AUS DER FINISTISCHEN INTRODUKTION II
l
Lasset uns beten nun die zeitgemäßeren Suren,
Rosenkränze der Skepsis, ein Kaddisch zum Spein.
Lasset uns zeichnen nun die höheren Karikaturen,
Das brechende Herz, das teuflische Hinterbein.
Es hilft uns voran. Man wird uns nicht überführen.
Dann bliebe gewiß der letzte und beste Atemzug
Uns Untermenschen der Zeit, erfahren in Aventüren
Des heiligen Hirns, das sich der Furcht entschlug.
Wir wechseln den Stil und zynischen Resultaten
Lächeln wir zynischer und loben sie nicht.
So schaut denn empor. Von größeren Triumviraten
Wurde die beste der Welt veröffentlicht.
2
Rostende Drähte, die morschen Pfähle, faulende Latten.
Wer es endlich bedenkt: Wirklich war immer nur dies.
Weites lungerndes Dunkel, leise gleitende Schatten,
Wo der Engel empfängt den, der sich fallen ließ.
Schwamm und Schimmel, der Wahn im gequollenen Kürbis,
Bäche brünstiger Wehmut im gärenden Saft.
Sendung, Suche, Versickern, aber es bleibt mein mürbes
Rohrgehäuse im Sand als Hinterlassenschaft.
Sieh die Blüte, die welke, den sinkenden Bambus,
Wähle den wuchernden Pilz, das Evangelium im Grind,
Krähendes Carmen, heiseren Dithyrambus,
Hymnen im Hirn, dem wir verhaftet sind.
Nimm dein Messer vom Bord, schlachte die Schwäne.
Wirf den purpurnen Stein in das Spiegelbild.
Schlage dein Wasser ab am verwitterten Haupt der Athene,
Ins verwesende Laub, das ihre Augen füllt.
Schlürfe den süßen, schlürfe durstig den sauren
Tropfen am sterbenden Brombeerstrauch.
Die Nebel nahen, die grauen Zentauren
Mit dem zottigen feuchten Bauch.
Wesenlos sein wie sie und in großen verheerenden Schwärmen
Über die Wiesen fallen und wissen: nur Ungewisses.
Modernde Latten, faulende Pfähle, unsere windschiefen Hermen
Kain und Ulysses.
3
Erinnerungen, rosenbraunes Rumänien,
Diese letzten Bestände an Glück, die ich vergoß
Die Abgesänge im Herbst, die unbegreiflichen Nänien
Verstummen im Frost.
In den tiefen Furchen der Nacht fristen wir beide
Den leeren, den leichten Schlaf.
Auf dem Gewissen, unserer Wasserscheide,
Wuchert das Epitaph.
Siege der hirnenden Sonde,
Würfe ins Meer, und dann die Flechte, der Fraß
Im Lächeln der Gioconde,
In den Zöpfen Nausikaas.
Vertan die unvergeßlichen Pfänder,
Die Morgenröte, der Tau, das Blau in der Früh.
Verfahren das reisige Ich, der rußige Tender,
Im Schlepp des Größern zugleich und Füllhorn der Energie.
In den Schlingen unserer Därme fangen wir etwas Glück,
Dürftige bleiche Verbrecher,
Prahlerisch ausgeschmückt
Mit der Stirn, dem Gedankenköcher.
4
Hirn, mein heiliger Hahnrei, deine letzten Asyle
Sah ich am Abend des Untergangs.
Beglänzt vom Scheine seltener Farbenspiele,
Hinter den Röhrenhecken, hinter der Tränke grauer Petroleumtanks.
Über dem herben Idyll schwingt sich der weite gefleckte
Himmel aus Leichtmetall.
Ich singe Päan, die End- und Verfallsdialekte,
Die Nänien der stygischen Nachtigall.
Immer noch zog ich fort mit den Rotten der Deserteure,
Von den Gerüchten umschwirrt.
Wir waren die Furcht, die Vorhut der schlimmen Verhöre,
Ein Rätsel, das niemand entwirrt.
Werner Riegel
WERNER RIEGEL
Als Arno Schmidt seinen Romanen noch versifizierte Widmungen vorausschickte, konnte man in der Erstausgabe des Steinernen Herzen folgende erstaunliche Gedichtzeilen lesen:
Wehe die wankenden Reihen des Geistes ! :
Brecht stirbt; Benn ist tot; macht ein Kreuz hinter Riegel.
Das bemerkenswerte Memento – ein junger Unbekannter Seite an Seite mit den großen Hingeschiedenen des Jahres 1956 – ergänzt sich uns durch eine nicht minder bewegende Stelle in Kurt Hillers Memoirenband Leben gegen die Zeit von 1969.
Am häufigsten schrieb ich zwischen 1949 und 1955 im Vorwärts, dem damals von Gerhard Gleißberg geleiteten Zentralorgan der Sozialdemokratie. In den frühen bis mittleren fünfziger Jahren auch an der (hektographierten) sehr geistgeladenen und tapferen Zeitschrift Zwischen den Kriegen, die der junge Danziger Werner Riegel herausgab, ein Talent nicht nur, sondern vor allem ein Charakter; schrecklicherweise starb er ganz jung, 1956 mit 31 Jahren.
Das sind immerhin erstaunliche Zeugenaussagen. Ein rasanter politischer Publizist (auch einstmaliger Wortführer und Promotor der expressionistischen Bewegung) und der bedeutendste Prosaautor der deutschen Nachkriegsliteratur einigen sich auf einen Namen, der Mitte der Fünfziger gerade hundert oder zweihundert Leuten etwas sagte, den Lesern der Zeitschrift Zwischen den Kriegen, und dessen mittlerweile ziemlich verdunkeltes Bild vielleicht am besten durch ein paar persönliche Erinnerungen aufzulichten ist.
Als ich Riegel kennenlernte – 1951 und insofern in der Gründerphase unseres ersten Restauratoriums –, war er ein junger Mann von 26 Jahren, Schreiber von Bänkelliedern und Gelegenheitsfeuilletons aus Neigung, Bürobote von Beruf und aus Not, und was uns dann für eine ganze Weile zusammenband wie ein literarisches Dioskurenpaar, war das gemeinsame Verlangen nach einer eigenständigen und durch keine weltliche Macht genierte Zeitschrift. Sie sollte der Publikation von Gedichten dienen, zumal unserer eigenen aus dem seinerzeitigen Rahmen fallenden, aber auch der Verbreitung von politischem Widerstandsgeist. Sie war als Tribüne für junge unerhörte Talente gedacht, aber auch als poetologisches Leitorgan für die zahlreich und ziellos zwischen unterschiedlichsten Literaturtheorien herumirrenden Einzelgänger. Sie formulierte sich aktivistisch und verbesserungsbesessen, wo es um den immerwährenden Kampf für den ewigen Frieden (und den aktuellen gegen die bundesdeutsche Wiederaufrüstung) ging, und konnte die verhängnisvolle Entwicklung der deutschen Dinge doch nicht einfach mit dem Aufklärwedel aus dem Bewußtsein fortscheuchen, weshalb sie sich schließlich halb fatalistisch und halb überlebenswütig Zwischen den Kriegen – Blätter gegen die Zeit titulierte. Was ihr an vaterländischer Gesinnung scheinbar abging, wurde durch ein erklärtes literarpatriotisches Engagement sicher mehr als wettgemacht. „Deutscher Expressionismus“, das war für uns schon so etwas wie eine heimische Erkennungsmelodie, in der wir uns nach den Längs- und Querverwerfungen der deutschen Nationalgeschichte einigermaßen ungebrochen wiederfinden konnten. Das heißt, so naht- und bruchlos natürlich auch wieder nicht, denn wenn wir es statt mit den neuen Erfolgsautoren lieber mit den Vergessenen und Verfolgten hielten, so war die Dissonanz zur bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft gewissermaßen programmatisch vorgegeben.
Wo junge Außenseiter unterschiedlicher Herkunft sich unter einem gemeinsamen Götterhimmel wiederfinden, weht im erbaulichsten Fall ein Geist der wettbewerblichen Konspiration. Während Riegel, und das noch im Kriege, die Bekanntschaft zu Kasimir Edschmid gesucht hatte (er hatte einen Fronturlaub genutzt, dem Idol in seiner darmstädter Wohnung zu huldigen), konnte ich ihm immerhin mit ersten Publikationen in Döblins Goldenem Tor imponieren. Während ich auf ziemlich frühe und nach einigen Mißverständnissen dann auch sehr freundliche Verbindungen zum Hause Hans Henny Jahnn verweisen konnte, gebot Riegel über eine damals absolut unvergleichliche Bücherwand mit den kostbarsten expressionistischen Erstausgaben und fast schon jenseitigen Exklusivdrucken. Die für mittellose Verrückte damals gerade noch eben erschwingliche Kurt-Wolff-Reihe mit den aufgepappten Titeletiketten so lückenlos vorhanden wie die Serienpublikation DER ROTE HAHN mit des Jakob van Hoddis’ Weltende oder Otto Freundlichs Aktive Kunst. Die großen Anthologien des Aufbruchs (Von Kurt Hillers Condor über Rubiners Kameraden der Menschheit und Wolfensteins Erhebung bis zu Pinthus’ Menschheitsdämmerung) so selbstverständlich zur Hand wie Kasimir Edschmids Tribüne der Kunst und der Zeit oder Schickeles Weiße Blätter oder Alfred Richard Meyers Lyrische Flugblätter oder Die Silbergäule aus dem Paul Stegemann Verlag, Hannover. Aber natürlich war damit nicht Schluß, sondern reihte sich fort und zog sich wie das Spektralband einer imaginären Genossenschaft durch die Regale hin: Das Verbotene und Verbrannte von damals, das in unseren neuen Gründerjahren dann noch einmal verdrängt und vergessen wurde; und das ist mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf gegangen, wie Riegel einem Besucher einmal sein Sammelprinzip erklärte:
Da haben die Nazis schon genau die richtige Vorauswahl für uns getroffen.
Ein Jäger, Sammler und glücklicher Finder war auch ich mein Leben lang gewesen, aber Riegel war doch entschieden der Mann mit dem schärferen Objektiv und einem unvergleichlich feinen Nerv für das antiquarische Beschaffungswesen. Auf seinen Botengängen durch die Hamburger Innenstadt setzte er sich oft mehrmals täglich in die Asservatenkammern der Buchhandlungen Hennings, Thiergard, Simon, Frensche und Laatzen ab, immer auf der Suche nach verschollenen Logenbrüdern und heimlichen Geistesverwandten. Sein Verhältnis zu Büchern war dabei kein eigentlich bibliophiles, d.h. nostalgisch unfruchtbares. Bücher entfalteten sich ihm unter der Hand wie wahrhaftige Lebewesen, Flügelwesen, die erfreut schienen, gerade von ihm entdeckt und erobert worden zu sein. Selbst im empfehlenden Weitervermitteln – wenn ein Text sich ihm beim Vorlesen zusehends beatmete – spürte man ein seltsam augurisches Einverständnis zwischen dem gedruckten Wort und seinem Propheten und Ausbreiter, ein Beziehungszauber, der oft genug auf den Adressaten übergriff und aus Zuhörern wirkliche Mitverschworene machte.
