ja eben nicht Wort auf Ton gibt, sondern ich habe diese Trägerschwingung, der ich auch mich dann akkomodiere. Ich weiß sogar, daß es manchmal eine Gefahr ist, daß man ins Singen gerät. Das soll man eigentlich nicht, aber man soll frei so darüber schweben und mal aufsetzen, fast wie ein Segelflugzeug. (1985)
Die vorliegende Edition versammelt Aufnahmen der vertonten Gedichte aus 30 Jahren. Ihre Abfolge entspricht der Chronologie der Gedichtentstehung. Die Entscheidung für eine der häufig sehr zahlreichen Vertonungen eines Gedichts wurde mit Rücksicht auf musikalische und technische Qualität ebenso getroffen wie mit Blick auf eine möglichst repräsentative Dokumentation der unterschiedlichen Arbeits- und Lebensphasen von Jazz & Lyrik. Um die Unterschiedlichkeit von Interpretationen aus verschiedenen Schaffensphasen an einem Beispiel deutlich zu machen, sind auf der zweiten CD drei Versionen des Gedichts „Phönix voran!“ zu hören. Unter die Gedichte Rühmkorfs gezählt werden auch zwei Gedichtübertragungen, „Owê war sint verswunden“ von Walther von der Vogelweide und „Fredmans Epistel Nr. 27, seine letzten Gedanken beinhaltend“, von Carl Michael Bellman. Des dokumentarischen Wertes wegen ist die Jazz & Lyrik-Version des Walther-Gedichts trotz technischer Einschränkungen Teil dieser Edition.
Stephan Opitz, Vorwort1
„Ich bin ja auch ein bißchen wie ein Instrument, d.h. meine Gedichte liegen fest, so wie die Tasten auf dem Klavier. Ich muß sie anschlagen mit der Stimme. Mein Gedicht, das ich lese, ist mein Instrument. Ich muß es nur intonieren“, schreibt Peter Rühmkorf 1985.
In der Geschichte der deutschen Literatur ist die von dem Lyriker Rühmkorf, dem Pianisten Naura und dem Vibraphonisten Schlüter entwickelte Form von Jazz & Lyrik einzigartig. Sie entstand in den fünfziger und sechziger Jahren mit Auftritten, die von einem Wechsel zwischen dem gesprochenen Gedicht und Jazzmusik lebte und Vorbilder bereits in den dreißiger und vierziger Jahren in den USA hatten. Diese Vorform gipfelte 1966 in der Veranstaltung auf dem Hamburger Adolphsplatz (vgl. Chronologie). Ab diesem Zeitpunkt begannen die Überlegungen und Entwicklungen für gemeinsame Arrangements, Sets, Kompositionen; 1976 erschien die erste Schallplatte bei ECM mit Stücken, welche Gedichte Rühmkorfs in einen Klang zusammen mit den Instrumenten versetzten.
Aufbau Verlag, Ankündigung
faszinierte den Schriftsteller Peter Rühmkorf (1929–2008) ein Leben lang. Seine Begegnung und Freundschaft mit den Musikern Michael Naura (1934–2017) und Wolfgang Schlüter (1933–2018) führte zu einem neuen Klang von Sprache und Musik in der deutschen Literatur, der Arbeit und Leben des Schriftstellers Rühmkorf begleitete.
Aufbau Verlag, Klappentext, 2020
– Anmerkungen zum Jazz, zur Lyrik und zum Verhältnis zwischen beidem. –
Wäre Peter Rühmkorfs Stimme ein Instrument, welches wäre es? Ein Klavier? Nein, dafür fehlt es ihr doch sehr an Umfang und Register. Eine Trompete? Dafür drängt sie sich nicht genug nach vorne. Ein Saxophon? Dafür menschelt sie nicht genug. Die Gitarre ist das Instrument, das Peter Rühmkorfs Stimme am meisten ähnelt, ein leichtes, ein wenig heruntergekommenes Ding, das man mit sich tragen kann, auf den Marktplatz oder in die Kneipe oder auch in den Konzertsaal. Es gibt eher sanfte, dünne Töne von geringer Beständigkeit von sich, Töne, die immer wieder, wenn die Saiten gegen Stege und Griffbrett schlagen, ein wenig klirren und scheppern. Es kann sich nicht um ein edles Instrument handeln, eher im Gegenteil: Der rezitierende Dichter artikuliert nicht immer sauber. Die Konsonanten werden zuweilen undeutlich vorgetragen, gleichsam mit abgeschliffenen Kanten, die Vokale sind oft eher flach als rund, die Wörter bleiben nicht im Raum stehen, und manchmal ist es fast, als lispelte Peter Rühmkorf. Amerikanische Jazzmusiker nennen einander gerne cats, sind aber in Wirklichkeit Hermeline, feine, kostbare Wesen, die man unbedingt bewundern muss. Hört man Peter Rühmkorf jedoch in seinen verschiedenen Ensembles nur zu, nimmt man nur den Klang, nicht den Inhalt der Wörter wahr, könnte man fast den Eindruck haben, es habe sich hier tatsächlich ein Kater unter die Hermeline geschlichen.
Als Peter Rühmkorf begann, seine Gedichte zu musikalischer Begleitung vorzutragen, also in den frühen 6oer-Jahren, war „Jazz and Poetry“ in den Vereinigten Staaten schon ein eingeführtes Genre. Es hatte eine Geschichte von vierzig Jahren. Vorausgegangen war dieser Verbindung das Interesse von Lyrikern der ästhetischen Moderne an deutlich akzentuierten Rhythmen, die ihnen als Zeichen einer veränderten, industrialisierten Lebenswelt galten: Ezra Pound, T.S. Eliot, E.E. Cummings schrieben kleine Werke im Takt der neuen Zeit. Von W.H. Auden gibt es das Gedicht „Night Mail“, zu dem Benjamin Britten eine wie mechanisch stampfende Musik schrieb. Vorausgegangen war auch die „Harlem Renaissance“ der 20er-Jahre, die zum Teil gesungenen Gedichte von Vachel Lindsay etwa, die zwar weniger den Jazz inkorporierten, als dass sie von ihm handelten (mit erkennbarem Widerwillen), aber doch eine Reflexion auf eine neue musikalische Sprechart waren. Und die Werke von Langston Hughes oder Paul Lawrence Dunbar, die mit Synkope und Refrain arbeiteten, Formen des Spirituals in die Lyrik aufnahmen, manchmal schon Rezitationen zu live gespielter Musik waren – und schwarzem Leid und schwarzer Hoffnung und schwarzem Selbstbewusstsein einen poetischen Ausdruck gaben. Das Genre der „Jazz Poetry“ hingegen entstand erst in den 50er-Jahren, mit dem Bebop und dem Übergang des Jazz von der populären Musik zur Musik einer immer noch großen, nun aber auch intellektuell ambitionierten Gemeinde. Und es war, von Seiten der Dichter, nicht der Musiker, ein vornehmlich weißes Genre.
Ein Dichter des Jazz war zum Beispiel der Franko-Kanadier Jack Kerouac. Manchmal rezitierte er ein Gedicht und begleitete sich selbst auf dem Klavier oder mit ein paar Handtrommeln. In einem Club in San Francisco nahm er, zusammen mit dem Pianisten Steve Allen und ein paar Begleitmusiken, im Jahr 1957 öffentliche Lesungen mit musikalischer Begleitung auf. Es sollen die ersten Einspielungen dieser Art gewesen sein, aber der Bezug hatte sich geändert: Aus der Feier eines schwarzen Selbstbewusstseins war die der schrankenlosen Individualität als solcher geworden. Dafür stand die ästhetische Moderne in der Dichtkunst, und dafür stand der Jazz. Welcher gewaltige Enthusiasmus hinter dieser Verbindung stand, lässt sich heute nicht mehr ohne einen Griff zurück in die Geschichte erkennen. Denn es gibt ihn nicht mehr, auch wenn der Rap das Sprechen zur Musik und der Poetry Slam das musikalisierte Sprechen wieder aktualisiert haben. Jazz aber – das war etwas ganz anderes: der Inbegriff einer metaphysischen Empfänglichkeit, die Eröffnung einer höheren Welt mit musikalischen Mitteln, die Teilhabe an einem irdisch-überirdischen Puls, die Entstehung einer neuen, tief beseelten Einheit von Künstler und Publikum, eine Musik, die durch alles Gaukelwerk, durch allen Materialismus hindurch und unmittelbar zu Herzen gehen sollte, und dies alles unter dem Vorzeichen äußerster Modernität.
Der Lyriker, Buchhändler und Verleger Lawrence Ferlinghetti trug in den späten 50er-Jahren Gedichte zur Begleitung von Stan Getz vor. Allen Ginsberg und Gregory Corso verehrten Charlie Parker. Bob Kaufman, auch er ein beat poet, ein Schwarzer (einer der wenigen in dieser Umgebung), schrieb das Gedicht „O Jazz O“: „Broken drumsticks, why?“, heißt es darin, „pitter patter, boom dropping / Bombs in the middle“ – das Trommeln ist in die sprachliche Form eingezogen. In den Jahren danach gelangte das Genre auch nach Deutschland. Joachim-Ernst Berendt, damals Leiter der Jazz-Redaktion (ja, so etwas gab es) des Südwestfunks (SWF) in Baden-Baden, ließ Gert Westphal Gedichte von Gottfried Benn sprechen, zur Musik von Jay Jay Johnson, Kai Winding und Dave Brubeck, die Lyrik von Hans Magnus Enzensberger wurde mit der Musik von Max Roach oder Miles Davis gepaart, Peter Rühmkorf mit Johnny Griffin (1963). Die Musik kam von der Schallplatte: Pegel hinauf, Musik, Pegel halb herunter, Lyrik zur Musik, Pegel hinauf…, was, streng betrachtet, ein Widerspruch zum Genre darstellte: Denn es sollte bei der Verbindung von Jazz und Lyrik ja gerade nicht so sein, dass die Musik als Hintergrund der Dichtung auftrat, und die Musik sollte auch nicht die Pausen füllen. Eher schon sollte das Gedicht in seinem Vortrag eine eigene Stimme bilden, Mitglied des Ensembles sein. Es sollte kommen und gehen, Soli spielen oder im Tutti den Refrain wie jedes andere Instrument auch.
Die Rollenverteilung änderte sich auch in Deutschland, als die Musik live von einem einzelnen Musiker, meist einem Pianisten, oder von einem kleinen Ensemble, zur vorgelesenen Dichtung eingespielt wurde. Den letzten Anstoß dafür mögen auch urheberrechtliche Probleme gegeben haben, aber bald zeigte sich, dass das gemeinsame Musizieren, oder genauer: das Sprechen zu aktuell improvisierter Musik eine viel stärkere künstlerische Intensität besitzt, auch wenn es, oder: auch weil das Ergebnis zur Collage tendiert. Denn die Seance, die der seelische Kern der gemeinsamen Improvisation im Jazz ist, kann im Wechsel von Studiosprecher und Tonkonserve nicht nachgebildet werden. Dabei war man in Deutschland durchaus vorsichtig. Der Jazz, den Peter Rühmkorf und sein Ensemble darboten (und der schnell, auch des großen Erfolges wegen, nachgeahmt wurde), war nicht an den Grenzen improvisatorischer Freiheit zu Hause.
Es ereignen sich darin eben nicht so abenteuerliche Geschichten wie bei Charlie Parker, der, wie Clint Eastwood in seinem Film Bird von 1988 erzählt, auf eine Bühne in Kansas City trat, zu einem Solo anhob – um zuerst bei den anderen Musikern, dann auch beim Publikum, auf ein solches Unverständnis zu stoßen, dass schließlich der Schlagzeuger aufstand, ein Becken von seinem Ständer schraubte und es dem mittlerweile ganz allein vor sich hin improvisierenden Saxophonisten vor die Füße warf. Nein, bei Peter Rühmkorf geht es ziviler zu, die Musik ist vertraut und oft dem Schlager wesentlich näher als der von aller Tonalität befreiten Avantgarde des damaligen Jazz. Michael Naura spielt einen Blues, der Saxophonist erhebt sich, im stolzen Bewusstsein seines vollen Tons, zu einer getragenen Melodie – und die milde, dünne Stimme schreit nicht, hetzt nicht, flüstert nicht, sondern hält sich an den zivilen Ton der Lesung. Dutzende von diesen Auftritten gab es, einige wenige in den 6oer- und 7oer Jahren, viele in den 8oer- und 9o-ern, darunter eine Tournee durch die gerade noch bestehende DDR.
