– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Heinrich-Heine-Gedenk-Lied“. –
PETER RÜHMKORF
Heinrich-Heine-Gedenk-Lied
Ting – tang – Tellerlein,
durch Schaden wird man schlau;
ich bin der Sohn des Huckebein
und Leda, seiner Frau.
Ich bin der Kohl- und bin der Kolk-,
der Rabe, schwarz wie Priem:
Ich liebe das gemeine Volk
und halte mich fern von ihm.
Hier hat der Himmel keine Freud,
die Freude hat kein Licht,
das Licht ist dreimal durchgeseiht,
eh man’s veröffentlicht.
Was schafft ein einziges Vaterland
nur soviel Dunkelheit?!
Ich hüt mein’ Kopf mit Denkproviant
für noch viel schlimmere Zeit.
Und geb mich, wie ihr alle glaubt,
auf dem Papier –:
als trüg ein aufgeklärtes Haupt
sich leichter hier.
Wenn ich hier ein Gedicht mit Fußnoten und Hinweisen versehe, so weniger, weil ich einem sinndunklen Gewerbe nachgehe, das der Erläuterung und Dechiffrierung in jedem Falle bedarf – eher, um einen Gedicht-Typus ins rechte Licht und in die rechte Lage zu jonglieren, dessen Habitus auf den ersten Blick schlicht genannt, dessen vordergründige Verhaltensform als „muntere Leichtsinnigkeit“ bezeichnet werden könnte. Es ist ein Gedicht aus einer Kategorie von Liedern, der ich den Titel „Volks- und Monomanenlieder“ gab, und ich glaube, daß es gut und fruchtbar ist, auch diesem Etikett einige vorausdeutende Bemerkungen zu gönnen. Hier kommt nämlich etwas mit dem verqueren Anspruch, schlichter Sing-Sang zu sein, geselliges Lied – gleichzeitig aber exklusive Kunstform, an der vornehmlich der differenzierte und zugespitzte Kopf sein Vergnügen findet. Man verstehe: Da wird mit Vorbedacht zween Herren gedient und mit gespaltener Zunge gesungen, da machen Strophen sich die Zwielichtigkeit zum Programm, und besondere seelische Ambivalenzen versuchen, sich in ästhetischen Mischeffekten, Reibetönen und Interferenzen darzutun. Dabei hieß das Problem immer: Wie mache ich Widersprüche dichterisch homogen, ohne die Spannungen zu verschleifen, wie halte ich Heiß und Kalt, wie Affekt und Intellekt in der Waage, wie kreuze ich Reflexion und eingeborene Sangeslust, wie vereinige ich den Trieb zu Trällern und den Zwang zu Denken so, daß beide Tendenzen sich voll entfalten können, und trotz aller Dissoziation schließlich ein organisches Ganzes entsteht.
„Ting-tang-Tellerlein“ – so hob es an mit einer Kinderliedzeile. Diese lustige Klingelei stimmt die Strophe ein, sie determiniert weitgehend Klang und Klima und bedeutet dem Zuhörer, daß er es nicht zuletzt mit einem Klimperlied zu tun habe. Ich sage noch einmal, daß dieser Vers einer Kinderstrophe entnommen worden ist und füge die fällige Erklärung bei, daß eine solche Verwendung sprachlicher Fertigelemente als Montage bezeichnet wird. Wir kennen den technologischen Begriff „Montage“ bereits aus dem Film, auch aus Fotografie und bildender Kunst – immer bezeichnet er, wie jetzt hier in der Literatur, ein Arbeiten mit heterogenem und vorgeformtem Material. Da wird also das Wort einmal nicht als die kleinste vorgeprägte Einheit angesehen, aus dem Satzmoleküle aufgebaut werden können, sondern die bereits vorhandene Wort-Aggregation, mag sie ein literarisches Zitat darstellen, einen Reklameslogan, eine stehende Umgangsformel, ein Stück Gebrauchsanweisung oder was auch immer. Das Verfahren ist insofern sekundärer Natur, als es mit Vorgeformtem und Vorsortiertem umgeht, und es teilt diesen Charakter mit den anderen modernen Methoden „Variation“ und „Verstellung“. Ein Beispiel fürs letztere legt uns gleich die nächste Zeile in