Riegel war ein Magus des Bücherwesens, ganz ohne Zweifel, und wenn die Fafnire der Antiquariatsbuchhandlungen ihm ihre Schatztruhen meist schon vor der Preisauszeichnung eröffneten, so war auch das ein Zeichen. Daß etwas Besonderes an ihm war, mochten selbst die nüchternen Geschäftsführer der Firma Arnold Otto Meyer (Südfrüchte, Häute, Gewürze) herausgespürt haben, die ihm mehr als einmal eine weiterführende Laufbahn als Prokurist zu ebnen suchten; nur daß Laufbahndenken eben gar nicht auf seiner Linie lag und die eigenen Abenteuerfährten durch die Boukinistenreviere ihm bei weitem verlockender erschienen als die Aussicht auf eine bürgerliche Karriere im Im- und Exporthandel. Anziehend und bewundernswert fand ich damals beides, seine hohe Selbsteinschätzung als literarisches Medium zwischen Genien- und gemeiner Menschenwelt und diese äußerste Bedürfnislosigkeit in allen Alltagsdingen. Vermutlich habe ich niemals vor ihm und auch nachher nie wieder einen lebenden Dichter getroffen, der sich derart selbstverständlich und perfekt in eine Doppelrolle fügte – hier der Büro- und dort der Götterbote –, wobei der gewaltige Anspruch nicht den geringsten Beigeschmack von Dünkel hatte. Was er vor uns wißbegierigen Freunden ausbreitete wie eine frisch an Land gezogene Wahrheit, das hatte er sorgsam studiert und bis auf den Grund gelesen. Wogegen er sich wandte und was er dann mit Lust auf die gefährlich geschärfte Feder nahm, das konnte gewiß sein, daß er es bis in die letzten Intimitäten eines schief angesetzten Gedankens durchschaut hatte. Reelles Wissen, positive Kenntnisse, im Alleingang ergrabene Fakten und gegen das allgemeine grandiose Drüberhin der Fortschreibungswissenschaften ermitteltes Zahlenmaterial, das war das Basiskapital, mit dem er wucherte, und daß er es stets für die gemeinsame Sache und niemals gegen unbeschlagene Kameraden verwandte, verschaffte ihm in unserem kleinen Glaubenszirkel bald die Aura einer unfehlbaren Autorität.
Als autodidaktischer Privatgelehrter verkörperte Riegel sozusagen die edelste Form des kleinen Privat- und Einzelunternehmers. Aus bescheidenen sozialen Verhältnissen stammend – der Vater war Handlungsgehilfe, die Mutter Hausfrau; zwei Geschwister waren noch mitzuernähren und hochzuziehen gewesen – hatte er kleinbürgerlichem Aufstiegs- und Bildungsstreben schon früh eine Wendung zu forcierter geistiger Tätigkeit gegeben. Vorzeitig hatte er lesen gelernt, aus eigenem Antrieb und indem er sich Buchstaben aus einer Zeitung ausschnitt und sie probeweise wieder zu neuen Wörtern zusammenfügte. Noch im Knabenalter von acht, neun, zehn Jahren hatte der Vater ihn mit Haeckels Welträtseln und Goethes Faust bekanntgemacht, was ja gemeinhin auch nicht ohne Folgen bleibt. Nur daß die Zeitläufte dann sehr bald zu Kriegsläuften wurden und das so benamste „Professorchen“ in die „Schule des Lebens“ abkommandiert wurde, die für seine Generation vor allem eine Schule des Sterbens war.
Auskunft über die unfreiwilligen Irrfahrten eines jungen Intellektuellen vom Jahrgang 1925 geben zwei winzige Notizbüchelchen mit Tagebucheintragungen. Danach ist Riegel am 28.8.1943 eingezogen und auf lothringischen und pfälzischen Truppenübungsplätzen für den Krieg zurechtgeschliffen worden, um zunächst in Mittelitalien und später an verschiedenen französischen Frontabschnitten eingesetzt zu werden. Mindestens so aufregend wie die lakonisch mitnotierten Kriegserlebnisse (Jabo-Angriffe, Panzerschlachten, Trommelfeuernächte im Schützenloch, Artillerieüberfälle, Späh- und Stoßtruppunternehmen, Fahrt auf eine Mine, zwei Verwundungen) scheinen mir allerdings die immer unkonformen Nebenbemerkungen eines späteren Zeit- und Gesellschaftskritikers. Besonders die Eröffnung des Tagebuches vom Januar 1944 reißt auf einen tollkühnen Zug den persönlichen Abweichungswinkel auf:
Tag für Tag im Bitsch-Lager (Truppenübungsplatz in Lothringen). Sturer, mal leichter, mal schwerer Dienst. Oft interessante, öfter aber hassenswerte LMG-Ausbildung bei Unteroffizier S., der zum Inbegriff des starren preußischen Drillers wird. Reminiszenzen aus Remarques Himmelstoß-Episoden. Neue Freunde, so z.B. H. aus Köln-Bad Kreuznach und L. aus Laudan. Der eine Schüler, der andere Chemiestudent, beide fanatische Gegner der herrschenden Idee.
Solche lebensgefährlichen, weil direkt an das zentrale Nervensystem des braunen Obrigkeitsstaates rührende Stellen müssen zwar im weiteren Verlauf des Tagebuches notgedrungen in den Hintergrund treten, aber ein gewisser zäh verneinender Widerstandsgeist und kritisches Herumgeschmirgel an den nationalsozialistischen Jugendidealen bilden dennoch einen bleibenden roten Faden bis zu den letzten Aufzeichnungen im Mai 1945.
Was der Tagebuchschreiber haßt und verachtet, sind chauvinistische Großmäuligkeit, Rekrutenschinderei und Mangel an Zivilcourage („Leck mich am Arsch, Herr Feldwebel. 3 Tage Bau“). Was ihm immerhin der Aufzeichnung wert scheint, sind Hinweise auf geheime Informationsquellen, sprich die sogenannte „Feindpropaganda“ („27.7.1944: Radio Beromünster. Hier spricht der amerikanische Sender für Europa“. – „21.10: Interessante Flugblätter“). Was bei dem geringen zur Verfügung stehenden Platz verwunderlich ist, sind die zahlreichen Eintragungen im Hinblick auf Jazz, Swing und „Negermusik“. („20.4. Hitlers Geburtstag. London bringt Negermusik“ – 27.4. Anni tanzt Swing“ – „22.5. Der Jazzlui“ – „7.9. Ich finde Rumbaplatten“ – „31.8. Alix Chambelle et le Jazz de Paris“ – „21.1.45. Mississippi-Melody“). Was sich gegenüber dem Schlachtgetöse und dem alltäglichen Todesgrauen allerdings am deutlichsten als Gegenmelodie behauptet, ist das nicht enden wollende und von Station zu Station sich neu bekennende Bedürfnis nach Geist, nach Büchern, nach Lektüre: „15.3.1944. Gibt es in Meran denn keine Bücher?“ – „15.5. Ankunft in Danzig. Sofort zur Stadtbibliothek.“ – „18.6. Leihbücherei. Ich lese wieder Interessantes. Manfred Hausmann: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Edschmid schreibt.“ – „6.10. Ich finde Arsène Lupin 813.“ – „18.11. Körrenzig/Jülich Welo: Ich suche Bücher.“ – „28.1.1945. Sonntags im BVD-Heim. Der Schrei nach dem Buch!“ –
Bei einem Dichter geht nichts verloren, ein Gedanke, der gegenüber dem mörderischen Verlustgeschäft der Geschichte fast schon wieder etwas Tröstliches hat. Oder es tritt doch verwandelt und vielfach getönt und gebrochen wieder hervor, als ein zwanghaftes Ausderrichtungweichen seiner Bilder und Metaphern oder unermüdlich aus der Tiefe in die Oberfläche wirkendes Ressentiment. In seinem schönen Aufsatz „Vorwelt der Verse“ berührt Riegel mit leichter Hand und fast nur im Vorüberwehen solche frühen Prägungen, die dem Jugendlichen in einer östlichen Landschaft zuteil wurden, und die nicht minder nachhaltigen, die der brutal egalisierende Marschstiefel in seinem Bewußtsein hinterließ.
Ich bin über dreißig, genug um mitreden zu können. Was die Zeit nahm ist eins, was sie gab, das andere. Ich gehöre einer Generation an, die der Erde nah war, sie ist großenteils auch wieder zu Erde geworden, noch vor dem Leben; mich ließ es ein. Ich trage mit mir herum, was unsere Jahre damals zu tragen gaben: Landschlachten, Nah- und Häuserkämpfe, die zerschlissenen Baumstümpfe, das Blut, das seine Bestimmung verfehlte, die brandigen Himmel hinter den brennenden Dächern. Zeit ist in mir und wird in die Zeilen strömen wie der Rauch der Feuer in die Winde, „Die Hamadryade im Hürtgenwald steigt aus der feuchten Erde“.
Die dem mythologisch Unbewanderten vielleicht ein wenig deplaziert erscheinende Hamadryade (eine Baumnymphe also) möchte dabei natürlich genau der Fremdkörper sein, den sie in dem geschändeten Hürtgenwald und neben den genannten „zerschlissenen Baumstümpfen“ wirklich darstellt. Das kritische Nebeneinander von mörderischer Zeitgeschichte und feenhaften oder mythologischen Ganzheitsvorstellungen gehörte für Riegel schon früh – und, längst vor der Lektüre von Loerkes, Benns oder Lehmanns Gedichten – zu den ganz alltäglichen Wahnsinnsbildern, wovon das Tagebuch sehr sinnfällig Kunde gibt. So findet sich im Anhang zu den Aufzeichnungen nicht nur eine Kartenskizze vom aktuellen Frontverlauf („Der amerikanische Frankreichfeldzug“), sondern auch ein säuberlich aufgezeichneter Stammbaum des griechischen Göttergeschlechts, was den alten Einigkeitshimmel ja ziemlich schartig gegen den anderen, von Mündungsfeuern und Leuchtspurgarben zerrissenen stehen läßt. Zur Vorwelt der Verse müssen wir jedenfalls beides rechnen. Ein junger Geistmensch mit nichts als Literatur im Kopf (wenn auch nicht gerade dem sprichwörtlichen Hölderlin im Tornister) muß erfahren, daß die im Lesen erlebte Welt nicht im mindesten mit der zum Totalverschleiß angebotenen zusammenhängt, und jeder scheinbar unnatürliche Bildbruch, jede kreischende Katachrese seiner späteren Verse ruft genau noch einmal diesen tief erlittenen Widerspruch herauf.