Am Anfang müssen diese Auftritte beinahe revolutionär gewirkt haben. Das liegt zunächst am Jazz selber, am unreinen Ton, an der Akzentuierung des Rhythmus, an seinem scheinbar radikalen Subjektivismus, an den Vorstellungen von Subversion, die sich an den befreiten Ton hefteten: Der Jazz war auch ein Vehikel, mit dem sich die Lyrik von der hohen Kultur (und das Piano vom klassischen Klavierunterricht) emanzipierte. Er sei immer dagegen gewesen, schrieb Peter Rühmkorf, dass Literatur, dass Lyrik, Poesie ein Stubenhockerdasein führe; sie bilde sich zwar gemeinhin unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber sie wolle doch auch wieder raus ins Freie und unter die Leute. Wie diese Befreiung der Lyrik aussieht und worin sie besteht, stellt sich indessen nicht nur als eine, sondern als eine doppelte Bewegung dar. Gewiss, zum einen ist da das Volkstümliche, Peter Rühmkorfs poetisches „Volksvermögen“, das ihn nicht nur in die volkstümliche Dichtung, sondern auch in die populäre Musik trieb, bestimmt auch in der Annahme, dass deren Kraft zur Betörung großer Menschenansammlungen weitaus größer ist als das ästhetische Durchschlagsvermögen von Versen. Der Vagant und Bänkelsänger lebt in diesem Motiv fort, und seine Stunde schlägt, als Peter Rühmkorf im Jahr 1966 vor zweitausend Zuschauern auf der Ladefläche eines Lastwagens auf dem Hamburger Adolphsplatz steht und rezitiert, pianistisch begleitet von Michael Naura (die Veranstaltung sollte ursprünglich „Beat und Jazz“ heißen, wurde aber unter diesem Titel in der Erinnerung an einen „Beat-Krawall“ einige Wochen zuvor vom Hamburger Senat nicht genehmigt). Zum anderen aber ist da auch eine gegenläufige Bewegung, auch bei Peter Rühmkorf. Sie führt zur Virtuosität. Über den Jazz heißt es zwar oft, er sei entstanden aus einem Versuch der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten, sich die Kultur der Weißen anzueignen und zu unterlaufen. Aber das kann nur die eine Seite einer Emanzipation sein. Die andere ist der Versuch, sich diese Kultur vollständig anzueignen und auf eigenem Terrain zu übertreffen.
Wenn der Jazzmusiker die Schwerpunkte eines Vier-Viertel-Taktes auf die Zwei und die Vier legt (anstatt auf die Eins und die Drei wie in der abendländischen Tradition), wenn er die festen Gliederungen des Taktes in Polyrhythmen und Polymetren auflöst, die Dur- und Moll-Harmonik mit Blue Notes bricht und Akkorde vielfach umdeutet, dann tut er das nicht, weil er sich er sich über die bürgerliche Kultur und deren Geschichte mokierte, weil er sie unterlaufen möchte, sondern weil er sie übertrumpfen will – alles können, was man können kann, und dann noch viel weiter gehen, das ist sein Ehrgeiz. Das Schamanentum, das der Jazz spätestens mit dem Bebop entwickelt, mag mit dem Gestus des Ursprünglichen, Natürlichen einhergehen. Aber es ist auch die Anrufung einer Gnade, die nur den Besten trifft, den größten Virtuosen, denjenigen, der mehr als alle anderen sich und seine Zuhörer in Verzückung spielen kann.
Dieser doppelte Charakter des populären Virtuosentums – die scheinbare Einfachheit der Voraussetzung und das triumphierend Technische der Durchführung – wohnt dem Jazz ebenso inne wie der Lyrik Peter Rühmkorfs. Gewiss, er lauscht dem Kinderlied, er hört, was das poetische Volksvermögen hervorbrachte und immer noch hervorbringt. Aber was er dann daraus macht, verhält sich zur Schlichtheit der Vorlage nicht anders als das Solo eines Virtuosen über die Harmonien eines standards, über irgendeines der bekannten Lieder wie „Take the A Train“ oder „How High the Moon“, und es ist auch gegenwärtig, wenn Peter Rühmkorf ein Gedicht von Carl Michael Bellman vorträgt oder einen seiner eigenen Klassiker, „Phönix voran!“ etwa. Und noch etwas verbindet Peter Rühmkorf innig mit dem Jazz: die Unverkennbarkeit der Stimme, die sich, als Ureigenstes einer Person, gerade dann am meisten geltend macht, wenn es am weitesten hinausgeht in die Virtuosität – bis dann, in einer dialektischen Umkehrung, hinter der höchsten Meisterschaft wieder das Einfachste erkennbar wird, der Mensch selber, ohne Instrument. Deswegen gehört etwas zu Peter Rühmkorfs Aufnahmen von „Jazz und Lyrik“, was man auf den Schallplatten nicht sehen kann: die Gestalt des Dichters, wie sie ins Mikrophon spricht, wie sie sich katerhaft dreht und krümmt und zu einer Paraphrase des eigenen Sprechens wird.
Der Jazz, so geht die Lehre, öffne dem Gedicht einen Raum, es entstehe eine Brücke zwischen Musik und Wort. „Ich vertraue mich euch an wie ein Segelflieger sich den jeweils herrschenden Auf- und Abwinden“, erklärte Peter Rühmkorf seinen Musikern, „ihr sorgt für die nötigen thermischen Bedingungen, und ich laß’ dann meine kleinen Papierdrachen steigen.“ Doch ganz so kann es nicht gewesen sein, und das nicht nur, weil Peter Rühmkorf mit den Versen auch musizierte, weil er im Vortrag Phrasierungen des Jazz übernahm, weil er einzelne Silben als Synkopen hinaus stieß oder Triolen und Quintolen bildete: „Bouletten, Currywürste“ (RW I, S. 458 [„Schnellimbiß“]), das sind, wenn der Dichter diese Wörter ausspricht, eine perfekte Triole und zwei punktierte Achtel. Drei Minuten, die gewöhnliche Länge für ein Stück aus der populären Musik – und Peter Rühmkorfs Rezitationen im Jazz dauern nicht länger, sind eine kurze Zeit. Und selten genug hört man solange zu. Das hat Folgen, auch musikalisch. Man braucht den festen, schwarzen Strich, man greift zu wenigen elementaren Farben, und sie dürfen, wenn sie verwendet werden, keineswegs malerisch werden. Ein Thema, ein musikalischer Gedanke muss den Hörer sofort fangen, er muss schnell, einprägsam und catchy sein: „Ewigkeitsmusik, mein Mädchen, macht den Glauben auch nicht fett.“ (RW I, S. 327 [„Der getreue Don Juan“]) Aus dieser Notwendigkeit ist eine Kunst der kleinen, aber festen Berührung, des beiläufigen Zugreifens, des aufmerksamen Hörens im Beiläufigen entstanden. Die Wiederholung, der zumindest angedeutete Refrain spielt dabei eine große Rolle, als Versuch, sich gegen die ewig unkonzentrierte Aufmerksamkeit des Zuhörers durchzusetzen. Auch deswegen ist das Handwerk und dessen Beherrschung hier so wichtig, bei Peter Rühmkorf wie im Jazz überhaupt: als Konvention und Überlieferung. In diesem Bemühen um das Hergebrachte und tausendfach Bewährte verbirgt sich immer auch ein tiefes Vertrauen, eine Hoffnung auf die Form, sich am Ende doch als das Gültige zu erweisen.
Peter Rühmkorf arbeitete bei seine Ausflügen in den Jazz nach 1975 – da fing die Arbeit an „Jazz und Lyrik“ ja erst richtig an – mit einigen der besten Musikern zusammen, die es in diesem Genre in Deutschland gab, zuerst mit dem Pianisten Michael Naura, mit Wolfgang Schlüter am Vibraphon und Eberhard Weber am Bass, später auch mit Andreas Schilling, Christian Willisohn oder Leszek Zadlo. Nicht nur, dass sie alle ihr Handwerk beherrschen – das ist selbstverständlich. Aber man hört, auch wenn sie sich, der Dichtung und des Dichters wegen, zurückhalten, wie gut sie aufeinander eingespielt waren. Dies aber ist die Voraussetzung für das Gelingen der Improvisation, und diese ist mit der Entstehung und Entwicklung, mit der ganzen Eigenart des Jazz so eng verbunden wie die Synkope oder die kleine Terz. Die Improvisation baut im Jazz auf den standard, das Stück, das alle kennen, in dem jeder auf das Thema reagiert, die Akkordwechsel beherrscht und in dem sich der Solist, sollte er sich in seiner Improvisation verirrt oder auch nur die Kraft verloren haben, in den Chorus zurückfallen lassen kann wie der Seiltänzer in ein Netz. Und der Dialog gehört zur Improvisation, die gegenseitige Herausforderung, das Spiel mit den Motiven der anderen, der Wunsch, es besser zu machen als der Nachbar.
Wie aber soll es in der Lyrik eine Improvisation geben, wenn doch die Gedichte, die zur und in der Musik vorgetragen werden, schon vorher längst fixiert sind? Die Improvisation beim Vortrag seiner Gedichte, erklärt Peter Rühmkorf, liege im „Anschlag“, also im Umgang mit der Intonation, mit Prosodie und Artikulation. Damit hat er nicht Unrecht – denn die Improvisation hat eben diese beiden Seiten, die Virtuosität und das Vertraut-Sein. In ihrer Einheit entsteht der Puls, eine gemeinsame Sprache, eine Einigkeit über die Welt, in der man agiert. In der Musik der klassischen Avantgarde, in der Atonalität, wird man einen falschen Ton nicht immer bemerken. Anders ist es in der Improvisation des Jazz: Jede Abweichung fällt hier auf, weil der „Anschlag“, die Intonation und Phrasierung im Jazz, eine so große Rolle spielt. Je größer die Freiheit, desto stärker auch die Konvention. Auch deshalb kommt man mit der Gitarre soweit, dem leicht zu transportierenden Instrument, mit dem man begleiten und Soli spielen kann.
Unter den großen Schriftstellern, die es in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg gab, war Peter Rühmkorf der Autobiograf. Das gilt für seine Essays und kritischen Arbeiten, denen immer wieder etwas von Plädoyer und Bekenntnis anhaftet, es gilt für seine Gedichte mit allein drei Selbstporträts, es gilt erst recht für die Tagebücher, für Die Jahre, die ihr kennt von 1972 (RW 2), für TABU I von 1995 und TABU II von 2004. Gewiss, man kann sagen, dass Peter Rühmkorf von allen großen deutschen Schriftstellern seiner Zeit das engste Verhältnis zur literarischen Tradition der deutschen Sprache unterhielt, dass seine Gelehrsamkeit sich von mittelalterlichen Versen über Klopstocks Hymnen bis zum Kinderbuch erstreckte. Stets aber las er diese Werke gegen die Geschichte, stets verließ er sich mehr auf die Erscheinung, nicht auf die historische Bedeutung. Was immer ihm begegnete, erhielt seinen Namen nach dem Gesicht. Dem Jazz dürfte er – über alles Bilderstürmerische, alles Aufrührerische und Untergründige hinaus – auch deshalb so nahe gekommen sein: seines intimen Verhältnisses zur Physiognomie wegen, das ihm immer wieder das Hohe niedrig, das Niedrige hoch, das Alte neu, das Bekannte grotesk und das Befremdliche witzig erschienen ließ. Es kommt noch etwas hinzu: Die Liebe zu seinen Zuhörern. Denn die Musik ist eine Publikumskunst, und wenn sie öffentlich improvisiert wird, ist sie die Publikumskunst schlechthin: Alles, was geschieht, passiert jetzt, vor den Augen und Ohren der Leute, an diesem Ort, in dieser Sekunde. Und immer wieder erstaunlich ist, dass aus diesem Augenblick ein Stück entsteht. Dieses Erlebnis, vor allem, wird der Kater unter den Hermelinen genossen haben, zu ihrem Vergnügen und zu dem des Publikums.
Thomas Steinfeld, in Jan Bürger & Stephan Opitz: „Lass leuchten“. Peter Rühmkorf zwischen Aufklärung, Romantik und Volksvermögen, Wallstein Verlag, 2010.
– Sprachspiele in Peter Rühmkorfs Gedichten. –
Die literaturwissenschaftlichen Sachwörterbücher kennen den Begriff des Sprachspiels in aller Regel nicht, sie beschränken sich auf das ,Wortspiel‘ und wissen meistens drei Arten zu unterscheiden. Indes lassen sich ihnen nur einige von Rühmkorfs schönsten Sprachscherzen zuordnen, und dies oftmals auch nur mit Duldung durch ein schlechtes philologisches Gewissen. Die auf der gewollten Strapazierung des Reims beruhenden Wortbeziehungen z.B. kann man nur schlecht in der angebotenen Weise klassifizieren. Wenn Rühmkorf dichtet
Es traut kein Bürger, segnet uns kein Paster,
kein Sozi stimmt mit ein.
Es muß, mein Kind, nicht immer gleich das Laster,
es kann auch Liebe sein
(Haltbar bis Ende 1999, S. 58)
oder
Schließ das Aug, das närrsche,
spüren schon die Ärsche
Fliehkraft unter uns
(Gesammelte Gedichte, S. 83)
oder
Alles schweigt. Der große Sidi,
der sich hinterm Wolkenwatt verbirgt,
weiß schon gar nicht, was die oder wie die
Lichterscheinung in die Tiefe wirkt
(Haltbar bis Ende 1999, S. 22)
oder
Ein- und Ausblick, und ich sage: sie be-
deuten was man sich als Sinn erschlürft:
Wahrheit in Gestalt von Liebe,
Liebe; die im Abgrund Anker wirft
(Haltbar bis Ende 1999, S. 23) –
so handelt es sich weder um eine „Amphibolie“ noch um eine „Paronomasie“, noch um ein „Spiel mit Bedeutungsnuancen, -spaltungen, -wandlungen der Wörter“,2 aber doch um ein Spiel mit Sprache, allerdings unter Zuhilfenahme des Reims. Er diktiert hier das gewählte Vokabular, bestimmt die Abweichungen von der hochsprachlichen Norm, betont das Gesagte durch die unerwartete Klangbindung oder gibt sich selbstgenügsam als Wortwitz. Solche spielerische Verfremdung, die sich nicht mit herkömmlichen Kategorien fassen läßt, stellt auch das Elidieren von Einzelsilben dar. Da ist von „Somm- und Wintern“ (Gesammelte Gedichte, S. 64), von „Höll- und Hodenstüber“ (Gesammelte Gedichte, S. 83), von „Gei- und Tiger“ (Gesammelte Gedichte, S. 96), von „Hoff- und Hangen“ (Gesammelte Gedichte, S. 97), ja sogar von „ Unbegreif-, Gewöhnlichkeiten“ (Gesammelte Gedichte, S. 120) die Rede, ganz zum Vergnügen und ohne schürfenden Tiefsinn. Das Auseinandernehmen eines Wortes und die sich daraus ergebende Umkehr des eigentlichen Sinns ist da schon von tieferer Bedeutung:
Ich bin nicht trans, nicht zen, ich bin dental.
