SCHON AB VIERZIG
Grauer Gast in vielen Freudenhäusern,
Ehrenjungfern werden merklich knapp,
wie sie dastehn,
so in ihrer Blüte,
e i s e r n;
und du puckelst dich mit deinen Sünden ab.
Wenn dir unterm Hemd die Flechte juckt,
glaub nur nicht, du wärst ein großer Friedrich −
Die Natur zerreißt dich
r e g e l w i d r i g,
Schicksal ist ein Kunstprodukt.
Tragik?
Damit zieht man Kälber groß.
Wer Fortüne haben will, muß stechen.
Schon ab Vierzig wird die Liebe zum Verbrechen
oder aussichtslos.
Liebe hat mit Dichtung auch nichts mehr zu tun:
k e i n e h o h e n h i e r,
keine Selbstgefühle;
trab nachhause, alte Suchtkanüle,
schieß dich voll und laß dich ruhn…
Du – im Kampfe unbesiegt;
Du – nur von der eignen Hand verletzbar −
D o c h d e r l e t z t e D o n n e r
nie mehr übersetzbar:
wenn dein Kopf dir um die Ohren fliegt.
feurige, spaßige, tiefsinnige, verspielte, besinnungslose, verrückte, gelehrte, mutmachende, verräucherte, formtreue, freischwebende, berauschte und berauschende Liebesverse aus fünfundzwanzig Jahren.
Rowohlt Verlag, Klappentext, 1986
oder: „Sieh mich, als sei kein Beil für ihn geschliffen /
die Welt im Spaß vertun, den Himmel inbegriffen.
… dann sag ich dir, du Widersacher:
Ich bin nun mal ein Liedermacher!
Alexander X. Gwerder
Keine Posaune zuhand, keine Verkündigungen,
der Himmel abgespeckt,
wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge
am Fenster leckt.
Peter Rühmkorf, 2008 leider verstorben, gehörte zu den populärsten und wichtigsten Lyrikern im Nachkriegsdeutschland; und gleichermaßen, finde ich, zu den interessantesten Humanisten der Weltgeschichte. Reich Ranicki nannte ihn (bewundernd) einen glänzenden Ironiker, „nie ganz seriös“, dies wohl ebenfalls als Kompliment. Seine lyrischen Vorbildern Brecht und Heine hat er in seinen Gedichten zusammengeführt und verschmolzen – auf ganz eigene Weise natürlich. Und doch trifft es irgendwie zu wenn man sagt, dass seine Poesie so ist, als hätten Heine und Brecht zusammen ein recht aberwitziges Liederbuch verfasst.
Ein Loch zu graben, eine Wand zu kalken,
vom Mais gefressen und ein Glas geleert −
Schwachsinn des Sommers über dem Donnerbalken,
wenn mir der warme Wind ins Schlappohr fährt.
Rühmkorfs wirksamstes Mittel (und quasi sein Markenzeichen) ist die lässige, überraschende, lustige, verblüffende Art wie er zu reimen versteht. Auch wie er fast schon absonderliche, sonst fern liegende Worte und Bilder miteinander verknüpft ist bemerkenswert – dies eine Fähigkeit, die die besten Poeten ausmacht, so Rilke oder den diesjährigen Nobelpreisträger Tranströmer. Doch vertieft Rühmkorf sie im Gegensatz zu diesen nicht und bei ihm geschieht dies Verknüpfen auch nicht mit deren Demut, stattdessen lässt er alles mit einer an Heine erinnernden Eingängigkeit vom Stapel, dass man fast versucht ist, ihn bloß einen Liedermacher zu nennen.
Bin ich der Nachtmann, schwinge den Kris,
wende behende mein Weltbild am Spieß.
Du vergewisserst dich noch deines Glücks −
Ich gebe alles um nichts für die Nix.
Doch man tut diesem Dichter sicherlich Unrecht, wenn man ihm jeden Ernst und vor allem jeden ernsten Inhalt abspräche. Es ist nur so, dass Rühmkorf gerne konterkariert – wenn man also nach ein zwei legeren, eingängigen Strophen schon nichts mehr erwartet, werden plötzlich, ohne das die Form geändert würde, Inhalt und Ton ernst/er.
Gut ist das Lied wieder-den-Strich-
zügelnder Seladone.
Wie schön reflektiert es sich
in kernwaffenfreier Zone!
Wenn Herbst die Blätter refft
geh und vergess ich.
Misch mich ins Windgeschäft
liebe- und luftdurchlässig.
Um noch kurz auf das Thema dieses Bandes einzugehen: Der Begriff „Liebesgedichte“ umfasst in diesem Band vieles, von erotischen Versen, über Gedichte an die Liebste, bis zum Lied über einen alternden Mann in einem Bordell, das meiste gereimt. Richtige Liebesgedichte, die man jemandem vorsagen könnte, sind nicht wirklich dabei; Rühmkorf ist ein Liedermacher – sein Interesse gilt dem möglichst aussagekräftigen Vers, der Pointe und dem Spiel mit Wörtern und Begriffen.
Hocke blöd und Sitting-Bull,
auf zwei stumpfen Schinken.
Lass den Kopf, die schwarze Null
auf die Hemdbrust sinken.
Wer gereimte Poesie vorzieht, kann mit Rühmkorf kaum etwas falsch machen; er ist amüsant, spaßig und vielseitig – und immer für ein Zitat gut, wie ich merken durfte
Und dann bet schön zum Himmelgott, er möge mir Gnade vergönnen.
Ich habe von meinen Sünden nie leben können.
(…) Dieser Themenkomplex: die Wahrheitsfrage, die Wahrnehmung des subjektiven Alterns und die dennoch unerschütterbare Liebe, d.h. das wache Verbundensein des Ich zur Welt, bestimmen auch Peter Rühmkorfs Gedichtband Außer der Liebe nichts. Der Tenor ist hier jedoch ein anderer. Es überwiegen Ich-Aussagen und auch wenn der Autor im Einleitungsgedicht bekennt: „Ich aber nenne diesseits und jenseits der Stirn / außer der Liebe nichts, / was mich hält und mir beikommt“, so sind doch die dunklen Zwischentöne dominanter, der Zweifel, die Skepsis und Nachdenklichkeit.
Von einem gewissen Alter an ist die Wahrheit
doch nur noch widerwärtig.
All der Müll, der sich um deine Gestalt rankt.
Deine Vergangenheit? – Ein Kippencontainer.