Trotzdem war, ehe wir uns kennenlernten, Expressionismus nicht eigentlich eine nacheifernswerte literarische Methode für ihn, sondern ein mit Fleiß und Liebe verfolgter Studiengegenstand. Schon in den späten vierziger Jahren hatte er sich an die Vorarbeiten zu einer modernen Literaturgeschichte gemacht und mit autodidaktischer Zähigkeit versucht, dem streckenweise auf reichlich tönernen Füßen ruhenden Lehrgebäude eine Basis aus haltbaren bibliographischen Angaben einzuziehen. Der gar nicht so kleine Nachlaß rekrutiert sich dem entsprechend vornehmlich aus stramm gestopften Zettelkästen mit zahllosen Karteikärtchen und unendlich pingelig verzeichneten Spezialdaten. So absonderlich wie zu Anfang erscheint mir diese melioristische Bodenarbeit freilich heute nicht mehr. Wer es sich in den restaurativ durchdunsteten Nachkriegsjahren zur Aufgabe genommen hatte, einen Augiasstall auszumisten – und das war die beinah problemlos aus völkisch-antisemitischen Landwehrkanälen ins atlantisch-antikommunistische Fahrwasser überwechselnde Literaturwissenschaft immerhin –, der hatte den Fälschern vom Fach erst einmal zu beweisen, was redliche Forschungsarbeit war, ein herkuleisches Unternehmen, auf das Werner Riegel viele Jahre seines jungen Lebens verwendet hatte. Von Vorteil für die gemeinsam von uns vertretene Sache war Riegels pedantische Fußnotenfuchserei in jedem Fall. Während wir studentische Dandies und Gesinnungssozialisten uns in der öffentlichen Diskussion nur immer mit Gewissensgründen zur Wehr setzen konnten, konnte Riegel uns jederzeit mit den fehlenden Zahlenangaben und Zitaten versorgen, was unsere wackelige Stellung in der Welt natürlich gewaltig festigte.
Von seinen literarischen Methoden und von seinem Arbeitsbegriff her schien uns Riegel poeta doctus in seiner reinsten Ausprägung. Äußerlich ein wenig an den Typus des jungen Gelehrten erinnernd, wie wir ihn aus chinesischen Opern kennen, hatte auch seine Physiognomie etwas asiatisch Ruhevolles, ein von innen her erleuchtetes Leselampengesicht, von dem nur die Lausbubenohren drollig deutsch und frechverwegen abstachen. Ein Vagant und Außenseiter war er ja wirklich nur im Geiste. Als literarischer Schreckensmann und Exzentrikkünstler trat er, mit Vorsatz, nur im Medium in Erscheinung. Papier war seine Basis und Zwischen den Kriegen seine Bühne, von der aus er in die Welt hineingewitterte, daß bei der neudeutschen Bürgerlichkeit öfter als einmal die Sicherungen durchbrannten. „Mit Pornosophie gegen die Zeit“, „Kein philosophisches oder literarisches Phänomen, sondern ein psychiatrisches“, „Ihre Zeitschrift ist für mich eine Manifestation des Teufels“, „Jung und revolutionär? Mitnichten, vergreist und verlogen“, das waren so die üblichen Reflexe, mit denen wir seinerzeit zu rechnen hatten, aber natürlich, wir hatten es darauf angelegt und wetteiferten in dem edlen Bemühen, solche Blitze auf unser Haupt zu lenken. Peinlich für den peinlichst auf eine larvenhafte Außenschale bedachten Kleinbürgerdarsteller (bis auf die reichlich langen Haare der vollendete Clerk mit Schlips, enganliegendem Baumwollhemd und gebügelter Gabardinhose) wurde es nur einmal, als ein leitender Herr der Firma eine Nummer der Zeitschrift Zwischen den Kriegen in Riegels Büroschublade entdeckte und – „Wir haben da Gedichte in Ihrem Schreibtisch entdeckt, Herr Riegel… Wie kommen Sie nur dazu solchen Unrat zu Papier zu bringen, Sie haben doch Familie“ – die totale Entgeisterung der normalen Geschäftswelt wie ein Albtraum in sein heimliches Poetendasein einbrach.
Allerdings hatte Riegel Familie: eine junge Frau, die an seine literarischen Träume wirklich glaubte (was unter Geistesmenschen längst nicht immer Regel ist); ein wohlerzogenes Söhnchen, dem schon früh der Respekt vor Vaters Schreibtisch eingebleut worden war und das wohl oder übel die Spielregeln im Hause eines Wort- und Gedankenspielers befolgen mußte; ein gemütliches, aber äußerst beengtes Heim, das aus einem einzigen 40-m²-Wohn-Schlaf-Hausarbeits-Studier- und Empfangszimmer bestand und das wirklich nur mit preußischem Ordnungsreglement in einem bürgerlichen Rahmen gehalten werden konnte. Haushälterisch, wie die Not es erzwang, war auch Riegels Zeit- und Arbeitseinteilung. Schreiben konnte er nur, wenn er sich innerlich vor der Welt abschloß, das heißt, auch vor dem ganzen familiären Gemuse mit Hausarbeit, Kinderpflege, Kochen, Waschen, Bügeln, oder wenn er zu nachtschlafender Zeit mit sich und seinem Schreibtisch allein war. Dann brachte er mit feiner Brause-Stahlfeder zu Papier, was ihm auf seinen Botengängen alles durch den Kopf gegangen war, raumgreifende und Zeiten und Epochen überspannende Literaturtheorien oder lyrisch-kosmologische Rechtfertigungen des Bewußtseinskünstlers als eines neuen Zusammenhangstifters und Weltenschöpfers. Zusammenhangstifters auf Abruf, das muß ich allerdings gleich hinzufügen, denn wenn Riegels, wenn unser Schreiben von einer wirklichen Zwangserscheinung begleitet war, dann war es der Verfolgerschatten einer äußerst kurzen Lebensfrist zwischen Verhängnis und Verhängnis.
Integration. Und die Abende über Kristallen
– Und sonderbar süße Gezeiten – von Syntax und Substantiv. Nun mögen die Schwaden steigen, die Scherben hintüberfallen, Und schweife der Mond, den ich bilde und abermals widerrief.
Daß auch unsere Redaktionskonferenzen in diesem einzigen Allzweckraum stattfanden, war selbstverständlich, aber was hieß in unserem Rahmen schon Konferenzen. Es waren nächtliche Geistergespräche, an denen als unaufdringliche Zeugen allenfalls Frau Lila und meine Freundin Almut Bock teilnahmen, weiß der Himmel, wie wir als einzelne sonst den Mut gefunden hätten, mit unseren übersteigerten Ansprüchen vor die Welt zu treten. Andererseits entwickeln sich auch die groß angelegten Ideen zuweilen aus solcher zwangloser Geselligkeit, und manche poetische Erfindung (siehe Gottfried Benns Morgue-Gedichte, siehe Das Weltende des Jakob van Hoddis, siehe auch die frühen Kartengrüße Arno Schmidts an den Schulfreund Heinz Jerofsky) hat ihre heimlichen Wurzeln in einem Jugendspaß, einem Künstlerulk, Studentenscherz. Da ich mich selbst aus diesen frühen Zusammenhängen nicht ganz herausnehmen kann, darf ich an dieser Stelle vielleicht einmal erzählen, wie es zu der Titelschöpfung des Richtungsnamens „Finismus“ kam. Daß wir Richtung, Bewegung, literarische Gruppierung sein oder werden wollten, stand für uns überhaupt nicht in Frage. Daß wir unsere löchrigen Reihen (neben uns, wenn auch nicht strikt mit uns auf einer Linie, die Literaten Klaus Röhl, Albert Thomsen, Richard Anders, Norbert Reinhardt, Eugen Brehm und Kurt Hiller; und als Grafiker Horst Sikorra, Rolf Wernitz und Wolfgang Hartmann) freizügig mit Heteronymen auffüllten, machte uns auch keine großen Kopfschmerzen – das Kopfzerbrechen ging erst später bei den Auseinanderdividierern an. Was uns bis zu unserer dritten Nummer allerdings fehlte, war ein einprägsamer Name, ein verbindliches Etikett, eine richtungweisende Parole, und die fiel mir – unproblematisch, das nach 35 Jahren Abstand zu enthüllen – auf der Toilette ein. Wir hatten getafelt, Käse- und Blutwurstschnitten, die uns Frau Riegel zubereitet hatte; auch der Ananas gehörig zugesprochen, die der Bürobote unentgeltlich aus der Firma bezog; als wir dann allerdings beim Kapwein angekommen waren, und ich mich kurz um die Ecke empfehlen mußte, rief der stets auf Effizienz und verwendbare Resultate bedachte Riegel mir noch nachdrängelnd zu:
Daß du mir aber nicht ohne eine epochale Prägung wiederkommst!
Als ich dann mit dem zwar nicht gerade epochemachenden, aber doch wohl Epoche ausläutenden Begriff „Finismus“ wieder in die Runde trat, war des beifälligen Kopfschüttelns allerdings kein Ende. Auch des entzückten Abschmeckens und des programmatischen Fortspinnens nicht, und als im Februar 1953 unsere dritte Nummer erschien, wurde unsere gemischte Leserschaft zum ersten Mal mit „Lyrik der Finisten“ bekanntgemacht.
„Finismus ist kein Negativismus. Er verneint nicht, er bejaht das Ende“ hatte Riegel noch als Motto an den Rand gesetzt, aber das war natürlich ein Witz, denn in den folgenden Monaten wurde es – vorbehaltlich des ständigen Belustigungsauftrages der Künste, versteht sich – mit der Finismus-Debatte richtig ernst. Daß wir regelrechte Verrückte waren – Kleinbürger, die von der Haynstraße-sieben-ganz-hinten aus in den Gang der Literaturgeschichte einzugreifen suchten –, erwähne ich nur nebenbei. Daß der Zeitschriftentitel Zwischen den Kriegen aber nicht bloß Jokus-Schnokus bedeutete und die Parole „Blätter gegen die Zeit“ auch „Blätter gegen den Zeitgeist“ hätte heißen können, möchte ich der nachgewachsenen Tango- und Tempo-Jugend doch mit einem gewissen emphatischen Nachdruck ins Stammbuch schreiben. Was wir unter Finismus verstanden, hing aufs bedenklichste mit dem Lebensgefühl einer Generation zusammen, die sich ohnmächtig in ein Zeitalter zwischen die Kriege versetzt sah, einen totalen, den wir aus der persönlichen Anschauung kannten, und einen kaum noch vorstellbaren atomaren, der schon Anlaß zu neuen Planspielereien gab; und daß wir nicht nur den Nichtigkeitsanwehungen der Epoche zum poetischen Ausdruck verhalfen, sondern auch dem Haß, dem Zorn auf die Vernichter, gab dem literarischen Finismus sein teils fatalistisches, teils kämpferisches Doppelprofil. So unerbittlich perspektivlos und illusionsarm, wie unsere eigenen Gedichte den Weltzustand widerspiegelten, durfte er eigentlich gar nicht sein, weshalb wir in unseren politischen Prosen die Unheilsgewißheit unserer Verse trotzig wieder in Frage stellten.