(Gesammelte Gedichte, S. 90)
Denn die beiden Schlußsilben bilden ein Wort, das die irdisch-sinnliche Wesensbestimmung an die Stelle der metaphysischen rückt.
In seiner „Einfallskunde“, dem den Band Haltbar bis Ende 1999 abschließenden Essay, hat Rühmkorf denn auch mit Recht das Gedicht gegen eine beständige und niederdrückende Sinn-Befrachtung in Schutz genommen:
Besonders gern reißt es allerdings Witze und sich selbst daran wie am eigenen Schopf aus dem Morast heraus. (Haltbar bis Ende 1999, S. 111)
Das geschieht auf ganz unschuldig-unterhaltsame Weise, und mitunter ist es nicht einmal ganz originell, z.B. wenn von „Marx- und Engelsmusik“ (Gesammelte Gedichte, S. 39) oder von „Mimi- und Kry“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 43) die Rede geht, oder auch wenn wir uns an Kinderverse erinnert fühlen sollen:
Ich bin der Kohl- und bin der Kolk-,
der Rabe, schwarz wie Priem
(Gesammelte Gedichte, S. 44).
Aber da muß man gelegentlich schon genauer hinsehen. Während nämlich der „Di-Da-Durchschnittskopp“ (Gesammelte Gedichte, S. 8) auf kindliche Sprachscherze anspielt, steckt in „Lirum-larum-Löffelsteiß“ (Gesammelte Gedichte, S. 81) schon mehr, nämlich ein auch den philologischen Sachwörterbüchern bekanntes „Spiel mit […] der absichtsvollen Bedeutungs- oder auch Silben- und Buchstabenverwechslung“.3 Es betont hier durch die Täuschung der auf den harmlosen Löffelstiel gerichteten Lesererwartung den hinteren Körperteil.
Natürlich kommen sie auch in Rühmkorfs Versen vor, diese traditionellen Wortspiele, in denen Lautvertauschung einen Doppelsinn ergibt. Wenn wir etwas von „Gemythe“ (Gesammelte Gedichte, S. 92) hören oder lernen „Schmierig währt am längsten“ (Gesammelte Gedichte, S. 92), wenn sich „diese Wildnis […] zur Weltnis“ weitet (Haltbar bis Ende 1999, S. 71) oder zu lesen ist „im Spiegel bleckt mein Kontervieh“ (Gesammelte Gedichte, S. 89), „Hagel pickt, Hegel packt“ (Gesammelte Gedichte, S. 79), „zwischen Schwanhai und Shangheide“ (Gesammelte Gedichte, S. 39) – dann befindet sich der Leser auf vertrautem Boden. Aber dergleichen ist nicht die Regel. Das Sprachspiel, das diesem Beitrag die Überschrift gab, läßt sich klanglich gewiß als Selbstveralberung verstehen, erst recht wenn man den Kontext heranzieht:
Ich pfeif meinen Sparren, ich rühme Korff
und ich heirat die Venus von Willendorf.
(Gesammelte Gedichte, S. 90)
Denn dieses „ich rühme Korff“ bedeutet – wenn man es nur klanglich und also als „ich rühme korf“ oder „Korf“ läse – lediglich das preisende Selbst-Existieren, das rühmende Selbst-Sein. Mit der Schreibweise „Korff“ aber dürfte der Dichter zugleich auch auf den Germanisten anspielen, den zu Rühmkorfs Studienzeiten geradezu übermächtigen Goethezeit-Darsteller4 – und damit auf seine eigenen, so außerordentlich trüben Erfahrungen mit der Universitätsgermanistik im allgemeinen und den Hamburger Verhältnissen im besonderen. So hebt hier die Sprachspiel-Komik eine gewisse Lebens-Tragik des sprechenden Ich ins Bewußtsein, wenn auch aus dem selbstironischen Kontext hervorgeht, daß an die Stelle des Gefühls, niedergedrückt worden zu sein, inzwischen die Gelassenheit des souverän die Worte setzenden Poeten getreten ist.5
In durchaus herkömmlicher Weise spielt Rühmkorf mit dem Doppelsinn einer Formulierung, wenn es im „Mailied für junge Genossin“ heißt: „Dicker Danton, der den Kopf verlor“ (Gesammelte Gedichte, S. 130), oder in „Elegie“:
Gruß aus Köln – die bleiche Trauerkarte,
die am Rand noch grad die Fassung wahrt
(Gesammelte Gedichte, S. 132).
Aber über solche Spiele mit der Doppeldeutigkeit, die die Literaturwissenschaft als „Amphibolie“ begrifflich fixiert hat, reicht schon die Schlußstrophe des Gedichts „Hochseil“ hinaus:
Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.
(Gesammelte Gedichte, S. 133)
Denn hier wird zwar, wenn auch nicht mit Homonyma, so doch mit partieller Klanggleichheit gearbeitet; aber dieses Spiel verselbständigt sich nicht, weil es der Positionsbeschreibung des Dichters dient. Das erkennt man deutlich, wenn man eine Strophe aus „O-I.-Klasse-Einsamkeit“ heranzieht:
Ich reise mit Gedichten umher,
paarmal rundumerneuert
seit Achtzehnhundertichweißnichtmehr
Heinrich Heine die Lore beleiert.
(Haltbar bis Ende 1999, S. 44)
Denn auch hier wird Heine als poetischer Ahnherr reklamiert, wiederum mit Hilfe eines Sprachspiels, das diesmal aus der Auflösung des Namens ,Loreley‘ besteht. Überhaupt begnügen sich Rühmkorfs Sprachspiele bei aller Selbstinszenierungslust nur selten mit ihrem witzigen Eigenwert. Meist sind sie eingebunden in einen Aussagezusammenhang und eingestimmt auf einen Sprachton, der sich nicht verselbständigen will. Der Einsatz der Amphibolie im folgenden Beispiel ist weniger harmlos als in jenen Belegen, die uns literarische Sachbücher anbieten:6
B R Ü D E R!
’ne Boje übern Traum u n d e i n e n W i m p e l
v o r s A b f l u ß l o c h g e s e t z t –:
H i e r w o l l n w i r n o c h ö f t e r z u g r u n d g e h n!
(Haltbar bis Ende 1999, S. 37)
Der Traum von der humanen, schließlich auch sauberen Umwelt, auf den diese Zeilen anspielen, realisiert sich einstweilen in dem Protestzeichen des Wimpels, der vor dem Abflußrohr als Warn- und Dekuvrierungssignal gehißt wird; aber die Ankündigung, man wolle dort noch öfter „zugrund gehn“, macht durch ihre homonyme Formulierung bewußt, daß der Menschheitstod durch die Umwelt mindestens so wahrscheinlich ist wie die Realisierung des Protestes durch wiederholte Blockierung des Abflußlochs.
Überhaupt dient das Sprach- und Wortspiel bei Rühmkorf meistens der dekuvrierenden Hervorhebung und Betonung von Absonderlichkeiten, zivilisatorisch-gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und persönlichen Fragwürdigkeiten. Gern arbeitet er dabei mit Gegensätzen oder gar Widersprüchen, die allerdings oft versteckt sind. Wenn eine Zeile des Gedichts „Im Fahrtwind“, in dem u.a. die Werbeaufschriften auf Transportfahrzeugen als verlogenes Zivilisationsgequatsche enthüllt werden, lautet „unaufhörlich auf Achse das ganze mit / Sorgenbrechern und Aufbaustoffen“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 31), dann betont der Gegensatz von „-brechern“ und „Aufbau-“ bei gleicher Zielrichtung die Fragwürdigkeit solcher Begriffe. „Aber Aufstiegschancen im Untergrund“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 73), lesen wir an einer anderen Stelle, und die Schlußstrophe von „Ausfahrt Raststätte Ostetal“ weist gleich drei Sprachspiel-Elemente auf:
Nichts bedauern, nichts bewahren,
nichts bewegen-wollen-groß, du lernst es
B R A H M S ! D r e h a u f ! f – m o l l !
Nichts so schön, wie ohne Eile abzufahren,
heitern Sinnes, allen Ernstes,
unterschiedlicher Gedanken voll.
(Haltbar bis Ende 1999, S. 78)
Die ungewöhnliche Reimbindung „lernst es / Ernstes“ hebt den Gedanken, daß man sich Gelassenheit aneignen kann (und soll), ebenso hervor wie der spielerische Gegensatz von ,heiter‘ und ,Ernst‘; die Doppeldeutigkeit des Wortes „abzufahren“ indes gibt dem Gedanken von der Notwendigkeit, sich in Heiterkeit zu üben, den Charakter des Allgemeingültigen, indem sie den Gedanken an den Tod weckt.
Hier wie im nächsten Beispiel handelt es sich eher um persönlich-private Belange, die durch Spiele mit Wortgegensätzen hervorgehoben werden:
Lirum-larum-Löffelsteiß,
wie erschlichen, so zerfahren –
daß ich diesen Witz bewahre,
mach ich mir im Dunkeln weiß.
(Gesammelte Gedichte, S. 81)
Die mit ihrer ersten Zeile schon analysierte Strophe betont in ihrer letzten die Unzuverlässigkeit der Selbsteinsicht, die schon durch den Wortgebrauch ,weismachen‘ deutlich zutage tritt, dadurch, daß dem „Dunkel“ das „weiß“ (statt des ,weis‘) entgegengesetzt wird. Treffender (und daher auch trefflicher) wirken jene Sprachspiele, in denen sich eine Gegensatz-Logik etabliert: „und was sich fesselt, gibt sich aus der Hand“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 58) bedeutet, daß man sich selbst nur in freier Liebe bewahrt; „Wer das kapiert hat, / den versteht bald keiner mehr“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 69) betont die Absurdität mancher Umfrage-Ergebnisse; „Nichtsolaut! die Stunde der Wahrheit naht, / wo wir uns selbst etwas vormachen (Haltbar bis Ende 1999, S. 88) dekuvriert durch Gegenlogik unsere Neigung zum Selbstbetrug und die, diesen zu verschleiern. An der folgenden Stelle arbeitet Rühmkorf nicht nur mit dem Gegensatz, sondern auch mit dem Doppelsinn eines Wortes:
Wenns hochkommt,
reicht die Hoffnung manchmal nur noch bis zum Tresen;
w e n n e s b e r g a b g e h t,
drehen wir die Füller auf –
(Gesammelte Gedichte, S. 129).
Das Gegensatzspiel zwischen „hochkommen“ und „bergabgehen“ hebt ins Bewußtsein, wie wenig das Dichten heute Ausdruck des Wohlbefindens, der Euphorie ist, da es doch erst jenseits einer Hoffnung geschieht, die sich dem Alkohol verdankt. Andererseits spielt die Zeile „Wenns hochkommt“ wohl auch auf jenen Brechreiz an, den „die Verhältnisse“ nicht nur im Poeten hervorzurufen vermögen, so daß das Dichten auch als Kompensation oder gar als Ausdruck nervlich-seelisch-intellektuellen Kotzens verstanden werden kann. „Herrlich geht es bergab mit uns“ (Gesammelte Gedichte, S. 13), heißt es in dem frühen Gedicht „Über heroische Leidenschaften“. Da etabliert sich das Sprachspiel als bittere Ironie gegenüber dem Leben.
Einen großen Raum nehmen in Rühmkorfs Gedichten jene Sprachspiele ein, die auf feststehende Redewendungen Bezug nehmen, sie variieren, verdrehen, verulken. Das kann durchaus gelegentlich optimistisch klingen, z.B. wenn es heißt „Das ist Mai auf meine Mühle“ (Gesammelte Gedichte, S. 81) oder wenn einer beschrieben wird, „Der hier seinen Witz unter Atem hält“ (Gesammelte Gedichte, S. 90) statt unter Dampf. Doch schon ein Zeilenpaar wie „Hark ich dir die Erde vom Gesicht, / laß die Blumen von den Ketten“ (Gesammelte Gedichte, S. 132) weckt einen zwiespältigen Eindruck, weil die liebevolle Geste, Blumen aufs Grab zu legen, durch Anspielung auf die Kettenhunde relativiert erscheint. Meist stellen sich solche Anspielungen aber in der Tat in den Dienst heiter dekuvrierender Kritik: Offenbar ist der Dichter gemeint, wenn vom „Verlierer aller Klassen“ (Gesammelte Gedichte, S. 114) statt vom Weltmeister aller Klassen die Rede ist, und der Poet ist es auch, der in der folgenden Strophe beschrieben wird:
Schwankend
und entschieden allein auf den eigenen Kopf gestellt,
mit vergleichsweise reinen Händen,
aber ohne genügende Hilfsmittel,
können Sie hier
einen Mann
In der Luft seinen Mann stehen sehn!