Dein Tagebuch? – Ein Grab
Jedoch ist nichts von Resignation zu verspüren, vielmehr werden die dunkleren Töne durch eine sich selbst verteidigende Aggression aufgemischt:
Komm-komm, alter Schmierseifenhansel, ausgerenkte
Bezugsperson,
der Mensch ist kein Klavierhocker!
Schraube im Arsch,
zum Rauf- und Runterdrehen
Genausowenig wie Peter Rühmkorf die Wahrheit bestimmen möchte, genausowenig bestimmt er die Liebe. Er besingt sie in seinen Gedichten in all den ihr möglichen Sprachen und Ausprägungen, die ihr in diesem unserem „kapitalistischen Tollwutbezirk“ möglich sind. In seinen Gedichten paart sich der nackte Nihilismus mit einer unerschütterbaren Achtung vor dem Leben. Wo die Wahrheit aufhört und die Liebe anfängt bzw. „was zusammenwirken muß, um Schicksal zu erzeugen, / weißt du aber nie“.
Marita Kaiser, Deutsche Bücher, Heft 2, 1989
Barbara Dobrick: Nichts außer Liebe
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 28.9.1986
Heinrich Vormweg: Rühmkorfs Liebe
Süddeutsche Zeitung, 25./26.1.1986
Am 27. September 1955 reiste der damals noch 25jährige Peter Rühmkorf von Moskau nach Peking. In seinem Erinnerungsbuch Die Jahre die Ihr kennt liest man dazu diese Eintragung:
Bei Dunkelheit über den Ural und sinnlose Blicke ins schwarze Leere – In Swerdlowsk: Kartoffelchips, langfaseriges Gulasch und rohen gehackten Weißkohl – Überqueren bei Omsk den Irtisch und essen Wurzener Kekse (Wurzen, wichtig, Geburtsort von Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz).
Ringelnatz – Wurzener Nahrungsmittel – Rühmkorf: Schon vor 47 Jahren war da alles beisammen, was dem neuen Ringelnatzpreis die besondere Würze verleiht: zur opulenten Mahlzeit, die die Stadt Cuxhaven und die dazugehörige Sparkasse alle zwei Jahre für Dichterinnen und Dichter anrichten wollen, bescheren nämlich die Wurzener mit dem besonderen Förderpreis noch ein schmackhaftes Dessert – und dafür danke im Namen der Jury auch ich.
Nehmen wir einmal an, dass die Poesie eigentlich nie eine schönere Aufgabe gekannt hat, als deren Abweichung von der Norm zum öffentlichen Ausdruck zu verhelfen, dann bedient sich bei Rühmkorf zweifellos eine Klientel von Einzelgängern, die mit ihm Charakter für Eigensinn hält und das Vorhandensein von vorkragenden Persönlichkeitszacken für beachtlicher als ein angepasstes Strömungsprofil. Abgesehen von so genannten ästhetischen Werten (oder was uns die Literatur so lieb und teuer macht) genießen wir in Rühmkorfs Dichtung auch den Sieg des solitär Handgemachten über den Konfektionsartikel – eine wahrhaft rare Erscheinung auf der mit positiven Helden nicht gerade vollgestellten Bühne der modernen Poesie.
Ist das nicht ein schöner Anfang für eine Laudatio?
Fahren wir also fort:
Was der Verkennung Rühmkorfs lange Zeit ihre breiteste und zugleich auch ödeste Angriffsfläche vorlegte (das mit Virtuosität allein nicht erklärte Vermögen, die großen Welträtsel auch als Kabarettstückchen vorzuführen), ist ja gerade die Kunst in der Kunst und – im Vergleich mit dem Durchhängewesen unserer zeitgenössischen Depressionspoesie – die anspruchsvollere Disziplin mit dem höheren Schwierigkeitsgrad. Das Schwere leicht zu machen, und zwar im Zweifelsfall so leicht, dass es bis in die hinterletzten Parkettreihen trägt, verleiht dem oft gedankenlos benutzten Begriff „Artistik“ einen praktischen Sinn, wie er vor Rühmkorf überhaupt nie ernsthaft erörtert wurde. […] Von den bedeutendsten Systembildnern unserer lyrischen Galaxis ist Rühmkorf mit Sicherheit die labilste Erscheinung, das störungsanfälligste Gleichgewicht, weshalb wir den Artisten auch ständig am Pendeln, am Schlenkern, am Austarieren seines fein abgestimmten Equilibriums sehen. […] Seine Selbsterfindungsequilibristik sucht auf Erden seinesgleichen und entzieht sich wissenschaftlicher Neugier und philologischem Feststellungswahn auf ihre eigene luftdurchlässige Weise. […] Dass der Mann auf dem Hochseil seiner eigenen Nachfolgerschaft auf dem platten Markt dann mit allen Mitteln der Abstandnahme zu entkommen sucht, ist eine ganz andere Frage. Denn wie in kaum einem anderen ästhetischen Genre lassen sich in der Parodie legitime Erbansprüche und sinistres Erbschleichertum nur schwer auseinanderhalten…
Deshalb zum Schluss noch drei Sätze zum brillanten Umgang des Dichters mit der parodierenden Form:
Parodie [ist] im Gegensatz zu der schlechten Meinung von ihr keine Knochenmühle, sondern eher ein wundertätiger Jungbrunnen. […] Sich auf bedeutende literarische Vorbilder einlassen und sich kritisch von ihnen absetzen, sich in mediale Beziehungen begeben und die locker geknüpften Fäden dann wieder preisgeben, sich in scheinbar sakrosankte Erbstücke versenken und sie scheinbar respektlos von innen nach außen wenden, lässt als Verfahren sicherlich mehrere Deutungen zu, nur eben nicht die platte Etikettierung als Naturmethode. Im Gegenteil, womit wir es zu tun bekommen, ist Beziehungszauber von der raffiniertesten Sorte. Was über die flüchtige Varietevorstellung hinaus den bleibenden Effekt macht, ist das an jedem Punkt bewusste Spiel auf mehreren gegeneinander versetzten Schwingböden, eine technische Herausforderung, der nur der äußerste Kunstverstand im Verein mit einer absolut erstklassigen Fingerfertigkeit gewachsen ist.
Wie lange, meine Damen und Herren, wollen Sie sich eigentlich noch von mir foppen lassen? Von einem Laudator, der ein schierer Plagiator ist?