„Schizographie“ war übrigens der Begriff, den Werner Riegel für unsere zweigeteilte Art zu schreiben gefunden hatte, und ich darf wohl sagen, er machte den Widerspruch erst richtig scharf. Wo wir das Miteinander konkurrierender Schreibantriebe oft wie eine Selbstanfechtung erfahren hatten, begriffen wir sie nun als unzertrennliche Kombattanten.
Wo die Entscheidungsqual, entweder das Grauen vor der gens humana rückhaltlos zu dokumentieren oder verändernd in die Welt hineinzufunken, uns manchmal bis zum Verrücktwerden zugesetzt hatte, verklärte Schizographie den Makel zur Methode und schrieb ihn als Pariazeichen in unseren Identitätspapieren fest. In den grandiosen, von eigenen Grandiositätsanwehungen sicher emporgetragenen Aufsätzen – „Vorwort zum Finismus“, „Ende und Erschütterung“, „Politik und Individuation“ – hat Riegel immer wieder den kühnen Gedanken der gespaltenen Unteilbarkeit variiert, eine Vorstellung, die das berühmte „Verlorene Ich, zersprengt von Stratosphären“ fast schon etwas zurückgeblieben erscheinen ließ, weil, wo das Soziale gar nicht mehr mitgedacht wird, auch der Widerspruch aus Mangel an Gegenspielern in sich zusammenflappt.
Daß wir von Benn viel gelernt haben, steht dabei außer Frage, und wo hätte man sich in der eigenen Lehrzeit anderweitig mit einem derartigen Gewinn verköstigen können. Zumal die Gedichte Riegels zeigen hier gelegentlich eine dem Lehrmeister deutlich zugeneigte Schlagseite, aber das bildet gewissermaßen nur den ersten Eindruck, die bevorzugte Achtzeilerstrophe betreffend und den mythologischen Anspielungskreis. Heute, nach 35 Jahren Abstand und nach immer wieder neuen Realismen und neuen Wilden hat sich mit dem geschärften Sinn für bestimmte Wiederholungszusammenhänge der Moderne auch das Sensorium für die wirklich bedeutenden Abweichungen und persönlichen Anreicherungen verfeinert, Grund genug, noch einmal tief in die Riegelschen Verse von Ende und Erschütterung hineinzuhorchen. Aus dem Nichts kommen sie jedenfalls nicht, und Nihilismus-einfach hat auch nicht das letzte Wort. Den Gesang vom „gezeichneten Ich“ dialektisch-dialogisch unterwandernd, mischt sich von Anfang an ein unverwechselbares Gruppenidiom ins Konzert, eine so vor uns noch nicht vernommene Melodei von gemeinsam ertragenen Zumutungen und gemeinsam zu genießenden Restbeständen, Cantus firmus des finistischen Genossenschaftsgefühls, wobei die Erste-Person-Einzahl sich beziehungsvoll in den Pluralis sozialis ergießt. „Wir singen die Serenaden“, „Wir gehen weiter vor im Ufergebüsch“, „Wir, in Zahlen und Zunder gesenkt“, „Wir waren, o Mensch, dein Herz, deine Tränendrüse“, das sind doch bereits von der sozialen Grammatik her ganz andere Personalverweise als die allenfalls bis zum geduzten Selbst vorandringenden Vervielfältigungsbemühungen des „lyrischen Ich“, und nur wer der Liebe nicht hat, der Menschen-, Welt- und Nächstenliebe, kann über diese gesellschaftliche Gebärdensprache hinwegsehen. Schon die poetischen Anfänge Riegels standen unter gänzlich anderen Sternen als der lyrische Solipsismus Benns:
Wenn der stinkbesoffene Dichter Riegel
aus der Hafenkneipe torkelt,
wenn der sehnsuchtskranke Schreier Riegel
in der Hurengasse ferkelt,
wenn der hungerarme Sternguck Riegel
Ranzspeck in der Pfanne spirkelt,
schaut er im zerschrammten
aaaaaaaaaaaKritzkratzspiegel
Stückchen der verdammten
aaaaaaaaaaaaaaaaWelt
aaaaaFaß der Welt unter den Rock, Dichter,
aaaaaklopf die Welt mit dem Stock, Dichter,
aaaaadoch hab sie lieb.
aaaaaSpuck der Welt in das Gesicht, Dichter,
aaaaahöhn die Welt im Gedicht, Dichter,
aaaaadoch hab sie lieb.
Wenn das abgetriebne Holzfloß Riegel
in das Flußschlammdickicht heddert,
wenn den blankgeriebnen Anzug Riegel
grauer Regen vollgesoddert,
wenn die scharfe Guillotine Riegel
Mörderrümpfe blutbequaddert,
Riegel schaut im krummen
aaaaaaaaaaaKucklugspiegel
Stückchen dieser dummen
aaaaaaaaaaaaaaaaWelt.
aaaaaFaß der Welt unter den Rock, Dichter,
aaaaaklopf die Welt mit dem Stock, Dichter,
aaaaadoch hab sie lieb.
aaaaaSpuck der Welt in das Gesicht, Dichter,
aaaaahöhn die Welt im Gedicht, Dichter,
aaaaadoch hab sie lieb.
Seit unserer Bekanntschaft und mit dem gemeinsamen Durchgang durch den literarischen Expressionismus (es war eigentlich schon mein zweiter) verdichtete sich sogar noch der gute Kameradschaftsgeist seiner Verse. Die frühere Herkunft vom Song, vom Shantie, vom geselligen Lied hallte auch aus den neuen Gesängen von der versprengten Fechtertruppe, von „uns paar Mann“, vom wahrscheinlich verlorenen, aber trotzdem nicht unterzukriegenden Partisanenhaufen heraus, wiewohl „Hurengasse“ und „Hafenkneipe“ nicht für ewig die bevorzugten Kommunikationsstätten blieben.
Nun schwelt es grenzenlos
Abends um uns paar Mann.
Gegen der Sterne Feuerstoß
kommt keiner an.
Legt euch und laßt euch liegen:
Späne und Splint
Auf den lautlosen Beutezügen
Des Beachcombers Wind.
Autarkie gegenüber den konjunkturellen Schwankungen des Lit-Betriebs und seiner unerbittlichen Verkaufsmoral war unser edelstes Streben, und Riegel war ihr Prophet. In seinem ersten richtungweisenden Artikel „Proklamation des Hektographismus“ hatte er materielle Bedürfnislosigkeit zu einem eigenen Überlebensethos erklärt und Geduld und Spucke für ein unabdingliches Betriebskapital, was nicht ausschloß, daß er unermüdlich um neue Bundesgenossen warb und die schmale Basis in die Breite zu treiben suchte:
Wir hoffen, daß wir nicht die einzigen Schriftsteller bleiben, die auf diese Weise versuchen, der Polizeiaufsicht der gewerbsmäßigen Literaturunzuchtler zu entgehen.
Da er den Schriftverkehr ziemlich ungeniert an sich gezogen hatte (was mir freilich nur recht sein konnte, weil ich zwischen den Irrungen meines Studiums und den Wirrungen der Liebe kaum noch die Zeit für postalische Selbsterörterungen fand), wuchs ihm mit der Last der Korrespondenz zugleich ein neues Offenbarungsmundstück für sein ästhetisches Sparprogramm zu. Seine meist handschriftlich verfaßten Briefe schreiben den Katechismus der literarischen Heimarbeit auf ihre Weise fort und lassen doch in jeder Zeile den hohen Anspruch des Tafelenthüllers erkennen. „Riegel denkt wie gedruckt“, hatte ich damals gelegentlich im Freundeskreis geäußert, aber er schrieb auch wie gedruckt, zierlich, exakt, geradlinig, zeilenbündig, ein seiner selbst fast beängstigend sicherer Duktus, der emotionale Ausrutscher oder aus der Reihe weichende Impulse gar nicht zu kennen schien. Tatsächlich sind selbst seine kühn ausgreifenden und sinnreich gegliederten poetologischen Essays fast auf einen einzigen zweifelsfreien Zug niedergeschrieben worden. Nur äußerst selten stößt man auf Nachbesserungen. Kaum daß sich ein einmal eingeschlagener Weg während der Arbeit als ungangbar erweist und Riegel seine Marschrichtung ändern muß. So unwahrscheinlich es klingt: er hatte sich, was zu sagen war, alles vorher in seinem Kopf zurechtgelegt, und eine mir beinah unfaßlich erscheinende eidetische Apparatur gestattete es ihm, die gedanklichen Entwürfe wortgetreu abzulesen.
Ob er dagegen ein originärer Lyriker war oder seine Liebe zur Poesie eher einem tiefen sentimentalischen Sehnen entsprang, ist für mich eine schmirgelnde Frage geblieben. Sicher beherrschte er, was erlernbar oder vermittelbar war an der Kunst bis ins allerfeinste Eff-eff, und er konnte auch eine Neutönerflöte schon im ersten zarten Anhauch erkennen. Sein praktisches Einfühlungsvermögen ging sogar so weit, daß er über ein beiläufig aufgelesenes Fundstück, eine überraschende Wendung im Ausdruck, einen irgendwo erlauschten Naturlaut sofort aufs brillanteste improvisieren konnte, manchmal lockerer als der von ihm entdeckte Originalpiepmatz. Nur daß die Wahrnehmung von Natur – und das meine ich sehr allgemein – ihm eigentlich nur über das Medium der Literatur möglich war, Schicksal so vieler Vermittler und Auslegekünstler, was Riegel selbst einmal zu folgenden halb entsagungsvollen, halb hochgemuten Worten bewegte:
Es muß jemand sein, der vor mir auf die Schanze, auf die Barrikade springt – dann bin ich aber auch gleich der nächste und überwinde sie.