(Gesammelte Gedichte, S. 106)
Niedergeschlagenheit wird da auf ganz unsentimentale Art sagbar gemacht, indem Rühmkorf sie in Anspielungen auf einen feststehenden Wortgebrauch kleidet und dadurch ebenso verfremdet wie verstärkt zum Ausdruck bringt. Stets aber zeigt sich, welchen Zerreißproben der Dichter sich ausgesetzt fühlt:
Der die Schnauze voll hat, Genossen, ihm geht
der Mund gelegentlich über
(Gesammelte Gedichte, S. 52),
oder wenn es heißt:
Was erhofft ihr euch nun? daß ich die Schnauze stimme,
als wär’s die eure?
Singe, des einen Übel, des anderen Nachtigall?
(Gesammelte Gedichte, S. 56)
Und gewiß ist es ebenfalls der Dichter, von dem Rühmkorf sagt, daß er – statt über den eigenen Schatten – nicht über das eigene „Licht“ zu springen vermag:
DU
springst nicht über dein eigenes Licht,
DU
bist nicht der Mann für dein Glück.
(Gesammelte Gedichte, S. 75)
Aber auch die persönlichen, oft erotischen Probleme des Menschen unserer Tage werden nicht direkt, sondern durch Anspielungen verschlüsselt formuliert, doch bewirken auch hier die Verschlüsselungen eine größere Plastizität und damit eine stärkere Betonung:
ganz gleich, was mir vom Munde geht,
kann dir das Wasser nicht reichen,
das mir zum Halse steht.
(Gesammelte Gedichte, S. 87)
Ganz ähnlich heißt es in den folgenden Zeilen:
Wie die Not dich wendig macht, Freundliche, rück
hier ans fröstelnde Feuer, eh’s ihm die Flamme verschlägt,
eh wir zu ungleich schlimmeren Bedingungen
ums letzte Licht verhandeln.
(Gesammelte Gedichte, S. 58)
Freilich treffen hier wieder mehrere Momente der Sprachspielerei aufeinander, zumindest die Anspielung auf die Redewendung „es verschlägt dir den Atem“ und die Auflösung eines Wortes mit der entsprechenden Sinnverwandlung (notwendig zu ,die Not macht wendig‘), und die Wendung vom „fröstelnden Feuer“ ist eine sprachliche Verkehrung der zu erwartenden Formulierung ,ans wärmende Feuer‘.
Eine der frühesten Bibel-Anspielungen in Rühmkorfs lyrischem Werk findet sich in dem schon in anderem Zusammenhang herangezogenen Gedicht „Über heroische Leidenschaften“. Sie lautet:
Niedergefahren zur Erde, gefällst du den Irdischen
nicht.
(Gesammelte Gedichte, S. 13)
Denn die Menschen verlangen nach den verlogenen Parolen von den „höheren Sphären“, nach dem „Chloroformgeruch der Unendlichkeit“, wie es kurz zuvor heißt, und derjenige, der nicht zur Hölle „niedergefahren“ ist und also auch nicht „am dritten Tage wieder“ aufersteht, wie es das Apostolische Glaubensbekenntnis formuliert, sondern sich dem Tatsächlichen, dem Irdischen zuwendet, gilt da nicht viel. Diese Anspielung arbeitet also mit der Unterminierung alles Religiösen und Transzendentalen und schlägt damit jenes Thema an, das in Rühmkorfs Gedichten vielleicht das wichtigste ist: die Fixiertheit des Menschen auf das Alltägliche, Sinnliche, welche aus dem Ende der Metaphysik folgt.
Diese Thematik steht bei Rühmkorf in engstem Zusammenhang mit seinem von ihm selbst als Parodie bezeichneten poetischen Verfahren. Es ist oft erläutert worden7 und braucht deshalb hier nur noch kurz skizziert zu werden. In den „Abendlichen Gedanken über das Schreiben von Mondgedichten“, die dem Gedichtband Kunststücke beigegeben sind, heißt es, der Autor nehme „einen alten Text zum Beispiel, nimmt ihn als Vorsatzpapier, hält ihn zwischen sein Ich und die Welt und vergleicht. Er sagt: Ich werde hier einmal zu korrigieren versuchen, was nicht zur Deckung kommt, die Unstimmigkeiten verzeichnen, die Verzerrungen entstellen, das verschoben Erscheinende verrücken, vielleicht, daß wir uns dann ein besseres Bild machen können von dem, was noch zu halten ist.“ (Kunststücke, S. 129f.) Natürlich wird damit zugleich erkennbar, was eben nicht mehr zu halten ist, was sich verändert hat, was als Verlust verbucht werden muß.
Diese Art poetischer Parodie zielt also weniger auf die Dekuvrierung der literarischen Vorlage, z.B. durch Übertreibung der darin begegnenden Inhalte und stilistischen Mittel, sondern eher auf eine Betonung der Defizite, die für unsere Zeit und unsere Situation charakteristisch sind. Um dies zu bewerkstelligen, füllte Rühmkorf ältere Gedichtformen mit anderen, vom Modell abweichenden Inhalten und benutzte eine Sprache, die die Verluste ins Bewußtsein hob. Diese Funktion übernimmt aber auch eine bestimmte Form des Sprachspiels, die mit Anspielungen arbeitet und dabei die Durchlöcherung des ursprünglichen Bedeutungshorizontes bis hin zur Sinnverkehrung betreibt. Das Gedicht „Im Vollbesitz seiner Zweifel“ macht die Veränderungen schon im Titel deutlich: Die „Kräfte“, die dem Menschen Sicherheit gaben, sind heute zu „Zweifeln“ geworden, die ihn erschüttern:
Ich sehe dich:
im Vollbesitz deiner Zweifel froh,
eine vergnügte Zunge gegen das Schweinsfleisch gezückt
(die soviel Unsägliches pflügte) –
Aber auch dies ist wohl unter Brüdern
seine Erschütterung wert.
(Gesammelte Gedichte, S. 21)
Lesen wir die Zeilen „Glücklich noch einmal eh / der Himmel uns abtut an Kindes Statt“ (Gesammelte Gedichte, S. 26), so wird die religiös-metaphysische Heimatlosigkeit des Menschen durch Umkehrung des Wortes ,annehmen‘ in „abtun“ erkennbar. Die Gotteskindschaft des Menschen wird – ganz im Sinne des Parodie-Begriffs von Peter Rühmkorf – durch Anspielung als Verlust gekennzeichnet. Das ist überdeutlich in der Umkehrung des Anfangs von dem Epigramm II, 30 des Angelus Silesius „Mensch, werde wesentlich!“ in „Werde unwesentlich“ (Gesammelte Gedichte, S. 28), die Rühmkorf in der vorletzten Zeile seines Gedichts „Um die Bestände zu überprüfen“ vornimmt: „die Bestände“ präsentieren die metaphysische Haltlosigkeit und physische Hinfälligkeit des Menschen, während es eben bei Scheffler noch heißt: „das Wesen, das besteht“. Aus diesem Grund fällt das Wort vom Tag, den wir nicht vor dem Abend loben sollen, der parodistischen Umkehrung anheim:
Ewiger Dinge unerfahren,
wolln wir den Tag noch vor Abend loben.
(Gesammelte Gedichte, S. 95)
Denn wir haben nur den Tag, sind auf das Jetzt und Hier angewiesen und eingeschränkt.
Fast plakativ fällt die Reduktion des Menschen auf seine sinnlichen Dimensionen in der Zeile „Coeo ergo sum“ (Gesammelte Gedichte, S. 25) aus. Sie ist als Parodie (auf das „Cogito“) noch klarer zu erkennen als der in demselben Gedicht „Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock“ begegnende Satz „Mein Ich-und-Alles, der in Wodka gelöste Widerspruch“ (ebd.). Dabei ist weniger die verbreitete Amphibolie „gelöst“ als die satz- und sinnverkehrende Anspielung auf „Mein Ein und Alles“ von Interesse, weil sie an die Stelle des Gegenübers das Ich setzt, auf das sich der Sprechende verwiesen sieht. „Zu wahr, um schön zu sein: / auch der Feingeist muß fressen“ (Gesammelte Gedichte, S. 17), heißt es parodistisch in „Selbstporträt 1958“, in „Hymne“ lesen wir, „wo ich euch aufspiel, legt ihr da mit Axt an?“ (Gesammelte Gedichte, S. 38) – und die Schlußstrophe von „Variation auf ,Gesang des Deutschen‘ von Friedrich Hölderlin“ lautet:
Auf Kippe und Gedeih, daß nie und keiner
die Kreise jemals störe, Wanderer, kommst du nach
Deutschland, sage du habest uns hier
unterliegen sehen, wie es der Vorteil empfahl.
(Gesammelte Gedichte, S. 93)
Hier handelt es sich um eine vielfältige Parodierung von Schillers Übersetzung der Inschrift auf dem Denkmal zu Ehren der Verteidiger der Thermopylen im Kampf gegen die Perser: An die Stelle des Gesetzes ist der Vorteil, an die des Befehls die Empfehlung, an die Stelle des Liegens das Unterliegen getreten, und diese verkehrenden Anspielungen dienen allesamt dem Zweck, den Verlust von antikem Heroentum und antiker Gesetzestreue bewußtzumachen und zu dekuvrieren, was heutzutage an deren Stelle getreten ist.
In demselben Gedicht begegnet die Zeile „Nimm nun dein Pfund auf dich und wuchere“ (Gesammelte Gedichte, S. 92). Das ist ein doppeltes Sprachspiel mit der Bibel und wie die vielen Bibel- und Gebetsparodien eine poetische Entlarvung des auf das Elementare, Physisch-Sinnliche oder Kommerzielle reduzierten Menschen. Aus der „Gemeinschaft der Heiligen“ im Apostolischen Glaubensbekenntnis ist eine „Gemeinschaft der Gleitenden“ (Gesammelte Gedichte, S. 13) geworden, die Sicherheit des Glaubens ging verloren und damit auch die Geborgenheit im Gedanken, Gottes Geschöpf zu sein:
Nach Daidaland auf glimmenden Pleureusen,
bis sich mein Schöpfer ernst mit mir befaßt –
Schau mein Gesicht im Jubel und im Bösen!
Ist dies dein lieber Aff, an dem du Wohlgefallen hast?
(Gesammelte Gedichte, S. 66)
In aller poetischen Radikalität fürchtet sich Rühmkorf nicht vor der Blasphemie, und nicht immer bedeutet der parodistische Umgang mit religiösem Sprachmaterial, daß die Melancholie über die metaphysischen Defizite des modernen Menschen bewußt wird. Oft genug dienen diese Sprachspiele auch einer Entlarvung religiöser Tabus, die das Selbstgefühl des unabhängigen, von der Religion und ihrer Bevormundung befreiten Sinnenwesens erkennbar macht:
Herr, laß mich dein Reich scheuen!
Wer salzt mir dort den Maien?
Wer sämt die Freuden an? (Gesammelte Gedichte, S. 97)
Diese Zeilen aus der berühmten „Variation auf ,Abendlied‘ von Matthias Claudius“ präsentieren über die Verkehrung des Wortes „schauen“ in „scheuen“ hinaus den Anspruch des Menschen auf irdisches Glück. Das geschieht im folgenden Beispiel auf noch weit drastischere Weise:
Daß mir genügt, in sie hineinzufließen,
m i c h w e g z u s t r ö m e n ,
also: also hab ich die Welt geliebt –
(Gesammelte Gedichte, S. 122).
Das Spiel mit dem Bibelwort „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab“ (Joh. 3,16) mag blasphemisch wirken; es stellt jedoch auf unübersehbare Weise mit Hilfe poetischer Parodie klar, daß das Ich an die Stelle Gottes treten mußte und getreten ist, daß das Ich die Welt liebt, und zwar durchaus auch als Sexualwesen. Dies zeigt nicht nur das Defizit an Religiosität, nicht nur den Verlust eines Haltes im Übersinnlichen, sondern auch die neugewonnene und befreite Sinnlichkeit.
Noch selbstbewußter und religionskritischer wirkt das parodistische Sprachspiel in dem folgenden Beispiel aus dem „Anti-Ikarus“:
Aufgefahren ist mein Bruder, der Briskmann im silbernen Schlitten,
niedergefallen zur Erde am zweiten Tag;
schon annulliert und nicht auferstanden am dritten –
Senke den Kopf, wer will, die Lidermarkise, wer mag.
(Gesammelte Gedichte, S. 30)
Denn der Pomaden-Werber wird nicht nur in die Nähe des Ikarus, sondern auch in die des Gottessohns gerückt, wobei die Himmelfahrt sowohl sprachparodistisch als auch direkt verneint wird. Und zudem stellt die Schlußzeile nichts anderes als die Begrüßung der Himmelfahrt-Annullierung dar. Hier trifft die parodistische Unterminierung das ganze Feld christlicher Religiosität.
Kaum übersehbar ist die Fülle der sprachspielerischen Bezüge in Rühmkorfs Lyrik. Sie ist deshalb im Rahmen einer räumlich beschränkten Abhandlung nicht auszubreiten. Aber man braucht nur die Gedichtbände zur Hand zu nehmen, so fallen sogleich wieder Sätze ins Auge wie „Die Wahrheit macht einem immer mal wieder / einen dicken Strich durch den Glauben“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 12) oder „Liegt die Katz dem Ketzer bei“ (Gesammelte Gedichte, S. 77) oder Sprachspiele wie „Gestern noch hoch zu Meer“ (Gesammelte Gedichte, S. 29) und „s c h w a r z – r o t – b l o n d“ (Gesammelte Gedichte, S. 120). Doch je mehr man von diesen stilvirtuosen Exempeln zur Kenntnis nimmt, desto dringlicher stellt sich die Frage, warum solche Spiele in vielen Gedichten so fad wirken und warum bei Rühmkorf so erhellend. Hier aber stößt die Literaturwissenschaft an ihre Grenzen: Sie vermag in aller Regel nur zu deskribieren, die Ursachen für die Wirkung der beschriebenen Phänomene weiß sie meist nicht zu nennen. Oder mit einem – letzten – Wortspiel von Rühmkorf formuliert: Es fehlen ihr die „ewigen Jagd- und Beweisgründe“ (Gesammelte Gedichte, S. 58).