Denn alles, was ich Ihnen da soeben über Rühmkorf vorgetragen habe, stammt nicht von mir, sondern ist wörtlich abgeschrieben und bares Zitat – das alles nämlich hat Peter Rühmkorf über Joachim Ringelnatz gesagt, Sie müssen nur immer den Namen Rühmkorf durch den Namen Ringelnatz ersetzen.
Wenn sich ein so grundsätzliches Urteil gleich über zwei so außergewöhnliche Autoren, Lyriker zumal, so fugenlos fällen lässt, und das Urteil auch noch von einem über den anderen stammt, dann spiegelt sich natürlich der Urteilende im Beurteilten, erkennt sich in ihm selbst und bekennt sich als Bruder im Geiste.
Deshalb konnte unser erster Preisträger im Namen von Joachim Ringelnatz nur Peter Rühmkorf heißen.
Damit erfüllen wir auf gewisse Weise auch einen Wunsch, den Rühmkorf in der dritten Strophe seines Gedichts „Kringel für Ringel“ formuliert hat:
Wo in diesem fluidalen Berufe
ohnehin jeder jeden und jede beerbt
(also alles soweit im Fluß)
wünsche ich mir für die Tage nach Ladenschluß,
nein, keinen Ordensstern, keine Ehrenschleppe,
aber daß ihr vielleicht in die unterste Stufe
der Ringelnatztreppe
meinen Namen einkerbt.
Aber warum so bescheiden, lieber Peter? Grundierte auch diesen Text wieder einmal die Melancholie des aufs Bessere zielenden Schreibers angesichts dieser hundsmiserabel organisierten und aber bestens verkommenden Welt?
Wie einst, am 9. September 1990?
Damals nämlich schrieb Rühmkorf in sein Tagebuch:
Gefühl wiedermal von einem bis auf den Grund verfehlten Schriftstellerleben. Opus magnum ohne die mindeste öffentliche Resonanz; kein einziges Buch bislang in eine Fremdsprache übersetzt und bei Auslandsreisen als sozusagen Meisterbrief oder Diplom vorzuweisen; aufs Ganze gesehen nur 2112 Bücher in Hardcover erschienen und der Rest kleene Bändchen, Hefte. Broschüren, ein gelumbecktes Lebenswerk. – Ach, Theater ja auch noch, und der mehrfach unter mir eingebrochene Bühnenboden.
Dieses Tagebuch TABU I ist eine spannende Wahrnehmungsmaschine des Schriftstellers und Zeitgenossen Rühmkorf und vermittelt Einblicke ins Alltägliche, wozu ja beim Schriftsteller die Schreibarbeit gehört, deren Qual, aber auch deren Freude.
Und so notierte Rühmkorf nur zwei Monate nach den zitierten Selbstzweifeln am 5. November 1990:
Nach Jahren der Selbstskrupel und Auto-Autodafés wieder Gefallen an mir selbst gefunden – in effigie. Das geschwinde Wesen meines Daseins als die andere, positive Seite meiner quälenden Schlaflosigkeiten.
Diese Erkenntnis hängt ganz zweifellos zusammen mit der Lektüre alter Tagebücher. Denn nur zwei Tage zuvor liest man: „Tagebuch-Abschriften: Die Welt zu meinen Gunsten gesehen, natürlich. Oft langanhaltend und berufsmäßig geheult wie ein Coyote, aber manchmal auch richtig hübsche Szenen dabei.“
Was, um einen Schritt weiterzugehen, dann, durchaus dialektisch, jene letzte Selbstbeschreibung begründet, und eben auch zu ihr berechtigt, die der Selbstgefallens-Bekundung auf dem Fuße folgt, nämlich die Notiz:
Rückblickend: recht gehabt haben, ist nicht schwer. Aber immer gewußt, wer man war und was man wirklich wollte.
Wer also ist Peter Rühmkorf?
1972 eröffnete Peter Rühmkorf sein Buch Die Jahre die Ihr kennt so:
Geboren am 25.10.1929 als Sohn der Lehrerin Elisabeth R[ühmkorf] und des reisenden Puppenspielers H. W. (Name ist dem Verfasser bekannt) in Dortmund.
Aufgewachsen in Warstade-Hemmoor […], Land Niedersachsen. Frühe Eindrücke: Tausend Stecknadeln, Ohren Abschneiden, Bremer Gänse Sehen, Knüppelrieden, Schorse Schikorrs Hund und der nicht zu Hilfe eilende Liebegott. Seitdem keine Beziehung zu Vaterfiguren, Götternaturen, Hundekreaturen. Auch nicht vergessen: alle dürfen Kasper spielen, nur nicht ich. Seitdem: Kasper im Kasten gelassen Knüppel aus dem Sack!
Einige Jahre lang Schlafwandler. Ich zünde die Kerze an und schreite gemessen wie das Darmolmännchen durch das ganze Haus. Einmal erwache ich vor brennenden Gardinen. Eine Geburtstagsgesellschaft wirbelt heran und löscht mit Kleidern und Waschwassergüssen. Nachhaltige Eindrücke von großer Festlichkeit.
1934: Lektüre Häschenschule plus Erlebnis Hasenbraten-mit-Grünkohl ergeben Lied Es ging Meister Hase mal durch einen Wald. Gutes Publikumsecho.
Grundmarkierungen einer Biographie: farbige Herkunft, frühe Skepsis gegenüber paternalistischer Autorität, schlafwandlerisch entflammbare Phantasie – und auch verwandelte der 5-Jährige schon einen traditionellen Text der Kinderliteratur in ein eigenes Stückchen, durchaus wirkungsbewusst.
Erste Umrisse einer kritischen und literarischen Existenz, zu deren Formung noch ein paar andere Voraussetzungen gehören.
Zum Beispiel die Vorstellung vom menschlichen Urtrieb zur Kunst, der noch da sich Geltung verschafft, wo die Hausfrau beim Bettenmachen das Kopfkissen knifft oder die Gardinen rafft.
Zum Beispiel die antiautoritären politischen Imprägnierungen, die das naziresistente Mutterhaus verbürgte.
Zum Beispiel der Umgang mit der ursprünglichsten Poesie: mit dem Kindervers, dessen Essenz Kritik und Umwertung sei und, so Rühmkorf aus Erfahrung und Erforschung, eine urliterarische Form gesellschaftlicher Demokratisierung – etwa dieser: „Friedrich der Große macht sich in die Hose, Friedrich der Kleine macht sie wieder reine“ −, denn der Kindervers hole die Großen, Mächtigen, Berühmten vom hohen Podest herunter und zeige sie in verfänglichen Situationen, mache sie gleichsam zu Kindern und lasse sie genau das tun, was man den Kindern vorwirft und verbietet.