den Mund, wo es heißt „Durch Schaden wird man schlau“. Die leichte Veränderung, die sich das gängige Sprüchlein „Durch Schaden wird man klug“ dabei gefallen lassen mußte, diese Partialversetzung, die Sinn und Gehalt um ein Gran abbiegt, sie gerade genügt, um der abgegriffenen Floskel wieder Pfiffigkeit und Griffigkeit zu verleihen. Es wird in diesem Falle also nicht eine Neuformel entworfen, sondern eine bereits vorliegende, eine durch zu vielen Gebrauch entkräftete und verödete Spruchweisheit verstellt und – wieder aufgeladen; sagen wir: in den Stand der Jungfräulichkeit zurückversetzt. Nun ist es sicher, daß der elektrisierende Effekt der Zeile, daß der Reiz des Schrägen und Kecken speziell durch die alliterierende Anordnung von „Schaden“ und „schlau“ gesteigert wird. Aber mehr als die Ästhetik verdient manche transmechanische Frage noch ihre Antwort. So diese nach dem puren Sinngehalt der Zeile. Sie gibt den gedanklichen Auftakt, gut, aber was hat sie mit der Titular-Figur zu schaffen, und wessen Schaden wird da so nahe an welche Schläue gerückt?
Ich möchte erwidern, daß sich in dieser Formel ein Typus definiert, der sich von vornherein daran gewöhnt hat, in dieser Welt den Schaden davonzutragen. Gleichviel ist er nicht der Mann des Haarausraufens und Andiebrustschlagens, und wie er den betont unterbetonten Schaden nicht Leid nennt, und durch Leid nicht zu Weisheit kommen will, entwickelt er, als seine vorzügliche Eigenschaft: Die Schläue. Wendet man es auf Heine an und auf ihn als den Vertriebenen, Umgetriebenen, oft Hungernden, von Staat und Familie Bemißtrauten, schäbig Enterbten, am Ende über Jahre Gelähmten, so nehme man Schläue als seine Fähigkeit, das Bittere auf die leichte Vaganten-Zunge zu nehmen, Niederlagen in Witz aufzuwiegen und den Gram über die gesellschaftliche Misere Possen reißen und Verse summen zu machen.
So weit, so wichtig – tasten wir uns jetzt aber weiter, hübsch der Reihe nach und am Verlaufe des Gedichts entlang. Wo wir jetzt auf die folgenden Zeilen stoßen:
Ich bin der Sohn des Huckebein
und Leda seiner Frau.
Darf ich in Ihrem Sinne die Frage stellen, was hier die Persiflage – oder nennen wir es getrost wieder Verstellung einer mythologischen Figuren-Kopplung – bedeute und ob der scheinbare Nonsens durch einen hinterhältigen Sinn belegt sei. Zuerst einmal möchte ich darauf sagen, ging es mir darum, eine Paarung zwangszuvollziehen, die extreme Polaritäten aufeinanderstoßen läßt. Extreme Polaritäten, weil – weil der Verfasser das Gegeneinander seelischer Energien und denkerischer Tendenzen als vornehmliches Merkmal nicht nur seiner selbst, sondern als Merkmal seiner und seiner Vorgänger Kunstepoche erkannt zu haben glaubt und – weil er die Mehrzahl unserer großen Ambivalenzen bereits und zuerst in Heinrich Heine angelegt sieht. Heinrich Heine, meine Damen und Herren, fühlte alle Antinomien seines Saekels und, darüberhinaus, den tragenden Stich des kommenden Jahrhunderts, in seiner Schizographenbrust. Alles, was seine Zeit an unlegierbaren Antithesen auftischte, alles, was sich zwischen Idealismus und Materialismus, zwischen aristokratischem Lebensgefühl und revolutionärem Sozial-Elan, was sich zwischen Spiritualismus und Sensualismus, zwischen Artistik und Veränderungswillen zu Extremen ausgewachsen hatte, alle Zweischneidigkeiten und Widersprüche einer Umwälzungsepoche wurden hier von einem widersprüchlich organisierten Charakter bewußt gemacht, gestaltet, erlitten, auf seltsame Art genossen und ausgetragen.