Jürgen H. Petersen, aus Manfred Durzak/Hartmut Steinecke (Hrsg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Rowohlt Verlag, 1989
– Anspielungshorizont, Vielstimmigkeit und Sound in Rühmkorfs (Jazz &) Lyrik. –
Wer parodierend in Zungen redet, läuft Gefahr, nicht zu eigener Sprache zu finden – wundersamerweise war Rühmkorf zeitlebens dagegen gefeit8
Robert Gernhardt
1. Einleitung
Zu den auffälligsten Merkmalen der Lyrik Rühmkorfs zählen ein großes Spektrum an unterschiedlichen Stilebenen und der Reichtum an intertextuellen Bezügen. Das sprachliche Repertoire umfasst bildungsbürgerliche Zitate, Verweise auf die Literaturgeschichte seit der Antike und Ausdrucksweisen vergangener Epochen, aber auch zeitgenössischen Jargon und Redewendungen, dialektale Einschübe sowie Versatzstücke aus Werbesprüchen und Zeitungsüberschriften. Aus dieser Polyphonie des sprachlichen Materials ergibt sich ein Anspielungshorizont, der breiter kaum sein könnte. Er bietet Raum für ungewöhnliche Bezüge und lässt Widersprüche nebeneinander existieren. Ihre zahlreichen Bezugspunkte machen die Gedichte Rühmkorfs zu vielschichtigen Sprachkunstwerken, deren unterschiedliche Bedeutungsebenen sich erst bei intensiver Auseinandersetzung und bei Kenntnis der medialen und literarischen Diskurse ihrer Entstehungszeit sowie literaturgeschichtlicher Entwicklungen ergründen lassen. Die Gedichte sind aber nicht nur inhaltlich vielschichtig, sie sind auch im Hinblick auf ihren Klang kunstvoll ausstaffiert. Sowohl in gebundener Sprache als auch in freien Versen hat Rühmkorf akribisch an Rhythmus und Satzmelodie gefeilt. Selbst in Gedichten, in denen fingierte Mündlichkeit und umgangssprachliches Parlando vorherrschen, macht er z.B. Gebrauch von Assonanzen und Alliterationen. Seine außergewöhnlichen Reime und die Widersprüchlichkeit der assoziierten Bilder haben einen hohen Wiedererkennungswert, da die unerwarteten Kombinationen zusammenreimen, was nicht zusammenzupassen scheint. Viele seiner Verse sind bereits beim ersten Lesen oder Hören derart eingängig, dass sie nachklingen, oder in Rühmkorfs Worten: auf „Nachhall hin“9 wirken, ohne in ihrer ganzen inhaltlichen Tiefe mit allen intertextuellen Bezügen und Sinnebenen erfasst zu werden. Diese spannungsreiche Polyphonie ist dank der kunstvollen Klangästhetik sowie der Ironie, mit der Rühmkorf die gegensätzlichen Elemente kombiniert, vordergründig von einer spielerischen Leichtigkeit, die den typischen Sound seiner Lyrik prägt.10 Er selbst hat unter dem Stichwort „Levitation“ immer wieder erwähnt, dass die so mühelos leicht erscheinende Kunstfertigkeit hart erarbeitet ist.
Viele Schriftstellerkollegen haben Rühmkorfs Sprachstil als besonders originell gewürdigt. Hans Magnus Enzensberger verfasste einen Nachruf unter dem Titel „Der unverkennbare Rühmkorf-Sound“11 und Robert Gernhardt betonte in einem Interview:
Ich habe großen Respekt vor Dichtern, die einen Sound, eine Stimme, eine Sprachmelodie gefunden haben, vor Leuten wie Benn oder Rühmkorf.12
Dieser Beitrag wird das für Rühmkorfs unverkennbaren Sprachstil konstitutive Verfahren, verschiedene Idiome und intertextuelle Bezugspunkte zu kombinieren, genauer untersuchen. Im Folgenden werden poetologische Äußerungen Rühmkorfs einbezogen, die sich im vierten Abschnitt anhand von Gedichtstellen unterschiedlicher Schaffensphasen illustrieren lassen, während aufgezeigt wird, wie Rühmkorf den hohen Ton und Verweise auf die Tradition als Sprachkritik instrumentalisiert. Zuvor werde ich die stilistische Entwicklung in den verschiedenen Werkphasen umreißen. Außerdem gehe ich der Frage nach, inwieweit Rühmkorf den Anspielungsreichtum und den damit verbundenen elitären Anspruch seiner Lyrik ,mit den Jahren‘ reduziert hat und welche Rolle seine Auftritte bei Dichterlesungen und Jazz & Lyrik-Veranstaltungen dabei spielen.
2. Zur Heterogenität der Stilebenen und intertextuellen Bezüge
Stilprägend für Rühmkorfs Sound ist eine Polyphonie aus einer mit bildungsbürgerlichen Zitaten angereicherten literarischen Hochsprache und einem mit Kraftausdrücken durchsetzten Gassenjargon, der Rühmkorf aus seiner Kindheit vertraut ist.13 Zwischen diesen beiden Extremen finden sich zahlreiche weitere Register des Sprachstils.14 Das „Simultankonzert aus allen möglichen Tonarten und Zungenschlägen und Reibelauten und Schrägflöten“15 ist tief in seiner Poetologie verankert und geht auf eine frühkindliche Prägung zurück. In Wo ich gelernt habe erinnert sich Rühmkorf, die bei geselligen Anlässen vorgetragenen Gelegenheitsgedichte seiner Mutter als „dem öffentlichen Plasier“16 dienendes Kommunikationsmittel bzw. „Agitations- und Gesellungsmedium“17 erfahren zu haben. Diese frühe Erkenntnis entwickelt sich zu folgender, immer wieder propagierten Maxime:
Kunst ist aber – und sie hat auch gar nichts anderes im Sinn als: Kommunion und Kommunikation. Desgleichen dient die Wortkunst keinem edleren Zweck und keinem höheren Ziel als Gemeinschaft zu stiften.18
Das bezieht sich aber nicht nur auf die Wirkung der Werke. In seiner Poetologie bestimmen Kommunion und Kommunikation bereits die strukturelle Ebene des Gedichts, auf der sich „Genossenschaft“ aus „Einzelstimmen“19 konstituiert, wie er in seiner Einfallskunde in Abgrenzung zu Gottfried Benns Diktum vom monologischen Gedicht darlegt. Bei Rühmkorf entwickelt sich innerhalb eines Gedichts ein Dialog aus unterschiedlichen, zueinander in Bezug tretenden Stimmen, die dem Verfasser entweder als Zitate aus Literatur und Medien oder als im Alltag zufällig mitgehörte Redeweisen begegnen.20 Er sammelt Einfälle in Form auffälliger Formulierungen, denn „Gedichte werden nämlich gar nicht […] ,aus Worten gemacht‘, sondern aus Einfällen“,21 wie er in Auseinandersetzung mit Benns Probleme der Lyrik22 schreibt. Solche kleinsten poetischen Einheiten nennt Rühmkorf auch „Himmelsplankton“23 oder „Lyriden“ und definiert sie als „Sternschnuppen aus dem Bild der Lyra, die sich der Vergesellschaftung im lyrischen Gedicht entgegensehnen“.24 Diese Metaphern veranschaulichen, dass die Einfälle ihren Ursprung nicht im Kopf des Schriftstellers haben, sondern quasi von außen in seine gedankliche Umlaufbahn – wörtlich genommen – einfallen. Passend zum metaphorischen Feld der Himmelskörper bezeichnet Rühmkorf das, was später unter dem Begriff Intertextualität in den Diskurs eingeht, als „interstellare[n] Hallraum der Poesie“.25 Zu potenziellen Gedichtbausteinen werden die intertextuellen Einfälle für Rühmkorf, da sie ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herkunft – ob der Literatur, Werbesprüchen oder dem Jargon der Gosse entlehnt – „gestisch programmiert und in besonderer Weise auf Gesellung eingeschworen“26 sind. Die disparaten Ausdrucksweisen, die er zu „sphären- und epochenübergreifenden Vermischungsphänomenen“27 kombiniert, bilden die Heterogenität der Gesellschaft und ihren Wandel ab (s. Abschnitt 4). Sein poetisches Verfahren spiegelt wider, wie Rühmkorf, als Beobachter mit einem berufsbedingt besonders ausgeprägten Sinn für Sprache, seine Umwelt wahrnimmt:
Hier die Sprache – dort die Welt, das will doch immer wieder als Bruch erfahren sein, als ständige Unsicherheit akzeptiert, als Problem der Schreibweise vorausgesetzt.28
Die Polyphonie seiner Lyrik liegt poetologisch darin begründet, dass er das Gedicht als „document social“ und das lyrische Ich als „Gesellschaftsprodukt“ begreift.29 Mit dieser Sichtweise geht einher, dass sich der Vorrat an Zitaten nicht nur aus der Literatur speist:
Daß die Dichter auch von den Dichtern lernen können und die süßen Flöten der Wortkunst ihnen wahres Himmelsplankton zutragen, wird von mir gewiß als letztem bestritten. Das naive Vertrauen auf sozusagen ewige Schreibweisen erzeugt aber leider selbst nur ewig gestrige […].30
Deshalb greift er auch auf die „immer bedeutungsvollen Zeigegesten und Unterbodentöne[]“31 der Umgangssprache zurück, um das Bewusstsein für den Aussagegehalt der Sprache zu schärfen. Laut Rühmkorf kann Lyrik so dazu beitragen, „ein geschultes Ohr für die verbrauchte, inhaltsarme Phrase“32 zu entwickeln, wie er im Aufsatz „Das Gedicht als Lügendetektor“ schreibt. Die Worte, mit denen Rühmkorf die frühe Lyrik seiner Altersgenossen Grass und Enzensberger charakterisiert, lesen sich in erster Linie wie eine Beschreibung seines eigenen Stils:
Abkehr von aller feierlichen Heraldik und kunstgewerblichen Emblemschnitzerei, […] Ablösung des Klagegesanges durch die Groteske, Verstellung von Pathos durch Ironie. Die Interpretation der vorhandenen als einer verkehrten Welt führt hier bei einer wesent-willentlich antitragisch, antiheroisch eingestellten Generation zu einem ästhetischen System von interdependenten Brechungsverfahren und Verfremdungspraktiken, die sämtlich das Witzige mit dem Bösartigen, das Lustige und das Verletzende, das Ironische und das Ernstgemeinte, das Komische und das Bittere im widersprüchlichen Verein zeigen.33
Obgleich diese Zeilen bereits 1962 geschrieben wurde, behalten sie für Rühmkorfs lyrisches Gesamtwerk Gültigkeit.
3. Entwicklungen in Rühmkorfs Stil
Rühmkorfs gesamtes lyrisches Werk ist von Polyphonie geprägt, obwohl in den verschiedenen Schaffensphasen unterschiedliche Formen und Stile dominieren, die Dichte an intertextuellen Bezügen nicht gleich stark ausgeprägt ist, und sich ihr Anspielungshorizont verschiebt. Durch seine ersten Gedichtbände wird er zunächst hauptsächlich als Verfasser von Parodien wahrgenommen, die von einem Großteil der Literaturkritik als bloße Bilderstürmerei missverstanden wurden.34 In den 1970er und 1980er Jahren wendet er sich dann dem in freien Versen verfassten sogenannten ,Langen Gedicht‘ zu, das offener gesellschaftskritisch ist, gleichzeitig zwar weniger intertextuelle Bezüge enthält als seine Parodien, aber dennoch stark polyphon und dialogisch angelegt ist.35 Rühmkorf betont die Vorzüge dieser von Walter Höllerer propagierten Form und erklärt, „[e]ine derart freie Stimmenführung, wie sie das Lange Gedicht ermöglicht, wäre unter dem Dirigentenstab des Reimverses gar nicht denkbar“.36 Im alltagssprachlichen Ton des ,Langen Gedichts‘ greift Rühmkorf Formulierungen aus den Massenmedien auf, anstatt wie in den formstrengeren, oft liedhaften Gedichten der ersten Lyrikbände eine Überfülle an bildungsbürgerlichem Wissen zu präsentieren.37
Die Bände Haltbar bis Ende 1999 und Einmalig wie wir alle sind betont nah an der Alltagssprache konzipiert. Stilistisch und lexikalisch wirken diese Texte homogener als Rühmkorfs frühere Gedichte, in denen die Montage von literarischer Hochsprache und Gossenjargon auf größtmögliche Gegensätzlichkeit zielt. In der in Haltbar bis Ende 1999 erstveröffentlichten „Einfallskunde“ lobt Rühmkorf als Inspirationsquelle das „unendlich artenreiche und für viele Überraschungen gute Sumpfgebiet der Umgangssprache“.38 Zitate aus Schlagzeilen und Werbung sind im Schriftbild häufig kursiviert oder durch Kapitälchen hervorgehoben, da sie vom kolloquialen Stil des ,Langen Gedichts‘ kaum zu unterscheiden sind. Im Gedicht „Ich butter meinen Toast von beiden Seiten“ sind als hohle Worthülsen entlarvte Formulierungen wie „INDIVIDUELL GEPLANTES FERTIGHAUS“39 in Anführungszeichen gesetzt, womit deutlich wird, dass sich das Textsubjekt von solchen Phrasen distanziert. Ohne derartige Markierungen wäre die Polyphonie dieser Texte auf den ersten Blick weniger augenfällig als die der Parodien, in denen die Kontrastierung von genus grande und genus humile plakativ zur Schau gestellt wird.
