Peter Rühmkorf: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Wie kommt’s?“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Peter Rühmkorf: Zu Gerhard Rühmkorfs Gedicht „Wie kommt’s?“ aus Peter Rühmkorf: Wenn – aber dann. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Wie kommt’s?

Wie kommt’s? Auf einmal wieder frei die enge Brust,
der Kopf
nicht mehr so zugebolzt.
Daß du vor lauter Lebenslust
nicht weißt, in welchen Farbentopf
du greifen sollst.

Das ist die Welt, wie sie geschrieben steht,
sieh hin und lies!
Nicht daß dir erst im Grab ein Licht aufgeht,
daß wir nicht hoch genug
gehalten haben dies.

Philosophie der Angst?
Ein ziemlich leicht gedroschnes Stroh,
und bei Bedarf kein goldnes Korn zu fassen.
Furcht schärft das Auge nicht,
es denkt nur so
und muß sich von Lemuren narren lassen.

Nur manchmal lichtet sich so eine Art von Loch:
Das Seiende wird der Verborgenheit entrissen,
doch schon bei Zu-Ruf
zeigt es sich unnahbar.
Wir, rein formal, ein bißchen gängiger im Joch,
stehen nicht an, uns bis zum Beinhaus durchzuküssen,
und noch der Baumstumpf
bis zum letzten Blatt bejahbar.

Du fühlst dich morsch? Das teilst du mit dem Zunder.
Verbraucht? Erinner dich, wie du begannst.
Auch sieh dir Rilke an – ein Nervenwunder! –
was du mal so, mal so verstehen kannst.
Was im Gedicht die scharfen Stellen macht,
a l l e s
von einem wunden Punkte aus gedacht.

Dies nur als Schlußwort so für alle Zeiten.
Für aller
Nun, die fetten sind vorbei.
Was ferner sich ergibt in unsern schmalen Breiten
ist das Bewußtsein ewiger Wiederkäu.
Was bleibt? Wer weiß. Vielleicht ein allerletzter Pfiff:
den Saum der Welt noch etwas nachzuschrägen,
wenn ihr so wollt, Wollust mit Wellenschliff:
So kommt die Kunst – auf Zeit – der Ewigkeit entgegen.

 

