– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Im Vollbesitz seiner Zweifel“ aus Peter Rühmkorf: Gedichte. Werke Bd. 1. –
PETER RÜHMKORF
Im Vollbesitz seiner Zweifel
Nicht zu predigen, habe ich mich an diesem Holztisch
niedergelassen,
nicht, mir den Hals nach dem Höheren zu verdrehen,
sondern mir schmecken zu lassen dies:
Matjes mit Speckstibbel, Bohnen, Kartoffeln, Einssechzig;
Aal in Gelee, Kartoffelpüree, gemischten Salat, Zweiachtzig;
Kalbszüngerl mit Kraut, Zwomark;
Beefsteak a la Meyer, Erbsenundwurzeln, Zwozwanzig;
Rührei – Blumenkohl, Einemarkdreißigpfennige;
Fliederbeersuppe: Jawoll!
Wenn die Sonne, die Löwin, sich Glut aus der Mähne schüttelt,
und der Inhaber meines Mittagstisches die Markisen herunterläßt,
mache ich’s mir bequem hinter der Zeitschrift für Armeirre:
Ei!
es hat sich wieder allerhand Rühmenswertes angesammelt
in unserer Erzdiözese.
„Mahlzeit“ –
Eine Marienerscheinung mehr oder weniger macht noch keinen Himmel,
aber imganzen gewaltig ist der Elan meines unaufgeklärten Jahrhunderts,
das noch den Kot der assyrischen Großkönige abtastet nach
Kohlenstoff vierzehn,
das
den Herren der Heerscharen preist in der Unsicherheits-Relation,
das
schon mit goldenen Bombern an seinem Untergang webt –
da sollte ich konkurrieren?
drei-mal-vier Zeilen „Norddeutsche-reimlos“?
Oh, ich habe mein Maß und mein Bett und verbleibe
meiner Geranien Poet
und der Sänger meiner Gebrechen!
Der du auch einmal kamst, Bellarmin, dein gewaltiges Herz
Unter Fünftausend zu brocken,
rück Stuhl und Leib zurecht, du findest
dich durch Schwerkraft genügend belegt, du spürst,
wie sich dein Auge machtvoll ins Endliche kehrt:
– Oh Lust am Greifbaren! –
wenn aller Anspruch abfällt, und eines doppeltgebrannten Sommers
Trank dir verheißend zum Munde geht…
Ich sehe:
Ich sehe ein großes Motiv:
Ich sehe dich:
im Vollbesitz deiner Zweifel froh,
eine vergnügte Zunge gegen das Schweinsfleisch gezückt
(die soviel Unsägliches pflügte) –
Aber auch dies ist wohl unter Brüdern
seine Erschütterung wert.
Das poetische Genrestück „Im Vollbesitz seiner Zweifel“ ist erklärtermaßen ein Zeitgedicht: Es spielt zur Mittagszeit. Die lyrische Ich- Person hat bei Eröffnung der Szene ihren Platz auf der Bühne bereits eingenommen, offenbar ihren Stammplatz in einem bürgerlichen Speiselokal, aber wie sie so en passant die Tageskarte studiert, wird ein Leser von heute vermutlich leicht amüsiert die Brauen heben. Nicht daß ihm das Angebot etwa besonders erlesen oder ausgefallen vorkäme, aber die Preise scheinen ihm doch einigermaßen entrückt, um nicht zu sagen, nicht mehr ganz von dieser Welt. Sie sind es auch wirklich nicht, denn das Gedicht ist bereits im Jahre 1958 geschrieben worden, einer sogenannten Wirtschaftswunderzeit, als der Nachkriegswohlstand einen ersten bescheidenen Zenit erklommen hatte. Insofern korrespondieren der angepeilte Sonnenstand und die Höhe der Zeit schon auf einer gewissen allegorischen Vergleichsebene, fragt sich nur, wie wir ohne große Verrenkungen von dem einen Spielboden auf den anderen gelangen. Um vom Guckkastentheater eines Restaurants auf die Zeitbühne des Adenauer-Restauratoriums überzuleiten (so die fünfziger Jahre im Sprachgebrauch ihrer kritischen Beobachter), bedarf es schon noch gewisser dramaturgischer Hilfsmittel, und da sind sie auch schon zur Hand, illustrierte Zeitschriften, wie sie in solchen Lokalen allgemein ausliegen, und unser Gast kann sich zwanglos von einer Gipfelhöhe des Zeitalters zur nächsten emportragen lassen. Allerdings, gewaltige Dinge gehen vor in der Welt, und das nicht erst seit heute, man muß sich nur vorbehaltlos genug auf die Heilsverheißungen von Atomwirtschaft und Atomwissenschaft einlassen. Mit der Kohlenstoff-14-Methode sind der Menschheit ganz neue Datierungsmöglichkeiten für unseren jahrmillionenalten Weltenkalender an die Hand gegeben worden. Die Plancksche Quantentheorie (das sprunghafte Verhalten energiegeladener Elementarteilchen) und die von Heisenberg entdeckte „Unschärferelation“ lassen sich mit der genügenden Spitzfindigkeit sogar als allerneueste Theodizee verkaufen: der als launenhafter Teilchenbeschleuniger neu inthronisierte Weltenlenker. Aber das alles liest sich im Hinblick auf die mit groß Macht und viel List betriebene Atombewaffnung der Bundesrepublik und den bis zur Siedehitze angeheizten „Kalten Krieg“ doch schon einigermaßen vergiftet.
Ja, es geht vorwärts, aufwärts, himmelwärts mit uns, und wo bei dem nötigen Gottvertrauen nur noch goldene Perspektiven auszumachen sind, scheint es dem Dichter poetologisch durchaus folgerichtig, einen Schein von diesem Gold auch auf die modernen Vernichtungswaffen abstrahlen zu lassen. Damit hat sich in unser mittägliches Idyll unversehens ein anderer fataler Zeitanzeiger eingeschlichen, und der Leser hat ein Anrecht, zu erfahren, wie der Dichter als Zeitenrichter darauf antworten wird. Aber ach, aber nein, statt sich alarmiert von seinem Stuhl zu erheben und auf den Tisch des Hauses zu hauen ( sagen wir mal, seine Mitesser mit einem Antiatomsong zu verschrecken), ist er sich der Vergeblichkeit solcher Gesten leider nur allzu bewußt. „Im Vollbesitz seiner Zweifel“ scheint ihm „der Elan seines unaufgeklärten Jahrhunderts“ letzten Endes so zweifelhaft wie das idealistische Vertrauen auf die „Macht des Gesanges“ – mag dran glauben, wer „drei-mal-vier Zeilen ,Norddeutsche-reimlos‘“ noch für eine furchteinflößende Abwehrwaffe hält. Bleibt? Als Lichtblick? Najanun, nicht viel mehr als die Aussicht auf sein „Kalbszüngerl mit Kraut, Zwomark“ und – allerdings – die mit dem gebotenen Zynismus vorgetragene Meinung, sich den Appetit auf das Naheliegende durch keine Macht der Welt verderben zu lassen.
Peter Rühmkorf, aus Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur, Rowohlt Verlag, 2001
Die Selbstinterpretationen schrieb Rühmkorf für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks. Sie wurden gesendet vom 26.–29.10.1999 und für den Druck überarbeitet und erweitert.
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