In seinen letzten beiden Gedichtbänden zeigt sich eine Verringerung des durchschnittlichen Umfangs der Texte, mit der eine erneute Zunahme an metrisch gebundener Rede und Reimen einhergeht. Auch die gereimten und in traditionellen Formen verfassten Gedichte dieser Bände sind überwiegend von konzeptioneller Mündlichkeit geprägt, etwa durch eine elliptische Satzstruktur und Elisionen sowie durch die Verwendung deiktischer Ausdrücke. Letztere vermitteln den Eindruck, dass sich die Äußerungsinstanz und der Rezipient des Textes gemeinsam im Hier und Jetzt befinden. Diese „Sprache der Nähe“40 trägt wesentlich zur Kommunikationsfunktion41 der Lyrik als ,Gesellungsmedium‘ bei und lässt sie auch für den mündlichen Vortrag prädestiniert erscheinen. Der zunehmenden Nähe zur Alltagssprache im Verlauf von Rühmkorfs Karriere korrespondiert eine steigende Anzahl an Auftritten. Aber auch in den 1990er Jahren hat er bei seinen Lesungen noch Texte seiner frühen Gedichtbände vorgetragen.
Die in den Bänden Wenn – aber dann und Paradiesvogelschiß besonders auffällige Kombination aus fingierter Mündlichkeit und der für die Gattung Lyrik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ansonsten eher rückläufigen Reimverwendung könnte kaum widersprüchlicher anmuten.42 Manfred Pfister etwa verortet gebundene Sprache und fingierte Mündlichkeit auf entgegengesetzten Polen in einem Koordinatensystem, mit dessen Hilfe er Performativität in literarischen Texten als skalares Phänomen beschreibt.43 Das auf Gegensätze ausgerichtete Kombinationsverfahren, mit dem Rühmkorf Spannungsverhältnisse im sprachlichen Material generiert, ist in seiner Lyrik in unterschiedlichen Ausprägungen von Anfang an erkennbar. Während im Spätwerk das augenscheinlichste Spannungsverhältnis in der gleichzeitigen Verwendung von fingierter Mündlichkeit und Reim besteht, ist für das Frühwerk besonders die Kombination von fingierter Mündlichkeit und literarisch anspielungsreicher Hochsprache zu nennen.
4. Der hohe Ton und seine Funktion
In allen Phasen seines lyrischen Schaffens kombiniert Rühmkorf unterschiedliche Idiome, die in einem möglichst starken Kontrast zueinander stehen. Er beschreibt den Effekt als „Oszillation zwischen entgegengesetzten Polen“.44 Die bei diesem Verfahren entstehenden „Hochspannungsfelder“45 prägen den für Rühmkorf so typischen Ton, der „,januszüngig‘ zwischen Frechheit und Andacht“46 changiert, wie es im Klappentext zu Irdisches Vergnügen in g heißt.
In diesem Gedichtband und dem folgenden, Kunststücke, tritt das lyrische Subjekt meist in der persona eines Dichter-Sängers in der Tradition Schillers, Klopstocks oder Hölderlins in Erscheinung.47 Entsprechend häufig findet sich ein Sprachstil, der an den Duktus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts – der Blütezeit hymnischer Dichtung in Deutschland – angelehnt ist. Doch der hohe Ton wird bei Rühmkorf immer wieder durch Straßenjargon gebrochen. Die Vorlagen seiner Parodien und Variationen enthalten den sprachlichen Gestus des Preisens und Rühmens als festen Bestandteil ihrer Form. Ich beziehe mich hier insbesondere auf Rühmkorfs „Hymnen und Gesänge“ sowie seine Oden, die bereits mit Titeln wie „Anode“, „Methode“ oder „Marode“ den hohen Ton ad absurdum führen und durch unpoetische Ausdrücke wie „Wurstfabrik“48 konterkarieren. Sprachlich und formal nehmen Rühmkorfs Parodien Bezug auf die Literaturgeschichte, inhaltlich jedoch fokussieren sie das aktuelle Zeitgeschehen. Die Spannung zwischen Form und Inhalt dient dazu, mit Ironie auf gesellschaftliche und tagespolitische Konflikte aufmerksam zu machen.
Im Gedicht „Hymne“,49 mit dem der erste Teil von Irdisches Vergnügen in g schließt, bevor die Sektion der „Volks- und Monomanenlieder“ beginnt, ist der hohe Ton nicht nur Stilmittel, sondern auch Gegenstand der Dichtung. Die benannte Wut „auf die hierorts gehandelten Sitten“50 wird in die euphemistische Formulierung „voll süßen Grimms“ gekleidet. Diese für das genus grande typische Genitivkonstruktion unterstreicht den Sarkasmus, mit welchem Rühmkorf der hier besungenen Wohlstandsgesellschaft, die „speckgeknebelten Halses von Freiheit quakt“, begegnet. Die rhetorischen Fragen „Der unter solchen Umständen zu singen anhebt, / was bleibt ihm zu preisen? / was wäre, he-denn, eines erhobenen Kopfes noch wert?“ verdeutlichen, dass der Titel „Hymne“ sein Programm ironisch infrage stellt, da er hier eben kein Loblied bezeichnet. Das an dieser Textstelle zu erwartende Wort „Haupt“, das nicht nur dem hier vorherrschenden genus grande, sondern auch der feststehenden Wendung ,erhobenen Hauptes‘ entspräche, ist durch den weniger poetischen Begriff „Kopf“ ersetzt, der das sprichwörtliche ,Kopfzerbrechen‘ konnotiert, denn nicht das Lexem „Haupt“, sondern „Kopf“ bezeichnet den Sitz des kritischen Denkens. Dieser Textstelle geht im selben Vers ein wesentlich auffälligerer Stilbruch voraus: Die Interjektion „he-denn“ kontrastiert den hohen Ton mit fingierter Mündlichkeit. Die stilistische Zwiespältigkeit dieses Verses ist beispielhaft für das gesamte Gedicht. Sie nimmt die Spaltung Deutschlands vorweg, die in der letzten Strophe nicht nur thematisiert, sondern mit den von einem Bindestrich getrennten und durch Fußnoten als „BRD“ und „DDR“ aufgelösten Worten „Deutschland – Deutschland“ auch optisch performativ umgesetzt ist. Sieht man von der für Gedichte höchst ungewöhnlichen Fußnote ab, weist der Vers eine simple Doppelstruktur auf, die die Teilung Deutschlands visualisiert. Die Zeile spielt auf die hierzulande wohl bekannteste Hymne an, deren Text den meisten Rezipienten, trotz des von Rühmkorf häufig beklagten Bildungsverfalls, zumindest teilweise geläufig sein dürfte. Das Zitat aus der dritten Strophe von August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“, das 1952 – wenige Jahre vor Niederschrift von Rühmkorfs „Hymne“ – offiziell zur Nationalhymne wurde, ist hier von jeglicher Feierlichkeit befreit. Neben der Anspielung auf den geteilten Staat verleiht die doppelte Nennung Deutschlands diesem Vers einen mahnenden Ton, der unterstreicht, dass das Dichter-Subjekt angesichts der Resignation seiner Mitbürger im geteilten Deutschland nichts findet, was einen Lobgesang verdiente. Es sieht seine Aufgabe folglich darin, die Zustände zu benennen und die Gleichgesinnten unter den durch Konsum ruhiggestellten oder durch „die Peitsche“ eingeschüchterten „Brüdern“ und „Gefährten“ zu ermutigen, es ihm gleichzutun und die Situation nicht stillschweigend hinzunehmen, sondern offen anzusprechen. Sein Gesang mündet in den Aufruf:
Die Unmuts-Zunge rührt,
froh der Anfechtung und e i n e s Z o r n e s voll.
In anderen Texten fungiert der hohe Ton als Kontrastfolie für die Thematisierung des Alltäglichen. Nicht das Erhabene wird gepriesen, sondern die Befriedigung der einfachen Gelüste. „Oh Lust am Greifbaren!“51 lautet ein emphatischer Ausruf im Gedicht „Im Vollbesitz seiner Zweifel“; gefolgt von der nüchternen Relativierung „wenn aller Anspruch abfällt“. Im Titelgedicht von Irdisches Vergnügen in g werden diese Genüsse als „vergleichsweise rohe[] Laster[]“52 bezeichnet, die das lyrische Subjekt, das sich „für keinen Spaß zu schade, keiner Lust zu gut“53 ist, der Fallbeschleunigung ausliefern, sprich, es zugrunde richten können.54
Der hohe Ton täuscht durch seinen Manierismus über die Banalität des besungenen irdischen Vergnügens hinweg und verleiht ihm eine unwiderstehliche Anziehungskraft. In „Über heroische Leidenschaften“ ist dieser Sachverhalt deutlich formuliert:
Herrlich geht es bergab mit uns,
und, wie es deucht, in Geselligkeit!
Vom Quasi-Gewaltigen angerührt und schon übertölpelt,
preist sich kopflos das Frisch-Verblendete.55
Das ,Quasi-Gewaltige‘ dient als ein Ersatz für das Erhabene, das Mitte des 20. Jahrhunderts entzaubert erscheint und sich dennoch zu manipulativen Zwecken instrumentalisieren lässt. Auch hier rechnet Rühmkorf mit den Wirtschaftswunderjahren ab, formuliert seine Kritik jedoch getarnt in eine sprachlich bewusst gekünstelt wirkende Hymne auf den Frühling als Zeit des blühenden Neubeginns. Das Gedicht warnt davor, dass dieser Neubeginn nicht so harmlos und unschuldig ist, wie er scheint, denn „Henker Lenz ist’s, die grüne Peitsche zur Hand! / Köder hängt er ins rohe Geäst, Blütenrouladen“, worauf der lakonische Kommentar „(der protegiert jeden Bluff)“ folgt. Die alltagssprachliche Formulierung ist als Parenthese durch Klammern gekennzeichnet, wodurch auch optisch hervorgehoben ist, dass hier eine andere Stimme spricht als die sonst vorherrschende des hymnischen Tons. Diese Stelle zeigt besonders deutlich, dass Rühmkorfs Verfahren, unterschiedliche sprachliche Stilebenen und divergente Stimmen in einen Satz zu montieren, als literarische Sprachkritik zu verstehen ist. Er macht darauf aufmerksam, wie leicht ästhetisierende Formulierungen zu Worthülsen und Blendwerk werden können und vom eigentlichen Gegenstand ablenken. Gleichzeitig hinterfragt er, wie es um die Haltbarkeit bestimmter Redeweisen und Ausdrucksformen bestellt ist und ob Lyrik im 20. Jahrhundert überhaupt noch etwas zu sagen hat. Der Wechsel zwischen den sprachlichen Registern lässt unterschiedliche Stimmen von verschiedenen Standpunkten aus zu Wort kommen. Mithilfe der Polyphonie werden die Aussagen sofort wieder infrage gestellt und kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft. Die sprachlichen Spannungen und Brüche spiegeln nicht nur gesellschaftliche Konflikte, indem sie die Jargons verschiedener Milieus und Bildungsschichten gegeneinander stellen, sondern machen auf performative Weise den Diskurs selbst zum Thema. Philipp Böttcher charakterisiert diese Bauweise der Gedichte Rühmkorfs als „demokratische Verfasstheit aus lauter, zum Teil disparaten [sic!] Einzelstimmen“ und erkennt in ihrem utopischen Charakter „ein offenkundig romantisches Programm“.56 Rühmkorf gelingt es, dieses Programm zu aktualisieren, indem er Aussagefähigkeit und Anschlussmöglichkeiten sowohl der Dichtung als auch der Sprache im Allgemeinen immer wieder neu hinterfragt.
Auf die im Band Irdisches Vergnügen in g im Gedicht „Hymne“ gestellte Frage, was einem Dichter Mitte des 20. Jahrhunderts zu preisen bleibe, gibt das im Band Kunststücke erschienene „Davon singet sein Mund“ folgende Antwort: Wo angesichts der nicht stattfindenden Aufarbeitung der Vergangenheit in „Täuschland / […] mein Entsetzen zu Haus ist, / […] will ich […] Lust und Wut und viele gebrechliche Dinge / lauthals preisen, / unter, ah! / Atemhalten will ich, daß er uns bleibe: / Gesang!“57 Es ist also das Dichten selbst, das es zu preisen gilt und das hier ironisch gebrochen im hymnischen Ton, mit antikisierend wirkenden Inversionen (die an die Epen Homers in der Voß’schen Überlieferung erinnern) und dithyrambisch kurzen Versen, Interjektionen und Exklamationen besungen wird. Doch bereits in der nächsten Strophe wird der Sänger mit der zynischen Zuschreibung „Fröhlich bin ich in Hoffart!“ bedacht, was die Legitimation des Dichterwortes infrage stellt.
Der hohe Ton der Verse „immer wisset: / aus Niederem nähret die Freude sich“ wird durch einfache Ausdrucksformen karikiert, die hier benannt werden als das, „was in Mops und Möwe / bellt oder segelt“. In der dritten und vierten Strophe wird der Dichtung eine metaphysische Wirkung abgesprochen: Für den Dichter-Sänger wird vorausgesagt, dass sein „herrenlos reisiger Geist, / schmählicher einst als sein Buckel der Erde anheimfällt / eine Handvoll flüchtigen Düngers“. Hier wechselt das sprachliche Register mehrmals pro Vers zwischen genus grande – getragen von Genitivkonstruktionen und antiquierten Ausdrücken („schmählicher einst […] anheimfällt“) – und genus humile in Form von profanen Begriffen wie „Buckel“ und „Dünger“.