Die Psychologie des literarischen Erben ist eine Sache für sich, trotzdem eins der bedenkungswürdigsten Kapitel der Kulturgeschichte, und Karl Kraus, ein wirklicher Seelenverwandter Riegels, hat ihm viele ergreifende Lieder gesungen. Von der Macht der frühen Imagines beherrscht wie von einem spirituellen Vaterkomplex und den verworfenen und verachteten Werten verbunden bis in die äußersten Nervenspitzen, muß er zwanghaft wieder-holen, was er nicht untergehen sehen will, und zu neuem Leben erwecken, was der Zeitgeist bereits mit der Asche des Vergessens überdeckt. So besehen war auch der Finismus – letzter und äußerster aller Ismen – ein literarisches Wiederholungsprogramm. Er beschwor, angesichts eines neu vor uns aufgezogenen Katastrophenhimmels, ein geistiges Genossenschaftsreich zwischen erster Vorkriegsgeneration und der unseren, gerade mal auf Abruf verschonten, und jedes von Riegel gezeichnete Expressionistenporträt war auf seine Art ein Votiv. Aus dem Rahmen des Restauratoriums fallend waren diese Memorials ohnehin. Sie drängten der Erinnerung auf, womit kein Gebildeter damals etwas zu schaffen haben wollte, und erhoben zu einem obersten Wert, was nicht einmal der Kunsthandel auf der Rechnung hatte (Ludwig Meidner-Bilder waren noch für ein unbelegtes Butterbrot zu haben), aber der immer heimlich mitformulierte Anspruch auf ein literarisches Erbe war natürlich gar nicht zu übersehen. „Links im Bücherschrank“ hieß etwas später die Neuauflage von Werner Riegels Porträtgalerie im Studentenkurier, womit wir den äußersten Pariawinkel dann freilich schon verlassen hatten oder, richtiger vielleicht, ihn kühn als linksliterarisches Pantheon eröffneten.
Künstlerische Richtungen leben nicht allein von ihren Verwahrungen und Gegnerschaften, sondern von der Kraft ihrer Imagination und dem Mut, etwas Unerkanntes an den Himmel zu erheben. Da unsere eigenen Leitsterne allerdings noch gar nicht allesamt in elysische Weiten entrückt waren, vielmehr in der gesellschaftlichen Diaspora lebten, fühlte Riegel sich gefordert, sie mit werbenden Worten in unsere Mitte zu zitieren. Damit begann der zweite Aufzug eines Partizipationswunders, das wir uns derart real eigentlich gar nicht hatten vorstellen können. Kurt Hiller – ehemaliger intellektueller Impresario des Neopathetischen Cabaret, Herausgeber der ersten expressionistischen Lyrikanthologie Condor und Begründer des literarischen Aktivismus – begrüßte uns wie ein deutsches Pfingstereignis:
Nach der Lektüre fühle ich mich um vierzig Jahre jünger als ich wirklich bin, nämlich 27!
Alfred Döblin funkte Wohlgefallen aus seinem zweiten Pariser Exil und konstatierte überrascht und ergriffen:
Man lernt von mir.
Hans Henny Jahnn, nach der Repatriierung auch nie wieder recht heimisch in seiner Vaterstadt geworden, war häufiger Gast in unserem Literatur- und Jazzkeller Anarche und sprang uns mit Manuskripten bei. Richard Huelsenbeck, bedeutender Dada-Mann der 20er Jahre und mittlerweile als Dr. Charles R. Psycho-Hulbeck in New York praktizierend, spendete postalischen Beifall („I appreciate the youthfull aggression of your magazine“) und gestattete den kostenlosen Abdruck seines Romans Verwandlungen. Schließlich gelang es Riegel sogar, den zeichnenden Chronisten des Expressionismus, Ludwig Meidner, in einem Frankfurter Altersheim aufzuspüren und ihn zur Niederschrift seiner „Erinnerungen an Jakob van Hoddis“ zu bewegen, eine herzrührende Skizze, die inzwischen oft nachgedruckt worden ist, freilich nie mit einem kleinsten Hinweis auf ihren ersten Erscheinungsort.
Mitte der Fünfziger Jahre war es uns also tatsächlich gelungen, einen magischen Freundschaftszirkel zu schlagen, über Generationen, Zeiten und räumliche Entfernungen hinweg. Was mir heute fast wundersam-monströs vorkommt, wenn ich mir das hären-holzhaltige Gewand, den flauen Druck und das ganze Juxwesen neben den Wahnsinnsanwandlungen vor Augen führe, war dennoch nicht bloß eine zufällige Ausschüttung der blind herumtappenden Fortuna. Mit Druck dahinter gestanden hatte allen voran unser unermüdlicher Maschinist und Schlackenschammes Werner Riegel, der sich nie zu fein war, unsere Sternenfähre mit irdischem Treibstoff zu versorgen. Er war es ja zunächst, der das Papier zum Einkaufspreis heranschaffte und den auch noch aus eigener Tasche beglich. Er beschriftete die Matrizen, bediente den Vervielfältigungsapparat und hütete die Bürostube des Finismus, wo ich gerade nur Versandbanderolen klebte und die Linolschnitte unserer Grafiker auf der Wäschemangel durchnudelte. Gerechtfertigt vor der höheren Genienwelt stehen und standen wir aber wohl vor allem seiner astralen Essays wegen da. Während ich meine eigenen Jugendprosen nur sehr ungern wieder ans Licht ziehe (naja, blitzen konnte man damals schon ganz nett, aber eben noch nicht richtig bauen und gliedern), sehen mich Riegels ohne Kitt und Mörtel aufgeführte Prosagebäude heute beinah schon klassisch an. Geschult an den großen Essayschreibern der Moderne, an Karl Kraus, Alfred Kerr, Heinrich Mann, und durchzugsweise auch Gottfried Benn, setzte er dem Nissenhüttenprogramm der deutschen Nachkriegsästhetik eine Gedankenkühnheit und eine Baugesinnung entgegen, die gar nicht mehr von dieser Welt schienen, von der geistigen Bretterbudenlandschaft des Wiederaufbaus nicht, was allerdings auch Riegels fremdkörperhafte Stellung in der Szene erklärt.
Was zu bestaunen bleibt, ist eine mittlerweile vom Moos der Zeit übergrünte Tempelruine, aber gerade die unvollendeten Werke nehmen ja oft einen Vorzugsplatz in unserer in den Imperfekt verliebten Erinnerung ein. Zu ergänzen gegenüber dem Limes-Gedächtnisband von 1961 wäre allerdings doch, daß sich unsere literarischen Aktivitäten im Jahre 1955 deutlich auf andere Bühnen verlagerten, z.B. den von Klaus Röhl begründeten Studentenkurier (das spätere konkret), und daß Riegel dort sogar eine Festanstellung als Feuilletonredakteur ins Auge faßte. Der Übergang vom Hektographismus/Finismus zum linksperspektivischen Bilderblatt schien ihm dabei mehr Kopfzerbrechen zu bereiten als mir. Einer rigorosen Auffassung von literarischer Hochform zuliebe hatte er Röhl ein paar Jahre zuvor den Zugang zu Zwischen den Kriegen verwehrt (wofür ich ihm im Gegenzug den Verzicht auf seinen Compagnon Albert Thomsen abverlangt hatte), und der Gedanke, seinerseits in Abhängigkeit zu geraten, verfolgte ihn wie eine Zwangsvorstellung. Nur daß die Aussicht auf richtig Druck und Papier natürlich ihren eigenen Sog und ihre eigene Überzeugungskraft besitzt, zumal der taktisch immer sehr klug operierende Röhl uns sachte aber sicher an den Zugfäden unserer Pseudonyme zum Kurier hinüberlotste. Als ich mich, einer Chinareise wegen, für eine Zeitlang von Hamburg entfernen mußte, fühlte Riegel sich dann hinreichend genötigt, in die Bresche zu springen und mit dem politischen Leitartikel auch die Patenschaft über meinen herrenlos gewordenen nom de guerre „John Frieder“ zu übernehmen.
Die kleine Anekdote ist nicht bloß unseres bunten Maskentreibens wegen interessant. Auch nicht, um die notwendig erscheinende Tarnung eines Decknamens zur Zeit des zugigsten kalten Krieges zu illustrieren. Ich will damit nur sagen, daß wir mittlerweile bis in unser politisches alter ego zusammenhingen und Riegels früher Tod eine gemeinsame Identität jäh auseinanderriß. Er war auch nicht in irgendeiner Hinsicht heroisch, dieser Krebstod, sondern bis in die sozialen Begleitumstände hinein beleidigend. Irgendwann begannen Riegels scheinbar unerschöpfliche Kräfte bedrohlich zu verfallen. Irgendwann konnte er sich nur noch mühsam die Treppe zu unseren Redaktionsräumen in der Kaiser-Wilhelm-Straße hinaufschleppen und die dringend erhofften Artikel nicht mehr fertigstellen. Und dann fanden wir uns auch sehr bald zum letzten Abschied in einer entwürdigend vollgebunkerten Abstellkammer des Eppendorfer Krankenhauses zusammen, Kurt Hiller, Peter Martin Lampel, Klaus Röhl, Albert Thomsen und ich, die beiden Alten wie schuldbewußt die kahlen Schädel gesenkt, weil auch sie zu den Überlebenden zählten.
Da die Menschen dazu neigen, sich einen Daseinssinn auch über den Tod hinaus zu erfabeln, sahen wir in der tragisch verkürzten Flugbahn Riegels natürlich sofort die expressionistische Schicksalsfigur. Den Ikariden der literarischen Moderne nacheifernd, als gelte es das eigene Leben, schien er nun leibhaftig in ein Erbe eingetreten, dessen äußerste Konsequenz nur Leidensgenossenschaft heißen konnte. Grund genug für solches mystische Vermuten boten die Riegelsehen Verse von Ende und Erschütterung immerhin. Nachfolge im Sturz, Genossenschaft im Scheitern, Wiedereinholung von verehrten Abgeschiedenen waren seine zwanghaft aufgerührten Leitmotive gewesen, und auch daß sein letzter, Fragment gebliebener Aufsatz dem jung gefallenen Ernst Wilhelm Lotz galt, schien uns damals ein Zeichen.
Und keine besonderen Wünsche, keine blutigen Male.
Gar nichts für später, nur einen Lungenzug,
den letzten besabberten Kippen, in der Totale
sieht alles ganz anders aus, dein Leid, dein ikarischer Flug.