Das Gemisch solcher frühen Erfahrungen macht den Stoff, aus dem die besondere Rühmkorfsche Existenz sich geformt hat: als Künstler auch ein Poetologe, als Gelehrter auch ein Poet, als scharfzüngiger Kritiker dennoch ein subtiler Essayist, als Sammler ein Forscher und Herausgeber von Volks- und Kinderversen, als Prosaschreiber ein Erzähler kritischer Märchen, außerdem als Theaterschreiber und Sänger ein Mann der Bühne, und schließlich als Erinnerungsarbeiter ein Biograph und Tagebuchschreiber.
Deren durch autodidaktisches Interesse ausgebildeter und immunisierter Selbständigkeit verdankt sich ein literarisches Werk, das in der deutschen Literatur auffällig sperrig steht: einerseits in der besonderen Verbindung von literarischer und immer wieder aus ihr sich ergebender, sich auf sie beziehender kritischer Produktion; andererseits aber auch in der Selbstverpflichtung auf gesellschaftliche Verbindlichkeit des literarischen Werks. Aber während häufig, zum Beispiel, die Gedichte von poetologischen Erörterungen begleitet wurden, säuerte nie die politische Meinung den ästhetischen Anspruch; doch sah auch die künstlerische Wahrnehmung nie von der existentiellen Erfahrung, von der Wirklichkeit ab.
Der Weg dahin führte über erste Versuche, die sich an wechselnden Vorbildern abarbeiteten, formal, inhaltlich und gedanklich. Rühmkorf imitierte Rilkes Verse und verstand, was er da hingeschrieben hatte, ein paar Wochen später nicht mehr. Literarisch ging er bei den Verfolgten in die Schule, las Alfred Döblin, lernte bei Bertolt Brecht, traf Hans Henny Jahnn, dessen monumentales Werk zugleich verwunderte und erschreckte. Kritische Genauigkeit und Schärfe erfuhr er bei Kurt Hiller. Später wuchs die Begeisterung für die Expressionisten, für Jakob van Hoddis, Alfred Lichtenstein, Else Lasker-Schüler.
Ende 1947 entstanden die ersten Gedichte: ausdrücklich als Gegenproduktion zur traditionellen Lyrik, die ihm in die Hände fiel – sie passten in die Zeit wie die Gedichte Wolfgang Borcherts, mit dem sich Rühmkorf früh – und später als Editor und Biograph – beschäftigt hat, und hatten trotz aller Unzulänglichkeit schon einen eigenen Klang: Zeugnisse des entschiedenen Wunsches, sein „Ich zum Selbstkostenpreis in Kunst aufgehen zu lassen“.
Rühmkorf studierte Kunst und Pädagogik, gründete mit Gleichgesinnten nacheinander eine Studentenbühne, ein Kleinkunsttheater, einen arbeitskreis progressive kunst und ein Kabarett mit Namen Die Pestbeule. Mit dem früh verstorbenen Freund Werner Riegel erfand er den „Finismus“ als „letzten aller Ismen“ und zur Erledigung jeglicher Ideologie.
Sogar ein literaturwissenschaftliches Studium hat Rühmkorf eifrig betrieben, dessen Höhepunkt ein von ihm selbst überliefertes Seminargespräch zwischen dem Studierenden Rühmkorf und dem Germanisten Hans Pyritz über Arnold Hausers berühmte Sozialgeschichte der Kunst und Literatur war, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
PYRITZ: Sie sollen hier keine persönlichen Meinungen vortragen; Sie sollen uns ganz einfach in zwei, drei Sätzen entwickeln, warum diese soziologische Methode ein Herantragen literaturfremder Kriterien an die Literatur bedeutet; ähnlich wie wir es bereits im Fall von Lukács durchexerziert haben; so schwer kann das doch nicht sein.
RÜHMKORF: Aber Sie werden mir doch wohl noch erlauben, die Literatursoziologie zunächst mal als Methode darzustellen, ohne Pro und Contra, einfach von ihrem analytischen Ansatz her.
PYRITZ (der auf die Uhr blickt): Sie sollen in zwei drei Sätzen…
RÜHMKORF: Also gut, um den Zusammenhang von wirtschaftlichem Sein und den höheren Bewußtseinsformen, auch den künstlerischen Darstellungsformen, plausibel darzustellen, wenden wir uns kurz den Produktionsverhältnissen des Paläolithikums…
PYRITZ: Aber was hat das denn mit uns zu tun?
RÜHMKORF: … und der entscheidenden Wende der Wirtschaftsformen in der Jungsteinzeit zu, der sogenannten neolithischen Revolution…
PYRITZ (der seine Bücher zusammenrafft): Tscha, ich habe nun wirklich viel Geduld gezeigt, meine Damen und Herren, außerordentlich viel Geduld, aber für die Steinzeit ist mir meine kostbare Zeit zu schade. Ich schließe hiermit das Seminar.
Und Rühmkorf schloss nach diesem Seminar sein Studium ab, richtete unter dem Pseudonym Leslie Meier in konkret einen Lyrikschlachthof ein und wurde bald zum ebenso berühmten wie gefürchteten Kritiker der lyrischen Zunft, der jungen und der älteren Dichter.
Einer der wenigen älteren Lyriker, die ihm damals einleuchteten, war Gottfried Benn. Obgleich Benn als zeitweiliger Mitläufer der Nationalsozialisten keine empfehlenswerte Adresse war, fand Rühmkorf in Benns Gedichten gleichsam die andere, die komplementäre Seite der eigenen Kunstvorstellung: Kunst nicht als Spiegelung oder kritische Korrektur der Wirklichkeit, sondern als autonome lyrische Form, als Selbstausdruck. Was ihn faszinierte, freilich zugleich abschreckte, war die fast schlagerhafte Wirkung des Bennschen Sounds, der in den fünfziger Jahren eine Generation von Pubertierenden zu Lyrikern machte. Wovon Rühmkorf sich absetzte, indem er, im Stile Benns, sein Lied der Benn-Epigonen schrieb:
Die schönsten Verse der Menschen
− nun finden Sie schon einen Reim! −
sind die Gottfried Bennschen:
Hirn, lernäischer Leim −
Selbst in der Sowjetzone
Rosen, Rinde und Stamm.
