– Zu Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ aus dem Band Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe. –
JAKOB VAN HODDIS
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Das Manuskript von Jakob van Hoddis’ „Weltende“
Das berühmteste Gedicht des deutschen Expressionismus ist ein Abschiedsgedicht, es zieht den Hut. Es beraubt den Bürger mutwillig seiner schmückenden Kopfbedeckung und läßt auf einen lustig-lieblosen Schwung auch gleich die Bedachungsspezialisten, beziehungsweise Behütungstechniker mit in die Tiefe segeln – wer wird den Überbau der Bourgeoisie jetzt gegen unliebsame Witterungseinflüsse abdichten?
Der weitere Verlauf der Verabschiedungszeremonie zeigt freilich, daß der symbolische Dachschaden nur der erste Teil eines bürgerlichen Trauerspiels ist. Der zweite Akt, die zweite Strophe bescheren uns mit der Sturmmeldung gleichzeitig den Flutschadenbericht, und was wir eben noch für einen Luftwirbel bloß im Geisterreich des Bewußtseins hielten („In allen Lüften hallt es wie Geschrei“), das entpuppt sich nun als Vorahnung oder, vielleicht, Antizipation eines wahrhaftigen Grundlagenbebens: Die verbündeten Elemente rücken gegen die Schutzwälle des zivilisierten Lebens vor und setzen die öffentlichen Verkehrsmittel außer Betrieb.
Mit anderen Worten: während die erste Strophe voller Zeichen und Wunder ist, wird uns in der zweiten („Der Sturm ist da“) ein Willensträger und eine wirklich handelnde Gewalt vorgestellt, die „wilden Meere“, für die der Sprung an Land nicht viel mehr als ein „Hupfen“ bedeutet. Scheinbar grundlos und dennoch mit der (im Gedicht) erklärten Absicht, „dicke Dämme zu zerdrücken“, entern sie den Kontinent wie einen leicht eroberbaren Sandkasten und behandeln stolzes Menschenwerk als willkommenes Riesenspielzeug.
Daß sich die unfreiwillig einbezogene Menschheit dabei als höchst zerbrechliche Spielsache entpuppt und ihre seelische Betroffenheit nur als eine Form von Verschnupftsein wahrgenommen wird, unterstreicht einmal mehr den geringen gemütlichen Anteil des Poeten an seinen kalkulierten Destruktionen. Zugleich mit dem bürgerlichen Spitzkopf wird dessen abgeblühtes Stimmungsleben demissioniert, und zwar derart, daß das Gedicht wortwörtlich zur Teilnahmslosigkeit erstarrt und uns – statt uns gerührte Tränen abzunötigen – zu ahnungsvollem Hohngemecker verleitet.
Damit könnten wir die Interpretation des kleinen Verswerks durchaus auf sich beruhen lassen, wenn diese „Weltende“ genannte Westentaschenapokalypse nicht noch zu weiteren Exegesen einlüde/eingeladen hätte. Ein Produkt des fulminant fruchtbaren Ausbruchsjahres 1911 und als solches eine Weh- und Weissagung unter anderen, hat man es, rückblickend, immer wieder als ahnungsvolle Vorausschau folgender Menschheitskatastrophen angesprochen.
Interessanter als solche im nachhinein immer leicht zu erteilenden Prophetenweihen bedünkt mich allerdings, daß das Unheil hier ja weniger vorausgesehen als, in effigie, exekutiert wird und daß auch die viel beredete Enthumanisierung oder Depersonalisation nicht eigentlich das Angriffsziel des Gedichtes ausmacht, sondern einen integralen Teil seiner eigenen Daseinsform. Weit entfernt davon, sich mit langem Finger aus der Welt herauszuhalten, die es für kritik- und untergangswürdig hält, nimmt es auf paradox konkrete Weise Anteil an ihrer menschlichen Unterkühlung und deckt die latenten Entfremdungen der gesellschaftlichen Welt am eigenen Leibe auf.
Nicht darin also liegt für mich die Glaubwürdigkeit von Poesie, daß das, was sie anzeigt, ausdrückt, darstellt, schildert oder ausmalt, nun auch tatsächlich stattfindet – sei es das eigene Ableben oder, eben, der Untergang der Welt. Vertrauenswürdig wird sie vielmehr erst dort, wo sie die Spannungen und Zerrüttungen der Welt auf sich selbst bezieht und zu ihren eigenen macht: als poetischen Turgor, sprachliche Gewebespannung.
Peter Rühmkorf, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000
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