Ein Abgesang? Sicher. Als daktylischer Sechsheber wiederum auf das große Vorbild Lotz verweisend? Gewiß. Aber als lyrischer funeral blues eben doch nur die halbe Wahrheit des finistischen Doppelkonzerts. Wie der Finismus alles andere war als eine endzeitliche Dämonenlehre (wir sahen hinter den Schreckensszenarien der Zeit sehr genau unsere bundeseigenen Mitinszenierer und Schreckensmänner), so der von Riegel strategisch ins Treffen geführte Begriff der „Schizographie“ das Gegenteil von eingestandener Geistesverwirrung. Er setzte dem blinden Sog der Massenanziehung eisern den Individuationsauftrag der lyrischen Einzelseele entgegen und dem eitlen Vergnügen an der bloßen Selbstdarstellung die Gebote der Gleichheit, Brüderlichkeit und Verbesserlichkeit. Gegenüber der guten alten Ambivalenz bedeutete das gleichzeitig Anschärfung und Aufhebung eines Widerspruchs in der literarischen Praxis. Wo wir zum Beispiel Ausdruck sagten – Ausdruck ohne jede Rücksicht auf öffentliche Illusionen und bis an den Rand der Verzweiflung –, nährte gerade der radikal vorangetriebene Wahrheitsanspruch des Ich das entgegengesetzte Bedürfnis nach perspektivischer Durchdringung eines unheilvollen Weltzustandes. Wo wir andererseits mit unseren Prosabesen durch die politische Arena fegten, als könnten wir dem Dunkelmännerwesen auf einen furiosen Streich ein Ende machen, wies uns die Ergebnislosigkeit unserer Mühen immer wieder auf das private Verfassungsorgan der Lyrik zurück. Aber was heißt in solchen Bewegungszusammenhängen überhaupt noch zurück und was progressiv. Daß unsere konkurrierenden Schreibantriebe sich wechselseitig unter Spannung hielten, war das eigentliche Unruhprinzip des literarischen Finismus, auch Grund zur Beunruhigung, weshalb es einer eigenen Ästhetik bedurfte, sie vor uns und der Mitwelt faßlich zu machen.
Ein bloßes Kunstprogramm war der Finismus dennoch nicht. Was scheinbar nur der Literatur zugemessen war, war in gleichem Maße für das Leben gesprochen, für jedes zwischen „Politik und Individuation“ gespannt zerteilte Leben, ein ganz gewöhnlicher Bruch, den Riegels gleichnamiger Aufsatz auf einen wahrhaft menschlichen Nenner brachte:
Es scheint, das Ende einer großartigen Epoche der Menschheit tritt in die letzte Phase; es scheint, die Fülle dieser Epoche versiegte im ungeheuren Flußbett; es scheint, beide Ströme abendländischen Geistes, der weiße der Aufklärung, der Klarheit, des politischen Ingeniums, und der blaue des schweifenden Traumes, des umgetriebenen Herzens enden im gleichen Ort: die Ströme der großen Toten unseres Geistes, Styx und Acheron abendländischen Denkens und Dichtens münden in eine Brust, in die Brust des Jungen, des Unbekannten, dessen Bild wir zu zeichnen versuchten. Der Erbe beider steht auf und atmet, ärmer als die vor ihm und reicher. Er wird den Weg gehn, zwiefach gehöhnt, zwiefach geschlagen, zwiefach gesegnet – wir wissen eines gewiß: er ist der geborene Mensch.
Peter Rühmkorf
Dethardt Fissen: „Finismus“ in Hamburg, 29.4.1953
– Über Rühmkorfs Werner Riegel-Buch. –
Deutschland, Europa – das sind doch nur die Schaustücke in der westdeutschen Restauration, sie hängen von der Decke wie Krokodile in der Schifferkneipe.
Reich an solchen schillernd-kompakten Bildern ist die politische Prosa Werner Riegels (1925–1956), die wohl die bedeutendste Hinterlassenschaft dieses früh verstorbenen Autors ist. Hier bekundet einer, der auf der Bühne des Staates nur einen „Dreigroschenkanzler“ sah, dem aber auch die Betriebsamkeit der Gruppe 47 zuwider war, die maßlose Enttäuschung darüber, daß es nach dem Untergang der Nazis keinen wirklichen Neuanfang gab, daß die Deutschen 1945, (in Riegels Worten) anstatt zu erwachen, nur „sich auf die andere Seite“ legten.
Riegels Polemiken beklagen die wachsende Macht der Militärs und leuchten den provinziellen Dumpfmuff der fünfziger Jahre aus, den erst die 68er-Leute nachhaltig stören sollten und für den etwa die Friedenssehnsucht nur in der Form eines „ordinären verpennten Pazifismus“ denkbar war. Diese Formel lesen wir in dem Kommentar über den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Riegels tiefgründigster und heute sehr aktueller Glosse, die die Preisvergabe an Albert Schweitzer als eine betuliche Farce bloßstellt, die nichts anderem diene als dem bundesrepublikanischen Seelenfriede: Lambarene sei schließlich ein Krankenhaus unter vielen, und so beehre man leider Personen, „nicht mit dem Krieg (was zeitgemäß wäre), sondern mit dem Frieden als Prämisse“.
Dieser Werner Riegel ist ein deutscher Schriftsteller, ein literarischer Nachfahre der Expressionisten, der im Alter von 31 Jahren dem Krebstod erlag. Peter Rühmkorf, sein jüngerer Freund und Mitstreiter in den letzten fünf Lebensjahren, hat in dankenswerter Weise jetzt eine Auswahl von Riegelschen Texten aus dieser Zeit, also von 1951–1956, vorgelegt. Es handelt sich um Gedichte, literaturkritische Aufsätze, Briefe und die soeben vorgestellten politischen Schriften, an die 120 Texte insgesamt, die im Studentenkurier (dem konkret-Vorläufer) und andernorts, vor allem aber in Zwischen den Kriegen erschienen sind, jener von Riegel begründeten und von ihm und Rühmkorf mit Mühe am Leben erhaltenen Zeitschrift.
Eine Reihe von Fotos sind dem Buch beigegeben, das äußerlich ein schönes Werk geworden ist, eine leinengebundene Hommage an den Schriftsteller, der zeit seines Lebens fast nur auf hektographierten Blättern seinen Lesern unter die Augen kam.
In seinem großen einleitenden Essay unterrichtet Rühmkorf über Riegel und sein Werk, macht etwa klar, wie die Gedichte, so sehr sie sich auch an Benn anlehnen, doch gelegentlich über ihn hinausgehen, indem Riegel den sozialen Appell an das „Wir“ einfügt. Beeindruckend jedenfalls, um bei den Gedichten, dieser „Messerspitze voll Traum“ (so lautet ein Titel), zu bleiben, ist der Wortreichtum und die bis zur fatalen Selbstironie verstiegene Reimkunst, die Phlox mit Gesocks zu verbinden weiß: höchst intellektuell spricht hier ein Dichter von seiner Seelenlage. Dem Lyriker müsse die Seele im Hirn sitzen, proklamierte er immer wieder, und sogar:
Ich halte die theoretische Beschäftigung mit Gegenständen der Dichtkunst für die reizvollste aller Beschäftigungen des Dichters.
Tatsächlich sind auch seine literarhistorischen Artikel von bewundernswerter intellektueller Präzision. Man lese nur seine Erläuterungen zu Carl Einstein und zu dem weniger bekannten Expressionisten Paul Boldt (und ziehe vielleicht den ausführlichen Brief an Heinz Kosters, dem späteren Mitbegründer der Dortmunder Gruppe 61, hinzu, in dem Riegel eine Lektion darüber gibt, wie in unserer Zeit ein gutes Gedicht auszusehen habe)!
Und vor allem lese man Riegels Porträt von Arno Schmidt, das schon damals (1955) mit detailreichen Argumenten die Verbindungslinien von Schmidt zu seinen Vorgängern Döblin, Stramm, Cooper, Jean Paul, Lessing zieht. Hier beweist Riegel eine Belesenheit, die dem viel gerühmten Schmidtschen Literaturwissen zweifellos ebenbürtig ist.
Zu diesen historisch ausgerichteten Beiträgen treten programmatische Stellungnahmen, in denen es öfters um die Alternative „politisch“ oder „lyrisch im Sinne von l’art pour l’art“ geht. Riegel wechselte dabei gern die Standpunkte, was er elegant tun konnte, da er, wie auch Rühmkorf, mehrere Pseudonyme benutzte. Dies übrigens vor allem dazu, um der Leserschaft von Zwischen den Kriegen eine Autorenvielfalt vorzuspiegeln, die es nicht gab – stammten doch nahezu alle Beiträge nur von den beiden. (Es stört ein wenig in dieser Ausgabe, daß sie die Texte nicht mit dem jeweils von Riegel gewählten Verfassernamen versieht; man möchte doch, wenn gar Riegel über Riegel schreibt und ihn bei diesem Namen nennt, gerne wissen, ob er dies pseudonym oder mit offenen Karten tut.)
Der Leser des Buches staunt vor der dichterischen und rhetorischen Potenz Werner Riegels, und doch ist der allerletzte Eindruck, den es hinterläßt, ein ganz anderer: es bleibt ein Gefühl des Mitleids vor diesem Mann. Und zwar nicht eigentlich wegen seines kurzen Lebens oder der Zeitumstände seiner Schaffensjahre, sondern weil man spürt, daß Riegel einer geschundenen Generation angehörte.
Der Untertitel des Buches, Rühmkorfs Wort vom „armen Schwein“, weist von vornherein in diese Richtung, und die Fotos von dem Achtzehnjährigen in Uniform, von der Familie mit den eingeübten Posen, von der kalligraphisch kleinkarierten Handschrift halten einen noch fester darin. Rühmkorfs Essay bewahrt insgesamt, um ja kein Pathos aufkommen zu lassen, so etwas wie eine Altersweisheit, eine fast heitere Gelassenheit gegenüber dem Streben des einstigen Freundes mit dem „Leselampengesicht“, doch er spricht auch, und hier wird die Altersweisheit zu Galgenhumor, von Riegels kaputtmachenden Soldatenjahren und, beinahe überliest man die kurze Passage, davon, daß der Poet sein eigenes Söhnchen sehr streng erzog.
Zwischen den Kriegen, so nannte er die Zeitschrift, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Gefahr vor einem dritten in eine beschwörerische Formel fassen und wohl auf diese Weise bannen sollte. Doch realiter „zwischen den Kriegen“, zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, ist Riegel geboren, ist seine Generation beheimatet der die Autoritäten eingebleut und die Kleinbürgerlichkeit als Anstand weisgemacht worden waren.
Als Literat und nur so gelang es Riegel, diese elende Prägung zu überwinden. – Gehen wir hundert Jahre zurück: „empfangen zwischen zwei Schlachten“, damit umschrieb Alfred de Musset in seiner „Confession“ die von Krieg und Restauration jämmerlich unterdrückte Generation, der er angehörte. Rühmkorfs Riegel-Buch steht in einer bitteren Tradition.
Martin Lowsky, die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989
Es ist der gleiche Betrug, ob ich dichte oder pisse [Rühmkorf].
Finismus, fin de siècle, ragout fin, Finis Poloniae. Finis, is m [bisweilen f], also lateinisch die Grenze, das Höchste [honorum], das Ende. So nannten im Finistischen Jahrzehnt zwei junge Männer ihre Masche, von denen der etwas ältere, im Sommer wenn die Erde leicht [Big Benn]: am 11. Heuet 1956 mit Einunddreißig folgerichtig verkrebst, der andere aber weiterviruliert. Lebend und lächerlich, auf so muntere Art morbid zu sein ist, nach seiner Ansicht, nicht jedem gegeben.