Gleite, Epigone,
ins süße Benn-Engramm.
Wenn es einst der Sänger
mit dem Cro-Magnon trieb,
heute ist er Verdränger
mittels Lustprinzip.
Wieder in Schattenreichen
den Moiren unter den Rock;
nicht mehr mit Rattenscheichen
zum völkischen Doppelbock.
Tränen und Flieder – Möwen −
Die Muschel zu, das Tor!
Schwer aus dem Achtersteven
spielt sich die Tiefe vor.
Philosophia per anum,
in die Reseden zum Schluß −:
So gefällt dein Arcanum
Restauratoribus.
Und 1960, in seinem großen Aufsatz über das Lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, nennt Rühmkorf Benn einen wichtigen Lehrmeister der Nachkriegslyriker – die ihn freilich viel zuviel imitiert und viel zuwenig erreicht hätten. Und er zitiert ausdrücklich Benns Satz, wonach das Wort des Lyrikers keine Idee, keinen Gedanken und kein Ideal vertrete, sondern Existenz, Ausdruck, Miene und Hauch an sich sei.
Ein anderer Dichter, den Rühmkorf schon früh favorisierte, hatte damals noch keinen Ort im lyrischen Weltbild der Nachkriegswestdeutschen, der lebte in der DDR und war Kommunist: Bertolt Brecht – Meister der einfachen, zielgenauen Form, die immer von dem inspiriert war, was er ,Wirklichkeit‘ und ,Gesellschaft‘ nannte, auch er ein Autor von Kinderliedern.
Politik und Gesellschaft auf der einen, Poesie und Selbstausdruck auf der anderen Seite – in diesem Spannungsfeld hat sich der Schriftsteller Peter Rühmkorf sein Leben lang bewegt, dieses Spannungsfeld hat, wie er einmal sagte, auch seine unterschiedlichen Interessen dirigiert. Oder, mit anderen Worten: hier der rationale Aufklärer und engagierte Intellektuelle – dort der vitalistische Lyriker und Hymniker; hier der solidarische – dort der einzelgängerische Rühmkorf; aber eben nicht als je nach Stimmung gefärbte ambivalente, sondern als aufeinander bezogene, miteinander korrespondierende Haltungen.
Solch korrespondierendem Vermitteln gilt auch Rühmkorfs lebenslange Beschäftigung mit dem literarischen Erbe. Rühmkorf hat sich durch die literarischen Erbgüter gearbeitet, um darin Nähe und Verwandtschaft aufzuspüren und um sich von den alten Stoffen und Themen herauszufiltern, was ihm noch tauglich schien. Er hat die alten Texte dem kritischen Sondierungsverfahren der Parodie ausgesetzt und so Walther von der Vogelweide, Klopstock, Matthias Claudius, Hölderlin, Eichendorff und andere auf eigene Weise an unsere Zeit weitergereicht: nicht theoretisch, sondern als praktischer Anverwandler und Umwandler, anfangs als Parodist wie ja auch Ringelnatz und schließlich als Meister der literarischen Variation.
Immer hat Rühmkorf, wenn er sich auf alte Texte bezieht, seine, unsere gegenwärtige Welt im Visier, und zwar so, wie sie ist, nicht wie sie im ursprünglichen und längst vergangenen Geiste der alten Lieder noch lebt und von manchen Interpreten – ahnungslos oder willentlich, je nach ideologischer Präferenz – noch immer durch die Vergangenheit definiert wird. Rühmkorf nutzt den weithin bekannten Text als eingängiges Medium, durch das er ein verändertes Bewusstsein von der Welt transparent macht.
Während zum Beispiel Matthias Claudius in seinem „Abendlied“ den Blick seiner Leser aufs Jenseits und damit auf ein Leben nach dem Tode, auf ein Leben in Gott ausrichtet:
Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
aaaaaNicht Eitelkeit uns freun!
Laßt uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
aaaaaWie Kinder fromm und fröhlich sein.
scheut Rühmkorf als Sänger der Variation auf „Abendlied“ dessen in weite Ferne gerücktes Heil und zieht ihm das irdische „Luderbett“ vor.
Herr, laß mich dein Reich scheuen!
Wer salzt mir dort den Maien?
Wer sämt die Freuden an?
Wer rückt mein Luderbette
an vorgewärmte Stätte,
da ich in Frieden scheitern kann?
Der diesseitige Materialismus der Rühmkorfschen Variation folgt dem Geiste seines 1959 erschienenen Gedichtbands Irdisches Vergnügen in g. Dessen Titel variiert Barthold Hinrich Brockes’ zwischen 1721 und 1748 erschienene Dichtungen Irdisches Vergnügen in Gott und vollzieht programmatisch jene Säkularisierung, die den „Gott“ der Dichtungen Brockes’ ins kleine „g“ für ,Gravitationskonstante‘ übersetzte – jene physikalische Konstante, die den „Arsch“ des Dichters, wenn der denn endgültig von seinem Hochseil fällt, nicht gen Himmel schweben, sondern auf „Gäas grüne Schürze“ stürzen lässt, wie es in Rühmkorfs Gedicht heißt.
Die parodierenden oder variierenden Verfahren sind Prozesse der kritischen oder, wie Rühmkorf selbst gern sagt: dialektischen Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe. Sie grundieren Rühmkorfs gesamtes Werk, bis hin zu seinen kritischen Märchen. Es ist der, wenn man so will, wissenschaftlich erarbeitete Subtext, auf dem sein unverwechselbar eigenes großes literarisches Werk gewachsen ist, Ergebnis einer bewusst gelebten und immer risikobereiten künstlerischen Existenz. Von ihr handelt ein Gedicht, das sich Peter Rühmkorf „selbstfindungsequilibristisch“ auf den Leib geschrieben hat:
HOCHSEIL
Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem I n d i v i d u u m
aus nichts als Worten träumend.
Was uns bewegt – warum? wozu? −
den Teppich zu verlassen?
Ein nie erforschtes Who-is-who
im Sturzflug zu erfassen.
Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes / Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.
Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier,
v i e r f ü ß i g – vierzigzehig −
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.
Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.