Das Gedicht schließt mit einer Absage an die an Hegels Philosophie angelehnte Vorstellung, dass sich „in Form von Gesang / […] WELTGEIST“ reproduziere, dass Dichtung also gesellschaftliche Wirkung entfalten und nachhaltig auf die Vernunft in der ,Weltgeschichte‘ einwirken könne. In „Davon singet sein Mund“ werden die Möglichkeiten der Dichtung, über sich hinauszuwirken, infrage gestellt. Trotzdem wird sie aber, unabhängig von utopisch überhöhten Zuschreibungen, um ihrer selbst willen gepriesen. Auch darin zeigt sich das Widersprüchliche und Widerständige in Rühmkorfs Poetologie.
Der in Irdisches Vergnügen in g und Kunststücke vorherrschenden Stilisierung des Subjekts zum Dichter-Sänger entsprechend, verwendet Rühmkorf in beiden Gedichtbänden besonders häufig Verben, die sich auf die Tätigkeit eines Hymnen-Dichters beziehen, wie rühmen, preisen, loben und natürlich singen. Zu diesem semantischen Feld gehören auch Begriffe wie ,Mund‘ und ,Zunge‘. In „Davon singet sein Mund“ heißt es selbstironisch „oh hört nur: / Hallelujah – Hallelujah, / wie er die Zunge rührt ungläubig und einmalig.“58 Diesen auf Widersprüchlichkeiten angelegten Duktus hat Rühmkorf mit seiner Wortneuschöpfung „Januszunge“59 im Gedicht „Mit offnem Munde“ in einem Begriff beschrieben.
In Außer der Liebe nichts will das Subjekt die Liebe als das, „was uns die Aura am Glimmen hält[,] / mit langer Zunge loben“.60 Das Adjektiv „lange“ bildet eine Alliteration zum dadurch hervorgehobenen bedeutungsvollen Verb „loben“ und transportiert mehrere Bedeutungsmöglichkeiten: Die „lange[] Zunge“ kann metaphorisch-metonymisch für einen ausgedehnten Lobgesang stehen; sie deutet aber auch auf das sehnsuchtsvolle Lechzen nach dem in der nächsten Strophe erwähnten „ungebildete[n] Fleisch“ voraus. Auf subversive Weise unterwandert die Andeutung des Triebhaften die Ode an das erhabene Gefühl der Liebe.
Deutlich plakativer gestaltet Rühmkorf den Gegensatz zwischen dem Hohen und dem Niederen in „Das niedere Hohelied“, das eine Huldigung der in Pornomagazinen abgelichteten „Aufklappsterne“ und „Hochglanzliebchen“61 darstellt und mit zahlreichen Nennungen von Nacktmodels die Apostrophen und erotischen Metaphern des „Hohelied Salomos“ imitiert.62 In manchen Formulierungen – etwa mit dem Chiasmus „schön seid Ihr. Ihr seid schön“63 – übernimmt er die alttestamentarische Vorlage fast wörtlich. Die Nummerierung der Verse erinnert an die formale Gliederung biblischer Texte. Das alttestamentarische „Komm mit mir, meine Braut, vom Libanon“64 wird in der Aufforderung „Jajaja, kommalher, Du rosenknieige Unschuld aus Örebro“65 parodiert. Der Kontrast zwischen dem antikisierenden Epitheton ornans „rosenknieig“66 und der gesprochensprachlichen, hier rüde wirkenden Enklise „kommalher“ verstärkt die Komik. Das niedere Hohelied preist – genau wie Irdisches Vergnügen in g – die „rohen Laster“67 und liefert eine provokante Antwort auf die in Hymne gestellte Frage „was bleibt ihm zu preisen?“.68 Es scheint, als wäre die Lust am sprachlichen Gestus des Preisens der eigentliche Gehalt dieses Hohelieds, dessen widerständiger Charakter neben aller vordergründigen Provokation auch darin besteht, dass es mit dem Lobgesang an eine längst historisch gewordene Funktion von Lyrik erinnert. Der Schlussvers des Gedichts Nach mancherlei Glanz bringt diesen Umstand auf die Formel „ich preise die Erde wider mein besseres Wissen!“.69 Dieses Plädoyer für den lyrischen Sprechakt des Preisens eröffnet die Sektion der „Hymnen und Gesänge“ im Band Kunststücke und bringt damit das Programm der sich anschließenden Gedichte auf den Punkt.70
In Rühmkorfs Spätwerk wird das Rühmen kaum noch unter Verwendung von performativen Sprechakten wie „ich rühme“, „ich preise“ oder mit Inquit-Formeln wie „Davon singet sein Mund“ explizit thematisiert. Dennoch besingen auch die späten Gedichte noch die Schönheit im Alltäglichen, wie im Band Wenn – aber dann insbesondere die titelgebende Sektion IV belegt. Die poetologische Reflexion des Rühmens findet weniger offensichtlich statt, ist aber der Struktur des Zyklus eingeschrieben: So endet die von einer dystopischen Grundstimmung dominierte fünfte Sektion „Schreiber, was siehst du?“ im Gedicht „Irgendwie auf die alten Tage“ mit dem Selbstappell „was sich nicht preisen lässt, / das laß, verdammtnochmal, liegen“,71 bevor die sechste Sektion „Capriccios – Bagatellen“ den Band in einem heiteren und versöhnlichen Ton beschließt.
Das rühmende genus grande und die Fülle an literarischen Anspielungen gebraucht Rühmkorf in den späteren Werken wesentlich seltener und subtiler als in seinen ersten Bänden. In „Früher, als wir die großen Ströme noch“ lässt er das Dichter-Subjekt teilweise im hohen Ton über vergangene Zeiten sinnieren („Früher, als wir […] mit Gesang den Hang raufzogen / und mit Gesang auch wieder herab, / immer den Augen hinterher und Hyperions leuchtenden Töchtern, / des Tages Anbruchs Röte / und des Mondes Aufzugs Beginn“)72 und kommentiert damit selbstironisch den Stil seiner ersten beiden eigenständigen Gedichtbände. Über den Anspielungsreichtum in Irdisches Vergnügen in g sagt Rühmkorf:
Besagtes Vergnügen war dabei natürlich nicht bloß irdischer, sondern hochelitär über den Häuptern der Ungebildeten schwebender Art – mit so etwas würde ich mich heute einem VHS-Publikum nicht mehr zu nahen wagen. Ob das niedere Anpassungszwänge sind? Ich weiß es nicht so recht.73
Rühmkorf beklagt in Interviews häufig den allgemeinen Bildungsverfall und erklärt, dass er sich auf die schwindende Allgemeinbildung einstellt und dementsprechend weniger voraussetzungsreich dichtet. Er verlagert den intertextuellen Anspielungshorizont seiner Gedichte und wählt statt bildungsbürgerlicher Zitate oder antiker Versmaße vermehrt außerliterarische Textsorten zur Anreicherung der Vielstimmigkeit seiner eigenen Texte:
Mit Gedichten wie „Gruß aus Rom“ oder „Waschzettel“ oder „Üble Nachrede“ hatte auch ich versucht, meinen lyrischen Monologen einen Weg nach vorn zu eröffnen – aus der geistigen Isozelle heraus und auf ein mitgedachtes Publikum zu. Im ironischen Rückgriff auf solche populären bis kommerziellen Tonträger wie den Klappentext, den Nachruf und den Reiseprospekt hatte ich meinen Versen einen kollektiven Schwingboden eingezogen, von dem zu hoffen war, daß er dem sensorium commune wenigstens im schrägen Winkel entgegenkam.74
Er betont aber auch, dass sein Bemühen um bessere Verständlichkeit seiner Texte für ihn „nicht im mindesten heißt, dass ich über einen gefälligen Populismus die ständige Abflachung nach unten befördere“.75 Vorwürfe seitens der Kritik, Rühmkorf orientiere sich zunehmend am Publikum, bestreitet er nicht, sondern propagiert diese Arbeitsweise als – zumindest für ihn – selbstverständlich und erklärt, dass ihm auch deshalb seine öffentlichen Lesungen wichtig sind:
Seine Bücher veröffentlichen, dann ihnen den Rücken zudrehen und in der stillen Klause ihre Wirkung abwarten, das ist nie meine Sache gewesen. Schon in sehr jungen Jahren hat mich der mündliche Vortrag mindestens so interessiert wie die zunächst noch nicht einmal erwartbare Drucklegung, und dass man die eigenen Sachen an einem sichtbaren Publikum ausprobiert, gehört bei mir zum Konditionstraining.76
Rühmkorf will seine Auftritte nicht als vom Schaffensprozess losgelöst verstanden wissen, sondern hebt hervor, dass die Reaktion des Publikums im Vortrag für seinen Schreibstil richtungsweisend ist.
Dennoch bedauert er, die Dichte intertextueller Bezüge reduzieren zu müssen, um bei einem durchschnittlich gebildeten Publikum überhaupt noch mit Resonanz rechnen zu können:
Also ich hab da schon viel Bildungsgepäck abwerfen müssen. Ich hab gelernt, dass meine geliebten literarischen Traditionsgüter überhaupt kein Thema mehr sind und der moderne Lyriker […] in einen traditionsleeren Raum hinein musiziert […].77
Rühmkorf vermisst eine mit dem Publikum geteilte „gemeinsame und sogar ziemlich breite Anspielungskultur“, die er bei seinen frühen Jazz & Lyrik-Aufritten noch feststellte. Im Radiogespräch mit seinem langjährigen musikalischen Partner, dem Pianisten und NDR-Jazzredakteur Michael Naura, erinnern sich beide ihres ersten gemeinsamen Auftritts. Die Open-Air-Veranstaltung Dichter auf dem Markt auf dem Hamburger Adolphsplatz lockte 1966 bis zu 3.000 Zuhörer an. Rühmkorf fragt:
Ist das denn heute noch zu fassen, daß man vor ein derart amorphes Publikum tritt und man kündigt einen Titel mit folgenden Worten an: „Ich lese jetzt eine Ode – sie heißt À la Mode“, und die ganze Arena lacht verständnisinnig.78
Rühmkorf und Naura betonen ihre Vorreiterrolle für das Genre Jazz & Lyrik und verklären ihre gemeinsamen Auftritte und deren Wirkung auf das Publikum:
Die sphärische Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Künsten wurde fast als Sinnbild für Solidarität verstanden.79
Das Rundfunkgespräch ist beispielhaft für Rühmkorfs Selbstinszenierung und Positionierung im literarischen Feld, auch im Hinblick auf eine Traditionslinie von Vorgängern und Vorbildern. Es erinnert an Gottfried Benns 1956 gesendetes Rundfunkgespräch „Der Lehrende und der Dichter“,80 insbesondere weil Rühmkorf und Naura immer wieder das gemeinschaftsstiftende Potenzial der Lyrik erwähnen und damit Benns These monologischer Lyrik widersprechen. An anderer Stelle hat Rühmkorf explizit ausgeführt, dass sein Jazz & Lyrik-Werk eine Gegenposition zu Benn darstellt:
Meine Gedichte sind öffentliche Gedichte, deshalb habe ich auch mit ihnen auf die Straße gehen können und sie in Zusammenhang mit Jazzmusik vorgetragen. Es sind öffentliche Gedichte von ihrem ganzen Gestus her. Sie wenden sich an jemanden. Sie gehen aus sich heraus und auf die immer mitvorgestellten Adressaten zu. Praktisch in jedem Gedicht ist ein angesprochenes Du anwesend und nicht nur in der Form des geduzten Selbst. Wie das Ich durchlässig wird für allerlei kollegiale Ansprachen, so öffnet das Du sich andererseits dem mitfühlenden Ich des Zuhörenden. Das ist im Prinzip sicher gar nicht so neu, aber als Methode doch so weit entfernt von den Bennschen Monologen wie vom didaktischen Duktus Brechts.81
Rühmkorf grenzt sich von den beiden Leitfiguren der deutschen Nachkriegslyrik ab und sieht sich vielmehr in der Tradition älterer Vorbilder. Zu nennen sind hier beispielsweise der Minnesang oder Klopstock, der in einer Zeit, in der die gängige Rezeptionsweise von Lyrik das stille Lesen war, den öffentlichen Vortrag wieder etablierte. Rühmkorf bezeichnet seine eigenen Lesungen als „direkte[] Kunstvermittlung“ und als „archaische Vermittlungsweise[]“,82 insbesondere dann, wenn es um die Auftritte mit Jazzmusikern geht:
Die Lyrik kommt von der Lyra her. Die Sappho ist immer mit der Lyra dargestellt, Walther von der Vogelweide zog mit einem Fiedler über die Lande, Carl Michael Bellman schlug selbst die Laute. Also: hier ist eine ganz alte Symbiose, wirklich eine uralte Symbiose noch einmal neu belebt worden eben durch den Kontakt mit der Jazzmusik.83
Die Idealisierung der Einheit von Lyrik und Musik ist – wie das Einheit stiftende Vermögen der Dichtung – ein Topos der Romantik. An diese Tradition anknüpfend, gesteht Rühmkorf,
die Resonanzbereitschaft eines Publikums frech-fromm vorauszusetzen. Auch als wir im Jahre 1966 zum ersten Mal mit ,Jazz und Lyrik‘ auftraten, wir zählten da ja wirklich zu den Schrittmachern des Genres, hatten wir überhaupt keinen Zweifel, dass unser solitäres Vergnügen auf ein sogenanntes ,sensorium commune‘ rechnen dürfte […].84
Auch in seiner Reimtheorie agar agar – zaurzaurim betont Rühmkorf, seine Auftritte mit Jazz & Lyrik seien „immer von der Vorerwartung eines schwingungsbereiten, meinetwegen swingenden Auditoriums getragen gewesen“.85 Das mag zunächst verwundern, da das Publikum bei Jazz & Lyrik-Veranstaltungen noch heterogener ist als bei üblichen Dichterlesungen. Ein hohes Maß an literarischen und literaturgeschichtlichen Vorkenntnissen, die Rühmkorfs frühe Lyrik voraussetzte, ist bei Besuchern von Jazzveranstaltungen noch weniger zu erwarten als im üblichen Zuhörerkreis einer Lyrikveranstaltung. Das Bestreben, seinen Anspielungshorizont mit Zitaten aus Werbeannoncen und Massenmedien auf einen „kollektiven Schwingboden“86 zu verlagern, zeugt von Rühmkorfs Pragmatismus. Die von ihm oft gepriesene Verbindung zum Jazz & Lyrik-Publikum scheint aber auch durch die Eigenheiten der Jazzmusik begünstigt, über die Michael Naura im Rundfunkgespräch sagt:
Jazz ist von seiner Natur her […] eine Musik des Sichöffnens.87
Der im Jazzdiskurs gepflegte Topos des Offenseins bezieht sich – neben dem Klischee des liberal weltoffenen Künstlers – meist darauf, dass die Musiker, stärker als in der Interpretation klassischer Musik üblich, in ihrem Spiel ihre Individualität betonen und dabei der persönliche Ausdruck im Vordergrund steht. Das primäre Ziel ist das Kultivieren eines eigenen Sounds und nicht die perfekte Umsetzung dessen, was die Partitur vorgibt, wie es in der Klassik – je nach Aufführungspraxis – meist Standard ist.