Finismus-Vater Riegel über Rühmkorfs Wendungen: seidener Wind… Lupinengeruch [in dem Gedicht „Sanfte Dämmerung, und mit herabgelassener Hose“]:
Darf ich Ihnen verraten, daß solche Zeilen so ernst sind wie „Der Mond ist aufgegangen“?
Ernst gemeint. Er muß es wissen. [Stimme aus dem Grabe Benns.] Ernst also im Gegensatz des todkranken Schiller:
Heiter ist die Kunst.
Nietzsche-Benn:
Olymp des Scheins.
[Riegel über Schiller: „Der Wortschatz des Mittelstandes ist auf seine Glocke gegründet –“. Anläßlich einer Benn-Soiree, „– mit dem Problem beschäftigt, wie es kommt, daß ein seine Gedichte lesender Autor von dem, was uns seine Gedichte so wert macht, keine Ahnung hat.“
Ernst wie das Bier und der deutsche Protestantismus [Hegel] will man genommen sein – und die Nacht schwappt um den Kasperzinken unseres jungen Poppenspäler.
Die auf eine Frage des Porträtisten von Rühmkorf ausdrücklich angezeigte Affinität zu Goethes [„Gelegenheits“-] Gedichten bringt in der Tat folgende Gegenüberstellung:
SCHÄFERS KLAGELIED
Goethe
Da droben auf dem Berge
Da steh’ ich tausendmal,
An meinem Stabe gebogen,
Und schaue hinab in das Tal.
oder:
[Rastlose Liebe]
Alles vergebens!
Rühmkorf
Mit unsern geretteten Hälsen,
Immer noch nicht gelyncht,
Ziehn wir von Babel nach Belsen
Krank und karbolgetüncht.
[ibidem]
In ewiger Wiederkehr
Der Vergleich spricht wohl für Rühmkorf. Trotzdem, auf beiden Seiten: Situationsgemauschel, Seinsanalyse, Reflexion. [Macht Goethe wirklich naive Dichtung?] Im Bild bleibend sagen wir: Rühmkorfs Produktion scheint uns sentimentaler zu sein als sentimentalisch.
Report, Bilanz, Summen [ doch nicht von Thomas]:
Fraßen des Daseins [!] Schlempe / Helebrierten […] das Hirn, seine Heiligkeit –
[Aufklärung oder auch Zopf genannt. Hirn: Papst und Messe]
– Doch von erstaunlichem Bestand […]
Das Warme in unserer Hand.
Zurück zur Natur. [Riegel über Rühmkorf-Flamme Arno Schmidt, Bargfeld, Kreis Celle: „Mag er im Formalen den Prinzipien eines Wieland, eines Jean Paul die Prinzipien einer neuen spielenden und dennoch modern konzisen Epik abgewinnen, – er wird nie unterlassen, darauf hinzuweisen, daß jenes Jahrhundert das der Aufklärung und der Enzyklopädie war; und seine elementare Feindseligkeit etwa der Religion gegenüber… Weil: das Biologische von seiner Geistigkeit offenbar immer noch nicht lädiert ist.“]
Rilke/Benn-Kreuzblütler
Hagelstange:
Was Du geliebt und gelitten –
Rühmkorf
– haben gelärmt und gelitten
schrieben Pamphlete –
Fleißig den Stabreim geritten!
Sollte es anderen Lyrik-Beschauern entgangen sein?: Subjekt des Goethe-Gedichtes ist Schäfer g, ein Rühmkorfscher. Ähnliche Ambition verrät die Stelle [– Wildernd im Abflußrohr]: etwas Größe unter den Nagel gerissen.
oder: – aber von aller Größe abgesehen –
oder: Schwinge das Fackelscheit, bündische Jugend, […] während die Dunkelheit / auf der Stelle tritt –.
Oder er verbessert in den Volks- und Monomanenliedern, Römerode. I: Ich liebe das gemeine Volk / und halte mich fern von ihm, fragt sphinxisch was ist? was wird sein? [Verlorenes Zitat aus Onkel Gottfrieds ,Stimme hinter dem Vorhang‘?] und gibt jubilierend die Antwort: Größ’ von seiner Größe. Leslie Meiers Größe.
Seine Freunde sagen zu ihm: ,Meier, sing uns ein Lied, / das uns so leicht keiner singt!‘ Das hört sich an wie ,carmina non prius andita‘. Eine andere Gegenüberstellung zeigt aber wirklich Rühmkorfs Abhängigkeit von Benn.
Wir ziehn einen großen Bogen
wie ist nun das Ende – wie?
Über die Berge gezogen
und vor allem die Monts Maudits.
Wir holen aus Cannes Mimosen
für eine Stunde her.
Wir hängen an unseren Neurosen
sonst hätten wir gar nichts mehr.
[Benn, 1953]
Wer hat dich herbestellt?
– Parlez moi d’amour –
Fall ins Lupinenfeld
mit deiner Amöbenruhr.
Deine Augen sind trüber denn je,
du armes verlassenes Schwein.
Nun hauch deine Theodizee
in die wahllosen Winde ein.
[Rühmkorf, 1959]
Erblasser Riegel:
Dennoch hoffen wir, in einigen unserer Gedichte […] endlich über Benn hinausgelangt zu sein –.
In beidem: Singsang, Ausverkauf, Frankophilie, Weltschmerz, tränenschwer. Hinter die zwei letzten Zeilen des Rühmkorftextes halte man auch Rilkes:
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind
Vorzeile:
In Wahrheit singen, ist ein anderer Hauch.
[„Sonette an Orpheus“.]
Robert Neumann parodiert schon 1927 wie folgt:
Frühling, adipocyre
Batrachomyomachie,
heut greif auch ich zu der Lyre
– aber wie?
Jünglinge, Kater – das Mühen
läuft auf dasselbe hinaus:
die Gonorrhöen blühen,
die Stirnen schlagen aus.
Benn ist also die Sonne und Rühmkorf kreist um das Licht. Aber Rühmkorf ist noch jung und Benn eben tot. Man braucht nicht an ähnliche Konstellationen zu erinnern.
War nämlich das entartete Produkt des protestantischen Pfarrhauses in die Krebsbaracke gegangen, so tauchte Rühmkorf etwas tiefer in den Gully. Deutsche Lyrik soll heißen: Ausdruckswelt bereichern. Brecht hatte entsprechendes unternommen mit seiner Dreigroschenoper, andererseits aber Zeugnisse allerhöchsten Raffinements an understatement und östlicher [mandarinischer] Weisheit vorgewiesen. – Riegel bekennt in der Korrespondenz mit einem Leser seine Abhängigkeit von der Hauspostille und vom Baal, nicht aber von Benn.
Formeln Benns, des sechsundzwanzigjährigen: süße Leiblichkeit wie Belag am Gaumensaum – dem ist das Geschlecht zugewachsen – klebt überall die Scham – die Spalte und der Stoß – die Krone der Schöpfung das Schwein, der Mensch – Filzläuse zwischen üblen Schnauzen – Darmkrankheiten und Alimente – verkackt die Greisin ihr Bett – Fraß, es in den Darm zu lümmeln –
Formeln Rühmkorfs [mit sechsundzwanzig]: des Mondes goldener Arsch – scheißegal – Abflußrohr – tiefe Narkose hinter dem Ektoderm – schmelzendes Hirn – Arsch unterm Hemd – Schnauze voll – Darminhalt –
(mit dreißig]: Komm, alte Sau – Arsch der Genesis – Präser Gottes – mistblond – Mistbeet der Erinnerung – süßes merde – Lunas silberne Zitze – coso ergo sum –
(mit zweiunddreißig]: Arsch an Arsch.
Goethe mit vierundzwanzig: „– kann mich im Arsch lecken!“
Dergleichen ist glattes Pubertieren. Aber, damit man mich hier recht versteht: seit, sagen wir Catull, pubertiert ein junges Talent. Seit Villon werden hundsgemeine Wendungen verkocht. Dies stellt auf keinen Fall etwas Unerhörtes dar.
Die Cartesius-Persiflage steht in dem Poem Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock.
Klopstock
Der Zürchersee
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.
[1]
Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fuß
Zürich in ruhigem Tal freie Bewohner nährt,
Schon war manches Gebirge
Voll von Reben vorbeigefloh’n.
[4]
Rühmkorf
Asklepiadeische Strophe:
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
mit, entspanntem Munde gepriesen; schöner ein
künstlich Gebiß,
das den großen Gedanken
einer Schöpfung noch einmal käut
Schon lag hinter uns weit der Süllberg
Sagebiels Gasthof, gepflegte Biere,
Bäume klettern den Hang hoch,
Flieder-Kastanien-und-Rotdorn, schooon sog uns die Schwerkraft am Hintern.
Ein Schnack. Geschrieben in Rühmkorfs zweitem Gedichtband Irdisches Vergnügen in g. G ist die physikalische Konstante aus Untertertia [Schwerebeschleunigung, 9,81 m/sec.]. Musikalisch, würde es: moll meinen. Aber das klänge nach Fingerübungen, wie ein Postfinist [Missa-Profana-Döhl] sein Geschreibsel auffaßt. Im historischen Original hatte der Titel geheißen: Irdisches Vergnügen in Gott. Der Verfasser, Barthold Hinrieb Brackes [1680–1747] starb als Hamburger Ratsherr. Klopstock und Rühmkorf sind Wahlhamburger.
Brockes schrieb: „Ein singend Nichts? Ein bloßer Klang?
In solchen forschenden Gedanken
Vertiefte sich mein muntrer Sinn;
Ich schloß nach Hin- und Wiederwanken,
Es sei was Himmlisches darin.
[„Die Nachtigall“]
So im Barock. Für unsere Halbzeit verkündet sich Lebenslust folgendermaßen:
Der rote Rühmkorf wie er singt und spinnt,
geht ihm sein Hirn zutal;
man hat ihm eine Freude angezündt,
die Ohren allzumal.
[„Schäfer-Lied“]
Ein anderer Postfinist dagegen; zwei Jahre jünger als Lyng:
Volkstanz auf der Kolchose,
Bebop in Frankfurt am Main,
aber uns Ruhelose
fängt nichts mehr ein.
[Reimar Bodo Lenz]
Zwei Jahrgänge weiter ist es aus mit irgendeinem Vergnügen, ob in Gott oder in g.
Aber weiter bei Klopstock-Rühmkorf.
[6]
Hallers Doris, die sang, selber des Liedes wert,
Hirzels Daphne, den Kleist innig wie Gleimen liebt;
Und wir Jünglinge sangen
Und empfanden wie Hagedorn.
nur dies Herz, und ein instabiles
grobes Gefühl in der Brust, der
hochgemobelte Ursprung;
und wir sangen hinter dem Segel
und empfanden wie Schmidt.