Selbstinterpretation

Was ist denn das für ein Gedicht – und es fragt sich ja bereits selbst – so kurz vor Feierabend und dann noch so aufgekratzt am Gange?! Es steht übrigens in einem Gedichtband zu lesen, den ich mir zu meinem Siebzigsten unter dem Sammeltitel Wenn – aber dann spendiert habe: eine Art von konditioniertem Appellativ, der sich mit anderen seinesgleichen (Phönix voran! – Komm raus! – oder Bleib erschütterbar und widersteh) in eine ganze Phalanx von Ermunterungssignalen einreiht. Daß es sich um ein Reimgedicht handelt, das auf dem mittlerweile bis an die Grenze des Gehtnichtmehr durchgearbeiteten Gelände immerhin noch mit einigen Novitäten aufzuwarten hat, möchte ich allerdings nur am Rande erwähnen. Interessanter scheint mir da schon, daß es sich offenbar nicht so recht in das Kettenhemd von beengenden Vier- oder Achtzeilerstrophen zu fügen vermochte, sondern den wechselnden Gedankensprüngen seines Verfassers auf einem eher etwas locker gehaltenen Versfuß zu folgen suchte.
Obwohl man es mit einiger Berechtigung ein philosophisches Gedicht nennen könnte, sind seine Vorbehalte gegenüber der Philosophie als ernstzunehmender Erkenntnisquelle kaum zu überhören. Einen Anlaß, sich schöpferisch vor ihr zu schütteln, bietet ihm zumal jene von Martin Heidegger sichtlich angestrengt aufs Katheder gewuchtete „Philosophie der Angst“, die dem vom Tage seiner Geburt an todgeweihten Einzelwesen auch nicht viel besseres als fragwürdige Rutenbündel zu seiner moralischen Aufrüstung an die Hand zu geben weiß. Wohlfeile Bangemacherei vor der Endlichkeit unseres irdischen Daseins – ideologisch eingebräunte Rückverweise auf vorgestrige bis reaktionäre Geborgenheits- und Ordnungsvorstellungen – nicht zu vergessen das Betreiben von Sprachwissenschaft als bloßer Begriffsbeutelei – das alles verwindet sich schon zu einem Fliegenfänger ganz eigener Art, und wer drauf kleben bleibt, sollte nicht überrascht sein, wenn er sich in der Gesellschaft von Lemuren wiederfindet.
Wo die Wesensdeuter zu dichten beginnen – „Das Seiende wird der Verborgenheit entrissen“ – ist ohnehin Vorsicht angesagt. Ich habe das ja alles einmal studiert und schätzenswerten Wissensgewinn dafür fahren lassen (z.B. anatomische oder mineralogische Einführungskurse), was ich heute noch herzlich bedaure. Als mir in mittleren Jugendjahren dann aber doch ein Licht aufging, auf welches terminologisch vernagelte Lehrgebäude ich mich hier eingelassen hatte, habe ich mich schleunigst vergnüglicheren Beschäftigungen und („Wer nicht lieber lebt als schreibt, kann das Dichten auch ganz aufgeben“) der mit Händen zu greifenden Wirklichkeit zugewendet. So das Gedicht „Wie kommt’s“, dem die Ent-Sorgung begrifflicher Schauerlichkeiten sozusagen ein An-liegen war, um vom zwanghaften Kopf-Zerbrechen zu ergiebigeren Anschauungsweisen überzuwechseln.
Daß man auch aus solchen Kehrtwendungen noch dialektische Bezüge zu den Objekten ihres Mißbehagens herauslesen kann, ist mir selbstverständlich klar. Wie ich mir dann auch wieder bis auf den Grund ihres Daseins frustrierte Alumnen der Heideggerschule vorstellen kann, die sich in einer „weltenden Welt“ nicht mehr heimisch fühlen und sich lieber einer anderen zuwenden, in der noch richtige Menschensprache gesprochen wird. Insgeheime Ausschlüpfe oder gleitende Übergänge gibt es nämlich selbst hier noch. Wo die plötzliche Einsicht in bisher verdunkelte Daseinszusammenhänge, unverhoffte Aha-Erlebnisse und die ihnen entsprechenden dezisionischen Schubse ins eigene Kreuz gewissermaßen zum System gehören, könnte vielleicht sogar der von uns seit Jahrzehnten ausgeläutete „Humanistische Hedonismus“ eine ernsthafte Versuchung darstellen. Es sei denn, daß die frohe Botschaft unseres Gedichtes doch nur wieder unter rettungslos geprägte Sprücheklopfer fällt und wir uns statt in neuen Sympathiekreisen auf der Bürgerweide einer jägerzaunumfriedeten „Lichtung des Seins“ wiederfinden.
Also in solchen Zweifelsfällen dann doch lieber wir unter uns. Heißt im Verein mit den anderen uns genossenschaftlich verbundenen Künsten oder im Zwiegespräch mit der immer unterhaltsamen und um extravagante Einfälle nie verlegenen Natur. Daß scheinbar abseitige, aus der Art geschlagene und poetisch angehauchte Varietäten unserer ganz besonderen Aufmerksamkeit gewiß sein dürfen, ist unserer Freak-&-Monster-Show ohnehin auf den ersten Blick zu entnehmen. Was nur beherzt genug seine eigenen Fehlfarben leuchten läßt, auf bereits gefährlich angegriffenen Nervenfäden herumharft oder ungern geduldeten Johannistrieben ihren frechen freien Lauf gönnt, wird in einen selbstverfügten Verschwörerkreis hineingebeten, in dem selbst noch ein unverhofft austreibender Baumstumpf eine eigene Heldenrolle spielen kann.
Dies als Exempel für die Kunst zu lesen, die ihrerseits schon ganz gern als mutmachendes Beispiel für eine allzu leicht entmunterte Mitwelt abgeben möchte: Gerade was uns der wundeste Punkt unseres Erdendaseins scheint, das praktisch nicht zu verscheuchende Bewußtsein seiner leidigen Hinfälligkeit, kann von hier aus sogar als punctum saliens verstanden werden, der uns gegen alle Bedenken mitspringen läßt.

P.S.: siehe auch unter TABU I, S. 540: „Daß ich eigentlich ein Religionsstifter bin, hat sich leider überhaupt noch nicht herumgesprochen.“

Peter Rühmkorf, aus Peter Rühmkorf: Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur, Rowohlt Verlag, 2001
Die Selbstinterpretationen schrieb Rühmkorf für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks. Sie wurden gesendet vom 26.–29.10.1999 und für den Druck überarbeitet und erweitert.

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