Das ist ein eingängig tönender, leichtmündig singbarer Text. Doch er steckt voller Vertracktheiten und Spannungen: Ein ungebundenes lyrisches WIR träumt von einem Unteilbaren, einem (noch) unbekannten, unerforschten Individuum, das es mit Worten ergreifen, das es schaffen, ja das es werden möchte. Indem es dies mit handfesten poetischen Mitteln versucht und die Spannungen, von denen es spricht, auf dem Weg vom Vers zur Strophe mit Assonanzen und den unterschiedlichsten Reimen ausbalanciert, verwandelt sich das lyrische WIR tatsächlich in das erträumte Individuum – das aus nichts als aus Wörtern besteht und das wir Gedicht nennen.
Der Dichter kann die Wirklichkeit nicht verändern. Er beharrt dennoch darauf, mit und in seiner Sprache das Abbild, die Metapher zu versuchen, die der Wirklichkeit wenn schon nicht beikommen kann, so aber doch ihren Bewohnern zu einer aus der üblichen Norm gerückten Anschauung helfen möge. Dies ist das Metier, das der Künstler beherrscht: Das Ich spielt auf seinem Seelenleib Klavier, produziert Kunst: „vierfüßig – vierzigzehig“, schafft neue, bildhafte Vorstellungen von der Wirklichkeit. Die Konfrontation von romantischer Anschauung und realistischer Einschätzung, also zwischen der lockenden Loreley oben und dem verseuchten Rhein unten signalisiert eine aus den Fugen geratene Welt, deren Abbild so eben mal noch und wenigstens im Gedicht, in Rhythmus und Reim, ordentlich verfugt wird. Zwar ist er bedroht, als Gattung und als Individuum, als Mensch und Künstler – doch dem Künstler erlaubt dieser Schwebezustand, diese Leichtigkeit des gelungenen Gedichts, der Erdenschwere wenigstens für ein Weilchen zu entkommen. Dies allein ist seine Legitimation: „aus einem Fast an Nichts nochmals was Schwebendes machen“, wie es in Rühmkorfs Gedicht „Nietzsche zur Lehre“ heißt. Es ist seine Kunst und sein Leben.
Die aber sind viel reicher, als ich es hier nur andeuten konnte. Sein Werk ist so vielgestaltig wie die Zahl der Felder, auf denen es gewachsen ist: Kinderspielplatz und Katheder, Kothurn und Kolumne, Marktplatz und Akademie. Dafür ehren wir ihn hier.
Und nun, lieber Peter, erlaube ich mir zum Schluss eine Variation auf Rühmkorf. Und übermittle Dir diese Nachricht:
Du hast im Himmel schon Deinen Platz
(und wären die Balken gebrochen!)
bei Bellmann, Benn und Ringelnatz.
Die flüsterten mir ins Ohr einen Satz
und haben zu mir gesprochen:
Ist sicher, sein Platz!
Dazu und zum ersten wahren Ringelnatz-Preis gratuliere ich Dir herzlich, lieber Lüngi.
Heinz Ludwig Arnold, Laudatio zum Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik der Stadt Cuxhaven 2002, aus: Frank Möbus (Hrsg.): „Alte Liebe“, 2011
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Hans Bötticher-, Joachim Ringelnatz-, Kuttel Daddeldu-, Pinko Meyer-, Fritz Dörry-, Gustav Hester-Samtgemeinde:
P r e i s f r a g e zur heutigen Ringelnatzpreisverleihung:
Die Nacht war kalt und sternenklar,
Da trieb im Meer bei Norderney
Ein Suahelischnurrbarthaar. −
Die nächste Schiffsuhr wies auf drei.
Mir scheint da mancherlei nicht klar,
Man fragt doch, wenn man Logik hat,
Was sucht ein Suahelihaar
Denn nachts um drei am Kattegatt.
Ja, was sucht es da, meine Damen und Herren Küstenanrainer, das müsste sich von Cuxhaven aus doch vergleichsweise leicht beantworten lassen. Und was hat – um den Bedenklichkeitsradius gleich noch ein bisschen zu erweitern – ein im sächsischen Wurzen geborener Dichter eigentlich hier im nördlichsten Niedersachsen zu suchen, so dass er in Ihrer Stadt sogar zu einer literarischen Gallionsfigur hat aufrücken können? Wie ich die Preise so kenne – Heine und Düsseldorf – Büchner und Darmstadt – Arno Schmidt und Celle – Carl Zuckmayer und Mainz – Walter Hasenclever und Aachen – Justinus Kerner und Weinsberg – die Droste und Münster usw. usf., fallen bei vergleichbaren Feierlichkeiten doch Geburtsort und Schaffensstätte meist beziehungsreich uns insofern ,logisch‘ mit dem Ort der Ehrenzuweisung zusammen. Also noch einmal auf den Kopf zu gefragt und an Ihre geographischen Vorkenntnisse appelliert: von der sächsischen Mulde über die EIbe und schließlich noch ganz hoch oben an die brausende See scheint mir doch eine ziemlich verwickelte Schiffsverbindung.
Dass das rhetorische Fragen sind, haben die Wasserratten unter Ihnen natürlich längst spitzgekriegt, von den Leseratten gänzlich zu schweigen. Immerhin hat uns unser Freund in seiner Autobiographie Gustav Hester: Als Mariner im Krieg. Herausgegeben von Joachim Ringelnatz selbst einmal ein rettendes Tauende zugeworfen, und da sehen wir einen entscheidenden Teil seines maritim geprägten Lebenslaufes doch tatsächlich hier oben in Küstennähe verankert. Machen wir es kurz und begnügen uns mit den nötigsten biographischen Angaben. Als gelernter Seemann und diplomierter Bootsmannsmaat hatte Ringelnatz sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs freiwillig an die Front gemeldet – die erstreckte sich etwas zickzackförmig und dem Wellengang der Geschichte folgend in den Küstengewässern zwischen Nord- und Ostsee, mit unterschiedlich ausführlich beschriebenen Aufenthalten in Wilhelmshaven, Kiel, Warnemünde, Memel, Libau und – ja! – Cuxhaven, immer mal wieder Cuxhaven, womit wir denn auch schon vor Ort und mitten im wildesten Schlachtengetümmel wären.