Nun will ich keineswegs behaupten, daß die metaphorische Kopulation von „Leda“ und „Huckebein“ all diese Dissoziationen komplett belegt, und doch möchte ich sagen, daß eine Temperamentenmischung von extraordinärer Spannweite ins Bild gebracht wird. Darum ging es, darum, daß ein Bild als Groteskpaarung die grundsätzliche Gespaltenheit in sich beschlösse, ein Bild im übrigen, das das Objekt Heine in einem entscheidenden Zug seines Wesens fixiert: in seiner ständigen Interpolation zwischen Griechentraum und existentiellem Unglücksrabentum.
Die nächste, die zweite Strophe, nimmt nun das Bild des Raben wieder auf:
Ich bin der Kohl-, ich bin der Kolk-
der Rabe, schwarz wie Priem.
Ich liebe das gemeine Volk,
und halte mich fern von ihm.
Also: Der Dichter im Bilde des Vogels. Ein altes Symbol, mit einem ganzen Bündel wesensähnlicher Bedeutungen. Man denkt an ein gefiedertes, ein mit Gesang begabtes Geschöpf, man denkt an die Bezeichnung „lockerer Vogel“ und daran, daß einer einen Sparren, also einen Sperling habe; man denkt an hundert und mehr Gedichte, wo der Poet sich dem Vogel vergleicht oder wo er dem Tierchen seine vorzügliche Beachtung und Hochachtung zuteil werden läßt. Allerdings gibt sich hier einer als schwarzer Vogel, als Rabe, und es stellen sich anläßlich solcher finsteren Erscheinung gemeinhin wenig freundliche Assoziationen ein. Außerdem handelt es sich beim Raben um einen Outcast selbst unter ihm verwandten Arten, Elstern, Dohlen, Krähen, die in Eintracht untereinander, mit ihm nichts zu schaffen haben wollen. Dies Tier ist gemeint, dies Tier, das in unseren Breiten nahezu ausgerottet ist und das auch zum Menschen gute Distanz hält. Sein Gesang, das Lied seiner bösen Hochfahrenheit:
Ich liebe das gemeine Volk und halte mich fern von ihm.
Das ist ein zweischneidiges und doppelsinniges Lied, und ich möchte glauben, daß es die Heine-Formel schlechthin sein könnte. Die Formel dessen, der zwischen dem Kampf für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit und – der Lust an der Individuation recht häufig, und höchst paradox vermittelte. Im übrigen: Ihnen, die es bemerkt haben, sei es jetzt noch kurz bestätigt, daß nämlich der fragliche Satz wiederum die Brechung oder Verstellung einer bekannten Sentenz ist, diesmal des Horazzitates „odi profanum vulgus et arceo“. Ausgetauscht und ersetzt wurde einzig das Wörtchen „odi“, „ich hasse“ durch den Gegenbegriff „ich liebe“ – mir scheint allerdings, daß sich somit die mittelmäßige Holzhammerparole eines quadratschädligen und einschichtigen Individualismus zum bedeutend reizvolleren und recht sublimen Credo einer modernen Gebrochenheit verkehrt hat.
Die folgende Strophe erweitert nun den Themenkreis und zeigt die Empfindungen einer gespaltenen Persönlichkeit in einer Welt, die alle gute Einheitlichkeit und allen schönen Zusammenhang verloren hat.
Hier hat der Himmel keine Freud,
die Freude hat kein Licht,
das Licht ist dreimal durchgeseiht,
eh man’s veröffentlicht.
Drei Leugnungen also, drei Widerrufe, einer dem anderen das Wort in den Mund legend. Ist vom Himmel die Rede, so von dem Spiritualistenjenseits, das am Glück der Welt zehrt; aber auch dies stellt sich nur als rohe und dumpfe Existenz dar, wo der Pöbel seiner lichtlosen Lust an der Materie nachkommt. Licht, das hieße Aufklärung im strikten, hieße Geist im höchsten Sinne, und es ist ein klägliches, ein verschnittenes und nichtsnutziges Licht, das den Bewohnern unaufgeklärter Vaterländer zu Restaurationszeiten vorgesetzt wird.