Dass Rühmkorfs Lyrik und der Jazz88 eine so harmonische Verbindung eingehen, liegt nicht zuletzt daran, dass sie einige Gemeinsamkeiten aufweisen: So ist Jazz eine kolloquiale und auf Kommunikation ausgerichtete Kunstform.89 Das zeigt sich nicht nur in der Interaktion der Musiker während der Performance, wenn sie über einem zuvor festgelegten harmonischen und rhythmischen Gerüst einander gewissermaßen den Staffelstab für ein Solo weiterreichen, in dem – während die anderen sich zurücknehmen – nacheinander jeder seinen individuellen Ausdruck präsentieren kann, bevor alle gemeinsam in den Schluss einstimmen. Es zeigt sich auch in der geselligen Atmosphäre in einem Jazzclub, in dem das Publikum in der Regel nicht wie in einem klassischen Konzert ruhig auf seinen Sitzen verharrt, um erst nach dem Schlussakkord mit Applaus seine Wertschätzung des Dargebotenen zu bekunden. Vielmehr kommunizieren die Zuhörer auch während der Performance z.B. durch ,Yeah‘-Rufe, wenn ihnen etwa eine Phrasierung besonders gefällt, und nach einem Solo wird applaudiert, während die Musiker weiterspielen und der nächste zum Solo anhebt.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass im Jazz – genau wie in Rühmkorfs Herangehensweise der „kritische[n] Tradition“90 – ein ironischer und gleichzeitig produktiver Umgang mit der Tradition gepflegt wird: beispielsweise, wenn tradierte Formen wie das Blues-Schema oder Jazz-Standards als Basis für Improvisationen dienen, in denen die Musiker ihren individuellen Sound in Abgrenzung zu Vorbildern und Vorgängern entwickeln. Erik Redling spricht vom „Innovationsdiktat des Jazz, das mit einer ständigen Normenüberschreitung einherging, und von der jazzüblichen eklektischen Integration von Elementen aus anderen Musikstücken.91 In dieser Hinsicht ist der Jazz – je nach Spielart und Stilistik mehr oder weniger deutlich – in seinem spielerischen Umgang mit musikalischen Zitaten dem Verfahren Rühmkorfs, verschiedene Stilebenen und Stimmen zu kombinieren, ähnlich.92 Auch im Jazz finden sich dabei ironische Brechungen, etwa durch die Montage musikalischer Motive aus unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen oder durch die Imitation von Alltagsgeräuschen.93
In einem von ihm publizierten Brief an Michael Naura betont Rühmkorf, dass sein Konzept der „kritischen Tradition“ der in der Musik praktizierten Herangehensweise an Variation und Parodie viel näher sei als dem, was in der Literatur üblicherweise unter diesen Verfahren verstanden wird.94
5. Vom „künstlich tief gezogenen Bühnenboden95 zum „kollektiven Schwingboden“96
Rühmkorf versteht es, ein heterogenes Publikum zu einer „schwingungsbereiten“97 Gemeinschaft werden zu lassen, indem er es zum gemeinsamen Lachen bringt. Das funktioniert nur, wenn nicht auf Kosten Dritter gelacht wird, sondern über das allgemein Menschliche oder über den Dichter selbst, der sich seinen Zuhörern als einer von ihnen präsentiert. Die von Stephan Opitz herausgegebene Jazz & Lyrik-CD-Box enthält mit einem Live-Mitschnitt von „Mit den Jahren… Selbst III/88“ ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Rühmkorf sein Publikum indirekt dazu einlädt, über ihn zu lachen.98 Er schickt der Rezitation einige erläuternde Sätze voraus und erklärt, dass der am Ende des acht Seiten langen Gedichts auftauchende Leo Doletzki eines seiner frühen Pseudonyme ist.99 Im Gedicht wird er in einer Suchmeldung als „vermutlich geistesgestört[er]100 alter Herr beschrieben, dessen Steckbrief auf Rühmkorfs Aussehen und Alter zutrifft. Die beim Auftritt dem Gedicht vorausgeschickte mündliche Erläuterung ist ein Kunstgriff, mit dem Rühmkorf die Spannung seiner Zuhörer auf den Schluss des Gedichts lenkt und die Lacher bereits vorprogrammiert. Sein Pseudonym als verwirrten, aber harmlosen alten Herrn einzuführen, suggeriert, dass sich Rühmkorf selbst nicht zu ernst nimmt, und stimmt das Publikum darauf ein, die folgenden Verse als spielerisch selbstironische Artistik zu genießen. Die Dynamik des sich steigernden Gedichts wird durch den Einsatz von Klavier und Vibraphon im letzten Viertel des Textes unterstrichen. Die Musik wirkt in ihrer starken, aber simplen Rhythmik zusätzlich euphorisierend und trägt zur Sogwirkung der nahezu orgiastischen Darbietung bei. Die Aufnahme belegt, dass Lyrik in Kombination mit Jazz eine intensive Verbindung zwischen Publikum und Künstler befördern kann, was Rühmkorf als „Beziehungszauber“ und „Partizipationswunder“101 bezeichnet.
Diese „Kommunion“102 von Künstlern und Publikum wird in der Presse oft übergangen oder negiert, wie Rühmkorf beklagt.103 Er fühlt sich von der Kritik, der er manchmal zu elitär, dann wieder zu sehr am Publikumsgeschmack orientiert erscheint, missverstanden. Diese Erfahrung ist im Gedicht „Einmalig wie wir alle“ kondensiert:
Man hat uns nicht gewiegt, man hat uns aufgewogen;
Einmal zu schwierig, mal zu leicht befunden
(notiert: ,Levitation = unbezahlte Überstunden‘)104
In Tabu I schildert Rühmkorf seinen Frust darüber, dass die Expertenrunde bei dem vom Literarischen Colloquium Berlin 1989 veranstalteten „Sängerwettstreit“ nach seiner Darbietung einiger Gedichte, darunter „Zersungene Lieder“ und „Mit den Jahren… Selbst III/88“ (dort allerdings ohne Musik vorgetragen), seine Texte nicht verstanden hätte:
Man kannte in diesem Beckmesserkreis nicht einmal den der Volksliedkunde entlehnten Begriff ,Zersungene Lieder‘.105
Rühmkorf berichtet, dass nach seinem Vortrag nur über „so benannte ,Kalauer‘ und ,bekannte parodistische Mittel‘“ diskutiert worden sei, weshalb er der Jury aus Berufslesern die Kompetenz, über seine Gedichte angemessen urteilen zu können, abspricht und festhält:
[ü]ber den ,Kalauer‘ als künstlich tief gezogenen Bühnenboden zur Erreichung extravaganter Steighöhen [müsse] überhaupt noch mal neu verhandelt werden.106
Es scheint Rühmkorf zu schmerzen, dass seine Ironie und sein Wortwitz in Expertenkreisen als flacher Humor fehlgedeutet werden und dass verkannt wird, wie viel Arbeit, Kunstfertigkeit und Liebe zum Detail in seinen Texten steckt. Das gilt auch, wenn ihnen als intertextueller Bezugspunkt – wie im Fall von „Mit den Jahren… Selbst III/88“ – das Postleitzahlenregister dient, was als dichterische Selbstironie zu werten ist. Im Aufsatz „Selbst III /88. Aus der Fassung“, der die Mühen der Arbeit und Selbstedition der Gedichtvorstufen kommentiert, erläutert er:
Daß Verblendung und Verkennung in diesem Wettbewerbsrahmen nur zwei Seiten einer Medaille sind, darf ich aus der intimen Kenntnis öffentlichen Resonanzverhaltens vielleicht noch einmal hinzufügen. Wer sich schon ein geraumes Leben lang mit der Umarbeitung von Verzweiflungsgegenständen in Unterhaltungsanlässe beschäftigt und bei Aufbietung all seiner Fähigkeiten gerade eben in den Rang eines „Virtuosen“ oder „Lyrischen Kabarettisten“ vorgedrungen ist, weiß ziemlich genau, was er meint, wenn er sagt: „Und am Ende siegt – na wer? Der den Sand der Arena frißt.“107
Mit dem hier zitierten Schlussvers des Gedichts „Der Fliederbusch, der Krüppel“ vergleicht Rühmkorf mithilfe der Gladiatoren-Metapher, die in seinem Werk häufig auf den Begriff „Arena“ kondensiert ist, das Ringen um einen Unterhaltungswert von Kunst mit einem Kampf um Leben und Tod.
Einige Wochen nach dem frustrierenden Erlebnis im Literarischen Colloquium Berlin notiert er im Tagebuch:
Der Tiefsinn braucht sich gar nicht groß anzustrengen – er zieht seine Leichenbittermiene und alles trieft unkritisch mit. Nichts ist dagegen so leicht zu verkennen wie der Leichtsinn.108
Dabei ist es gerade diese spielerische Leichtigkeit in Rühmkorfs Sound, die wie ein Ohrwurm im Gedächtnis bleibt und den von ihm „Schwingungskreis“109 genannten communitas-Effekt ermöglicht. Allerdings droht die mühelos erscheinende, aber mühevoll erarbeitete Leichtigkeit seitens der Kritiker mit Anspruchslosigkeit verwechselt zu werden, da sie den bedeutungsschweren Gehalt seiner Verse subtil umspielt und die ernsten Untertöne abdampft. Rühmkorf formuliert es so:
Ich bin eine widersprüchlich organisierte Natur und aus mir singt und summt der Widerspruch als eine eigene Sprachmelodie. Leidenschaftliche Anteilnahme an der Welt und ironisches Infragestellen bilden eine ziemlich verschlungene Signatur, und man hat mich in der Tat schon öfter mal gefragt: ist das nun noch ernst gemeint oder nur ein Witz?110
Marcel Reich-Ranicki charakterisiert Rühmkorf in einer Laudatio als „nie ganz seriös – und immer sehr ernst“,111 was dessen Widersprüchlichkeit und Sound auf eine prägnante Formel bringt. Diese Charakterisierung deutet an, dass Rühmkorfs Gedichte ihren Rezipienten ein genaues Zuhören abverlangen, um trotz des hohen Unterhaltungswerts zum ernsten Gehalt der Worte vorzudringen. Manchen Kritikern scheint das nicht gelungen zu sein, denn Rühmkorf sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Niveau zu unterschreiten, und fürchtete offenbar, durch seine Auftritte mit dem zunehmend an Popularität gewinnenden Genre Jazz & Lyrik den Eindruck zu erwecken, den Unterhaltungswert in den Vordergrund zu stellen und zu sehr am Publikumsgeschmack orientiert zu sein.112 Er begegnete der möglichen Kritik an einem dem abgesunkenen Bildungsstandard angepassten „tief gezogenen Bühnenboden“, indem er immer wieder erläuterte, dass seine Auftritte und Lesereisen eine Form der „Selbstvermittlung […] natürlich archaischer, fast atavistischer Natur“113 seien, mit der er eine bis zum Minnesang und noch früheren antiken Vorbildern zurückreichende literarische Tradition aufrechterhalte.
Lydia Christine Michel, aus Susanne Fischer, Hans-Edwin Friedrich und Stephan Opitz (Hrsg.): „Wo ich gelernt habe“. Peter Rühmkorf und die Tradition, Wallstein Verlag, 2021
Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!. Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona
Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf
Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit
Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit
Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik
Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik
Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik
Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum
Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern
Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)
Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999
Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005
Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004
Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018
Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019
Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019
Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019
Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Elbe Wochenblatt, 27.8.2019
Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019
Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019
Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019
Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019
Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019
Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019
„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.
„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 1/2
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 2/2
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