Man setze: Sternenzelt und hat den Ursprung. Das alte deutsche Pathos. Negative Metaphysik. Man hofft auf Brechts Spuren Verfremdung zu zelebrieren.
Was ist geschehen. Vorbei an Rilke und Hölderlin, die offiziell als dunkel verherrlicht, deren Auslassungen hingegen schon vom Wanderkomödianten Wolfgang Borchert als vieldeutig und heimatschwanger beargwöhnt wurden, zog man zurück zum Expressionismus. Der Anfänger Rühmkorf [weißer Jahrgang 29; hier bleibt endlich einmal die Farbe der Unschuld unangetastet] und sein Freund mit Fronterfahrung Werner Riegel hatten erfaßt, daß Blut und Boden und die Folgen im meisten wurzelten, was zwischen Gustav Freytag und Josef Weinheber Deutsche Literatur genannt werden will. Daß Benn, ein Typ, tief vom fin-de-siècle geprägt, vom edelsten was wir haben, nicht ausgenommen werden kann, macht die Lage desparat bis unter den Nullpunkt. Man erinnere sich, daß sogar Heine, einer der wenigen aufgeklärten und bewußt arbeitenden deutschen Schriftsteller, mit seinen Volksliedern, via Gesangverein der wilhelminischen Primel, der großdeutschen Staatsidee nolens volens das Mistbeet bereiten half.
Die verhaßte Frontgeneration hatte sich mit ihrer Prominenz arrangiert in der Gruppe 47. Dort war man zu Hause, ließ gut sein und mauerte sich hoch gegen die heimkehrenden Emigranten; Thomas Mann ist tot, keiner von ihnen behielt seinen Posten, aber auch Rühmkorf verdiente im letzten Jahr dreihundert Mark mit Literatur.
Rühmkorf im „Heinrich-Heine-Gedenk-Lied“:
Das Licht ist dreimal durchgeseiht’
eh man’s veröffentlicht.
Krume, wo deutsche Poeten gedeihen konnten [Schlesien, war verlorengegangen]. In Mitteldeutschland wurde wieder gesungen, nicht nur in Klüngeln von präparierten Gemütern [die notfalls in Elfenbeintürmen kleine Proteste schreien]. Jeder war willkommen, aber nur so, wie Platon es schon wollte. Ein Vikariat des Abendlandes hatte ein östliches Kulturvolk in die Knie gezwungen mit einer Waffe, die keine Ethik der Welt, die Nikomachische nicht einmal, legitimiert. Hiroshima-Lyrik entstand.
In dieser literarischen Situation, wie auch mit dem Vorgefühl einer Menschheitsdämmerung – im Interesse der Konzeption unterschlagend, daß die Art wahrscheinlich weiterwurstelt – inaugurierte man die hektographierte Zeitschrift: Zwischen den Kriegen [Auflage hundert bis hundertfünfzig Exemplare, im ganzen fünfundzwanzig Nummern]. Rühmkorf und Riegel. Da man nicht genügend Ebenmäßiges traf, erfand man Pseudonyme. Ähnlich bewerkstelligte Kraus seine Fackel, arbeitete Tucholsky an der Schau– beziehungsweise Weltbühne.
Riegel:
– daß Zwischen den Kriegern die einzige zutiefst literarische Zeitschrift Deutschlands ist – [1954].
Rühmkorf:
So exklusiv armselig, so feierlich und rüd-rücksichtslos in einem hat sich wohl selten, vermutlich nie, eine literarische Bewegung konstituiert – [ 1961].
Bald hatte der alte Expressionisten-Mentor Dr. Kurt Hiller die Ägide übernommen. Immer wieder taucht dieser Name, als Hinweis, in Äußerungen der finistischen Dioskuren auf.
– Hiller einen guten Instinkt für wesentliche Richtungen unserer geistigen Beschaffenheit besitzt – [Stadler 1914].
Hiller gelegentlich der von ihm geförderten, zum Teil auch entdeckten jungen Lyriker 1913:
Man muß sich, unter anderem, nicht vor Fremdwörtern und allen möglichen terminis technicis scheuen; muß das Geistige nicht klassisch-kaffrig ausschalten; muß knappe und irisierende Synthesen geben von dem, was seltsame analytische Sensation in uns ist.
– über Heym: Brüllende Superlative, brechet in Scharen hervor
– Über Hardekopf: Lernet von ihm seine Kontrapunkte; wie er Akzente verteilt; wie er dynamische Beziehungen herstellt zwischen Satzteilen, zwischen Sätzen; wie, und wie taktvoll, er zusammendrängt; wie er, bis zur äußersten Eindeutigkeit der Nuance, Affekte mixt.
Revolte, Fronde wurde aufs Panier gestickt, literarisch und politisch.
Der Limes-Verlag hatte gerade in seiner Reihe Dichtung unserer Zeit [ein anderer Titel: Lippenstift für die Seele] die Heiße Lyrik der Riegel & Rühmkorf, Hamburg veröffentlicht, als ein Finanzbeamter, der regelmäßig gen Bayreuth pilgert [des Stabreims wegen?], mir schrieb:
– sondern der straße. Eine sammlung derartiger ausdrücke zusammenstellen, ist keine kunst.
Ich aber schrieb an Enzensberger Verleger zur Verteidigung der Wölfe:
O si tacuisses, Magnus quidam philosophiae doctor mansisset.
Hält man in der Tat die Straßengesänge Rühmkorfs gegen die überspitzten, blutlosen der zwei Wochen jüngeren Intelligenzbestie Enzensberger, „für den ich dies in den Staub ritze“ [Forestier-Erbe?], nehmen wir einen anderen engagierten Typ: des scheuen, zwei Jahre älteren, verklemmten Blechtrommlers und Katz-und-Maus-Spielers Günter Graß: „Ich grüße Berlin, indem ich / dreimal meine Stirn an eine / der Brandmauern dreimal schlage –“, so kommen sie gut weg. Unter dem Beifall der deutschen beat-szene zerhackte denn auch, im Auftrage des Arbeitskreises Progressive Kunst an der Universität Hamburg/Sektion Literatur, Leslie Meier in seinem Lyrik-Schlachthof den Nobel-Preis-Vorschlag und Innendekorateur Rudolf Alexander Schröder; er „schlachtete Gerechte und Ungerechte“ [Bender], streichelte Skorpion Enzensberger, er jaulte stabreimerisch.
Aber nun den abschüssigen Weg betrachtet von Benn zu Hagelstange, von Hoddis zu Härtling, von Ernst Wilhelm Lotz zu Horst Lange, von Goll oder Eluard zu Poethen und Celan und Atabay, von Trakl zu Holthusen, zu Krolow, von Arp und Huelsenbeck zu Mon, Bremer oder Gomringer – wie verlor das an Mark und Kraft, ohne an harter Geschmeidigkeit zu gewinnen
– knurrte:
Achten Sie doch bitte darauf, was Günter Eich oder Ingeborg Bachmann in Zukunft an Lyrischem vorlegen werden.
Stimmt. Aber als Bumerang genommen: der Versuch, Klassik mit Kloake zu klittern [man beachte die Allitteration] ! Bringt er die geforderte Legierung? Trieft Rühmkorfs Anti-Romantik nicht von fehlgeleisteter Trauer? Es paradieren bis zur Penetranz die alten Bekannten Mond und Sterne, Wind [gleich woher er kommt], Herbarium, Liebe [wenn auch apostrophiert mit dem: Wortschatz von steilem Zahn und Zickendraht]. Hirnakrobatik. Riegel.
Ökonomie des kleineren Talentes?
Aber dies ist es wohl, was die Welt im Innersten zusammenhält [Rühmkorf-Vorbild Goethe als Lyriker]. Aus einer anderen Richtung betrachtet: Lohensteinischer Schwulst.
Rühmkorf nämlich, inne der Andeutung Benns [Vorrede zur „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“]:
– mit dem Barock muß ein Zusammenhang wohl bestehen –
Riegels Urteil:
– heutige Formen des Barock […] haben keine Zukunft, weil sie immer bereits ihre Vollendung sind. Das sei auch für unsere bisher für gut befundenen […] Gedichte gültig –
Rühmkorf ging auf der Suche nach den verlorengegangenen Versatzstücken noch weiter zurück, wie folgende Strophe zeigt:
– Der lange süeze kumber mîn,
bei ausgebeuteltem Verstand,
schlug meines Hertzens Tam burin
von Helffenbein, die Hand?
[„Sentimentalisch II“]
Er ging zurück bis Oswald von Wolkenstein, welcher späten Minnesang und frühen Humanismus in realistischen [sagt man] Gedichten verschmolzen und der Volkspoeterei angesäuert hatte.
In seinen Volks– und Monomanenliedern, der bisher gelungensten veröffentlichten Leistung, arbeitet Rühmkorf analog. Soll man sie auswendig lernen? Seit Tucholsky haben sich nicht so viel Witz, Wut und Wendigkeit verbunden, seit Heines herzzerreißenden Untertreibungen gab es keine derart groteske, veitstanzende Melancholie! Was Rühmkorf über einen Vorläufer Borchert schreibt: „– wie er auf der einen Seite das Unpassende zur Vereinigung zwingt, so verstellt er mit Vorliebe das Geläufige und parodiert Bibel, Volkslied, Schlager“, gilt auch für ihn selbst.
So setzt der Jazz seine dirty und muddy sounds. So zitiert Strawinskij fortwährend, solang er Musik macht.
Aprèslude: Rühmkorfs „Kunststücke“ [Oden, Sonette, Hymnen und Gesänge] – Parodien, zwei Grad steiler als die Freß-, Sauff- und Venuslieder von Holz, wollen schon vom Titel her als Stückwerk betrachtet werden. Vergleiche auch: „Das Wandern ist des Müllers Lust“ von Müller; und ich schließe mit einer Definition Sartres [„Was ist Literatur“]:
Dichter sind Leute, die sich weigern, die Sprache zu benutzen.
Nachschrift: Rühmkorf ist ein exzellenter Geist. Sein Platz in unserer Literatur gilt als gesichert.
Manfred Günzel, aus Schriftsteller der Gegenwart. Dreiundfünfzig Porträts. Herausgegeben von Klaus Nonnenmann, Walter-Verlag, 1963
Michael Braun: Die vergessene Revolution der Lyrik. Zur Aktualität von Rainer Maria Gerhardt und Werner Riegel.
Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!. Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona
Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf
Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit
Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit
Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik
Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik
Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik
Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum
Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern
Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)
Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999
Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005
Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004
Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018
Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019
Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019
Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019
Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Elbe Wochenblatt, 27.8.2019
Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019
Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019
Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019
Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019
Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019
Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019
„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.
„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 1/2
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 2/2
Schreibe einen Kommentar