Als wir vom Bahnhof in Cuxhaven einmarschierten, neugierig von den Bürgern betrachtet, rief uns ein Arbeiter zu: „Was wollt ihr hier? Wir haben selbst nichts zu fressen!“ Und auf dem Kasernenhof gab es denn ein deprimierend langes Warten, Abzählen und Namenverlesen, bis wir in die verschiedenen Gebäude und Räume verteilt waren. Am meisten enttäuschte uns aber die Nachricht, daß von Urlaub nach Hamburg nicht die Rede wäre. Ich wurde in der sogenannten Süddeichkaserne, einer uralten Holzbaracke, untergebracht. Der Feldwebel, der uns dorthin führte, sagte: „Lassen Sie sich nicht von den Ratten auffressen.“
Außer zwei Kalfaktern waren wir nur Unteroffiziere in der großen Stube 49, die eisigkalt war. Wir erhielten nur wenig Kohle. Brot war noch nicht da. Alles, war wir über Dienst und Leben dort erfragten oder was uns vorgelesen wurde, klang sehr entmutigend. Niemand durfte die Grenzen der Festung überschreiten. Über alle militärischen Dinge mußte strengstes Stillschweigen bewahrt werden. Pünktlich um neun Uhr abends mußte der feindlichen Flieger wegen jedes Licht peinlichst abgeblendet sein. In den Schlafräumen durfte dann überhaupt kein Licht mehr brennen, da war es also nichts mehr mit Aufbleiben und Tagebuchschreiben.
Betreffs unsrer Bestimmung war nichts Genaues in Erfahrung zu bringen, nur daß wir erst einen Minensuch- und Räumkursus durchmachen sollten.
Cuxhaven war ein hübscher Ort und von Stacheldraht umgeben. Auf unserem malerischen Kasernenhof, wo zwischen baufälligen Gebäuden ein Entengraben lief mit einer zierlichen Brücke, gab es allerhand Interessantes zu betrachten, die Batterien, eine unförmige Strandkanone, Scheinwerfer und sonderbares Minengerät.
Abends hatte ich in einer stockdustren Stadt kleine Abenteuer und saß schließlich in einem Café, vergeblich mich bemühend, vielen Offizieren den Rücken zuzudrehen, die alle sich Poussiermädchen an den Tisch geholt hatten.
Vormittags: Turnen, Instruktionsunterricht, Pistolenschießen und Exerzieren. Dann Antreten zum Appell. Da wurden wir aufs Geratewohl verteilt, die eine Gruppe zur zwanzigsten Halbflottille, die andere, und darunter ich, zur „Fliegenden Hilfs-Minen-Such-Division“. Ich war anfangs niedergeschmettert, weil ich befürchtete, wieder auf ein kleines Boot geschickt zu werden. Erst als man mir bedeutete, der Ausdruck „fliegende“ wollte besagen, daß wir je nach Bedarf bald hierhin, bald dorthin geschickt werden sollten, gab ich mich zufrieden und versteckte mich sogar vor der ärztlichen Untersuchung.
Zugegeben, das war nur ein Lesepröbchen. Und ich habe es auch nur deshalb zum Besten gegeben, weil ich ja selbst einmal eine Art von Autobiographie geschrieben habe – die von Heinz Ludwig Arnold freundlicherweise erwähnten Jahre, die Ihr kennt – was vielleicht noch nicht gerade verwunderlich wäre, wenn sich nicht ein paar weitere heimatkundliche und militärgeschichtliche Berührungslinien daraus ablesen ließen. Genau hier, das heißt in Cuxhaven und um Cuxhaven herum habe auch ich mir – allerdings um einen Weltkrieg versetzt – ein paar frühe vaterländische Verdienste erworben, obwohl nicht gerade freiwillig abgeleistete und auch kaum von einem vergleichbaren Heldenmut beseelte. Aber hören wir auch da vielleicht mal für zwei, drei Minütchen hinein. Sie werden sich wundern, auf welchen literarisch ergiebigen Wurzelgrund wir uns hier eingelassen haben.
Am 1. Juni 1944 abkommandiert zu Stellungsbau an Nordseeküste, Nordholz, Land Wursten. Die Verbrecher erwarteten die nächste Invasion im Raum der Deutschen Bucht und ließen uns vierzehnjährige ,Fronthelfer‘ ein halbes Jahr lang Panzergräben ziehen und Schützenlöcher ausheben. Satte acht Stunden Sklavenarbeit täglich für einen Schlag Glutaminsuppe und einen Kanten Margarinebrot mit Kunstmarmelade. Ließen uns nicht einmal ein Stückchen Feierabend übrig, sondern malträtierten uns mit Exerzierübungen, Waffenkunde, politischer Schulung. War Gottseidank noch gut in Schuß, Fahrschüler seit 1940 mit jeden Tag zwei Kilometern Dauerlauf zum Bahnhof. Als am 6. Juni alliierte Truppen an der Normandieküste landen, waren unsere Hoffnungen, die Befürchtungen der Schweine, für die nächste Zeit dahin. Kannten die Gegend bis zur letzten Latschenkiefer und hatten uns zum Überlaufen bestens präpariert.
Als sich der Bannführer Bargans (euch werden wir nie vergessen, ihr Brüder!) nach unserer Kampfmoral und unserer Einsatzfreude erkundigt, melde ich gehorsamst: keine Lust mehr, total ausgepumpt von all der Schufterei, lieber wieder zur Schule und: in Deutschland dürfe man doch wohl die Wahrheit sagen. Jawoll, man dürfe, und ich speziell noch ein paar Monate über meinen Jahrgang hinaus. Mörderisches Wintermalochen mit Pickel und Hacke zwischen Latschenkiefern. Die Schweine. Die Hunde.
Ab 22. Dezember vierzehn Tage Urlaub und dann wieder ab in die Moränenheide. Inzwischen Ardennenoffensive (inklusive immer noch’n bißchen VI und V2), und die Trottels von Kumpels sind schon wieder feste am Glauben. Ja, wißt Ihr Voll-I-di-oten überhaupt, wie weit die Amis schon sind? Na, da kuckt euch mal spaßeshalber diese „Nachrichten für die Truppe“ an (frisch über Harburg abgeworfen): Hier! Zwanzig Kilometer südwestlich von Bologna. Wie, das sagt nichts? Aber nun: ZEHN Kilometer vor Trier! Marschiere, wild zum Eskapismus entschlossen, auf meinen Kamelhaarpuschen zum „Krankenrevier Nordholz d. Lw. San. Staffel Stade.“ Oberarzt, gez. RM., starrt mit dem Vergaserblick zuerst auf meine außermilitärische Fußbekleidung, dann auf die goldgefaßte Lokomotivlaternenbrille auf der krummen Nase: „Und kommst hier altes Rübenschwein in diesem Aufzug angelatscht?!“ Ich präsentiere ihm wortlos meine Alu-Plattfußeinlagen (die waren an den Rändern schon scharf wie Rasierklingen). ,RM‘ überweist mich angewidert zum Orthopäden Ehlert nach Cuxhaven.