Sie gestatten, daß ich an dieser Stelle noch auf eine ästhetische Besonderheit hinweise: Da in der vorigen Strophe das Wort „Licht“, hier das Wort „Dunkelheit“ auftaucht, bitte ich, nicht zu übersehen, daß in beiden Fällen nicht in vag-abstrakten Symbolen gesprochen wird, sondern daß besonders beigeordnete Verben die beiden Begriffe konkretisieren und auf Realität beziehen. Das „Licht“ also wird „veröffentlicht“ (oder richtiger: „nicht veröffentlicht“), und die Dunkelheit wird „geschaffen“, also produziert, also mit Fleiß gefördert. Und nicht senkt sich das Dunkle aus einem irrealen Werweißwoher auf die Nation, und keine Dämonen sind’s, die hier an der allgemeinen Finsternis weben, vielmehr erscheint die Dunkelheit durch die metaphorische Verbindung mit dem Schaffensfleiß als eine Art National-Sekret und Mitgift des Sozialprodukts.
Will meinen: daß Dunkelheit in Deutschland nicht zuletzt eine Funktion jener Produktionswütigkeit ist, die sich selbst bereits, und auf Kosten des politischen Verstandes, als Ideologie empfindet. Genug. Genug und fast schon zuviel, um jetzt wieder freundlicheres Terrain, den Boden der Poesie zu betreten. Wo neue Wortkopplungen, ersterzeugte Bilder, weitgespannte und gutgefügte Reime über Wohl und Wehe entscheiden und wo die beste Ansicht nur soviel taugt, als sie zur ästhetischen Sensation geworden ist. Das bedeutet aber nun leider auch, daß ein Gedicht nicht von seinen Hoffnungen auf Veränderung und politische Wirksamkeit leben kann. Wenn wir nämlich fragen, ob ein Poem fähig sei, etwas Außerpoetisches, Gesellschaftliches hervorzurufen, soziale Prozesse anzukurbeln, Revolutionen vorzuwärmen, Bomben später oder langsamer fallen zu machen, so bleibt uns als Antwort nur ein bedauerndes Nie-und-Nimmer. Denn, daß es ausdrückt allein ist sein Wert und seine Grenze, und daß es den für Poesie Empfindlichen anrührt, ist sein Vermögen und sein Basta. Was wiederum nicht, was nun andersherum niemals heißen soll, daß Poesie ohne Wirklichkeit im weiteren, ohne sozialen, ohne politischen Bezug im engeren Sinne auskommen kann. Weil? Weil wir tausend und mehr lyrische Belege zeitgenössischer Zeitflüchter haben, die uns deutlicher als alle windigen Theorien dartun, daß das Gedicht ohne Spannung, ohne Widerstand, ohne Korrelationen zur naturalen und sozialen Wirklichkeit verödet, versteint, verledert. Daß eine Isolation, daß die Quarantäne jenseits der naturalen Wirklichkeit und abseits vom gesellschaftlichen Wohl oder Übel, die Dichtkunst über das Absolute sehr glatt in die absolute Sterilität führte.
Allerdings möchte ich glauben, daß gerade das Gedicht, das über spezifisch politische Gegenstände handelt, weniger von Hoffnungen zehrt als von Enttäuschungen, und daß der Drang, zu missionieren und der Wille, mitzuhebeln unfruchtbare Praemissen sind. Unfruchtbar, da die Wahrheit des Gedichtes letztlich seine eigene Ohnmacht ist, sein papierenes Los, mit wenigen geneigten Lesern zu kommunizieren, nicht aber Partei bilden zu können. Etwas von solchem Desperatismus mag auch in unserer Schlußstrophe walten, wo dem Typus Heine, wo dem romantischen Rationalisten die Formel einer paradoxen, seiner tragikomischen Existenz in den Mund gelegt wird:
Und geb mich, wie ihr alle glaubt,
auf dem Papier,
als trüg ein aufgeklärtes Haupt
sich leichter hier.
Aus Hans Bender (Hrsg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, 1961
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