Peter Rühmkorf: Zu Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Kniebeuge“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Kniebeuge“ aus Joachim Ringelnatz: Turngedichte. –

 

 

 

 

JOACHIM RINGELNATZ

Kniebeuge

Knie – beugt!
Wir Menschen sind Narren.
Sterbliche Eltern haben uns einst gezeugt.
Sterbliche Wesen werden uns später verscharren.
Schäbige Götter, wer seid ihr? und wo?
Warum lasset ihr uns nicht länger so
Menschlich verharren?
Was ist denn Leben?
Ein ewiges Zusichnehmen und Vonsichgeben. –
Schmach euch, ihr Götter, daß ihr so schlecht uns versorgt,
Daß ihr uns Geist und Würde und schöne Gestalt nur borgt.
Eure Schöpfung ist Plunder,
Das Werk sodomitischer Nachtung.
Ich blicke mit tiefster Verachtung
Auf euch hinunter.
Und redet mir nicht länger von Gnade und Milde!
Hier sitze ich; forme Menschen nach meinem Bilde.
Wehe euch, Göttern, wenn ihr uns drüben erweckt!
Beine streckt!

 

Prometheus und die halbe Portion

Joachim Ringelnatz ist ein deutscher Dichter, den wir unserem geschätzten Publikum nicht erst groß vorstellen müssen, allerdings… Allerdings fragt sich bei der Lektüre seiner Gedichte gelegentlich schon einmal, ob wir bei einem früheren Durchgang nicht gewisse feine Eigentümlichkeiten überlesen, geheime Zwischentöne überhört oder geisterhaft Vorüberhuschendes übersehen haben, kurz, ob wir bei so viel trügerisch geglätteter Oberfläche überhaupt bis zum Grund der Dinge vorgestoßen sind.
Bei seinen besonders populären, weil besonders leicht eingängigen Turngedichten scheint mir der Abstand zwischen oberflächlicher Bekanntschaft und tieferer Verkennung sogar besonders bemerkenswert. Was wir zur Kenntnis nehmen und dann auch gern mit einem Lachen quittieren, ist das Vergnügen des Poeten an bestimmten gymnastischen Verrenkungen, zumal wenn gesteigerte Kraftaufwände den erstrebten lockeren Eindruck verfehlen oder martialische Selbsterprobungsnummern in eine unfreiwillige Komik entgrätschen. Wieweit sich freilich turnerisches und artistisch-dichterisches Höhenstreben manchmal kurios entsprechen und beides zusammen dann „ein Symbol für das Leben“ bildet, läßt sich nur an einzelnen Exerzitien gesondert studieren.
Auch der Sport hat seine eigene Körpersprache, und der poetische Sportreporter steht nicht an, gelegentlich selbst in die Rolle eines Mitturnenden zu springen. Auf das Kommando „Knie beugt“ schrumpft das lyrische Ich im Nu zu der erwünschten närrischen Haltung zusammen, was einen sympathetischen Geist dann schon zu einer ganzen Folge von närrischen Überlegungen verleiten kann. Der Gedankensprung von der Eingangszeile zu dem unmittelbar anschließenden „Wir Menschen sind Narren“ kommt also nicht ganz so abrupt, wie es vielleicht den Anschein hat.
Auch die folgenden Lamentationen über den ewig gleichen Narrengang der Menschheitsgeschichte fügen sich ihrerseits sinnvoll in den öden Wechseltakt einer gymnastischen Nonsensübung. Das entmutigende Auf und Ab von Systole und Diastole, von Zeugung und Vergängnis, von „Zusichnehmen und Vonsichgeben“ legt sich dem Zusammengekauerten sogar derart nachhaltig auf die Brust, daß er sich dem Wiederholungszwang am liebsten verweigern und für ewig und drei Tage in seinem stummen Verhocktsein „verharren“ möchte.
Das Gedicht geht noch einen Schritt weiter. Um einen unansehnlichen Pariapart als menschliche Ausnahmestellung zu verteidigen, leiht es sich das Mundstück eines anderen berühmten Befehlsverweigerers aus, die weithin durch unser humanistisches Bildungsgebäude hallende Stimme des Goetheschen „Prometheus“ („Hier sitze ich; forme Menschen nach meinem Bilde“), was auf den oben skizzierten Narren noch einmal anderthalbe setzt. Der Gegensatz könnte kaum komischer sein. Auf der einen Seite der selbstbewußt die Götter in die Schranken fordernde Titanensproß und Menschenbildner, der den Sterblichen das Feuer brachte und seither als Galionsfigur für unser humanes Fortschrittsstreben zu gelten hat. Auf der anderen die halbe Portion und Simplex Simplicissimus, der nichtsdestoweniger eigensinnig auf seiner Froschperspektive beharrt und dem aufrechten Gang nebst angeschlossenen prometheischen Betriebsamkeiten die Gefolgschaft aufkündigt.
„Das ist ein Symbol für das Leben. / Immer aufwärts, himmelan streben“, so sagte es das Gedicht „Klimmzug“ mit der angemessenen ironischen Biestigkeit. Und in der „Kniebeuge“ folgt die gleiche Lehre noch einmal anders herum und mit etwas versetztem Fragezeichen:

Warum lasset ihr uns nicht länger so
Menschlich verharren?

Aber ernst gemeint ist es doch.

Peter Rühmkorfaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00