Anfang März 45: sie kehren die Reste zusammen und schleifen uns endgültig sturmreif Bildungserlebnis: „Werden euch jagen, daß euch das Blutwasser im Arsch kocht“ (Bannführer B.) und „Heilig Vaterland in Gefahren / Deine Söhne sich um dich scharen“ (R.A. Schröder) als unverbrüchliche Einheit. Einlagerung in eine Cuxhavener Oberschule gestattet bei Alarm Entweichen in die gut ausgestatteten Chemieräume (Niemals Angst vor Bomben, immer nur vor den eigenen Leuten). Für die speziell stellte ich mir noch einige Sprengcocktails her – im Falle eines Falles…
Dann Abnahme Freiwilligmeldung einfach in Form von Jawoll-Parade. Konnten allerdings noch um die nächste Zwischenstation feilschen: entweder RAD kurz hinter der Front bei Aurich oder ins Wehrertüchtigungslager in die nahe Wingst. Nur Mut! Von der Straße nach Neuhaus runter konnte man den spitzen Kirchturm von Warstade sehen. Da wollte ich hin.
Meine lieben Ringelnatzfreunde und -freundinnen, zwei Zeitalter – zwei Tagebücher – zwei unterschiedliche Wahrnehmungsweisen im Hinblick auf die jeweiligen Kriegsumstände, die bei erster flüchtiger Lektüre vielleicht nicht sehr viele Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Trotzdem wollen wir hier um Himmelswillen keine Gräben aufreißen, schon gar keine Panzer- oder Schützengräben, sondern uns lieber ein paar bemerkenswert verwandtschaftlichen Zügen zuwenden. Ich entdecke sie vornehmlich dort, wo sich das Ringelnatzbuch von Seite zu Seite erfreulicher als ein kakelbunter Biobilderbogen zu erkennen gibt, in dem die subjektiven Seitensprünge seines in jeder Hinsicht aus der Reihe tanzenden Helden weit mehr Raum einnehmen als die sogenannten Militaria.
Das wusste ich, als ich mich Anfang der 70er Jahre an die Abfassung meiner eigenen Memos machte, leider noch nicht, und zwar, weil ich Ringels Buch gar nicht kannte. Die Sache war sogar noch etwas delikater. Um mir den Geschmack an einem meiner Lieblingsdichter und dem Autor des wunderschönen Schiffsjungentagebuchs nicht verderben zu lassen, hatte ich um seine Kriegserinnerungen immer gewisse entsagungsvolle Bögen gezogen. Vollkommen unbegründet, wie ich heute weiß, denn die anfängliche teutonische Kriegsbegeisterung nebst der naiven Erwartung von Mordsdonnerblitzevents verlieren sich im Verlauf der Niederschrift immer deutlicher zu Gunsten einer gänzlich abweichenden Wahrnehmungsweise, und statt in ein martialisches Heldenepos von Mannesmut und hochdramatischen Schlachten geraten wir zunehmend in einen klein und fein gestrickten Schelmenroman, in dem ein uns allen bekannter Ritter von der traurigen Gestalt ihm heimlich über die Schulter gesehen haben bzw. ihm den Bleistiftstummel dirigiert haben muss.
Darüber ließe sich nun viel erzählen. Zum Beispiel, wie sich ein körperlich etwas kurz geratenes, aber physiognomisch um so auffälliger aus dem Rahmen kragendes Individuum zwischen Enttäuschungen, Kränkungen und Herabsetzungen hindurchzumanövrieren versucht und trotz allem noch diesen mit Ressentiments allein noch nicht zu erreichenden Bogen hinkriegt, die eigenen Niederlagen in den höchsten Himmel des Humors zu erheben. Also Don Quijote noch einmal in einer sehr eigentümlichen Doppelrolle als Maler und Modell in einem. Da es darüber allerdings schon viele feinsinnige Untersuchungen gibt, möchte ich Sie hier lieber zum Selberlesen ermuntern und die Überleitung zu unserem nächsten Kapitel einem Selbstporträt von unverkennbar ringelnatzischem Federschmiss überlassen.
DIE KRÄHE
Die Krähe lacht. Die Krähe weiß,
Was hinter Vogelscheuchen steckt
Und daß sie nicht wie Huhn mit Reis
Und Curry schmeckt.
Die Krähe schnupft. Die Krähe bleibt
Nicht gern in einer Nähe.
Dank ihrer Magensäure schreibt
Sie Runen. Jede Krähe.
Sie torkelt scheue Ironie,
Flieht souverän beschaulich.
Und wenn sie mich sieht, zwinkert sie
Mir zu, doch nie vertraulich.
Liebe Freunde unseres kleinen Bordschreibers, Logbuchführers oder Autobiographen, ganz wie Sie wollen – ob Tagebücher oder Lebenserinnerungen bereits so ernst zu nehmen sind wie andere literarische Gattungen, sagen wir einmal das Drama, die Novelle, der Roman oder gar das lyrische Gedicht, ich wage es nicht zu entscheiden. Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen. Dass nämlich die manische Lust am Mitnotieren von bewegenden Augenblicken – ganz egal, ob tragischen, komischen oder gemischten – mit einer gewissen organischen Folgerichtigkeit auch auf die Übrigen literarischen Disziplinen übergreift und nolens volens den gesamten schriftstellerischen Duktus mit in die Flucht nimmt. Was sich in Ringelnatz’ autobiographischen Prosen gewissermaßen noch in vorliterarischem Rahmen bewegt und gelegentlich sogar ein bisschen naiv anmutet – so ein beiläufiges und von keinem erkennbaren Stilwillen geprägtes Nach- und Mit- und Durcheinander – scheint sich im Verlauf seiner weiteren Entwicklung zum lyrischen Selbstdarsteller mit erstaunlicher Konsequenz zur Methode entfaltet und zu einem Personalstil von unvergleichlicher Eigenart geführt zu haben.
Die Herausforderung zur Erweiterung und fortschreitenden Differenzierung seiner lyrischen Ausdrucksmittel kam nicht von ungefähr, als er nach Ende des Krieges die Schiffsplanken notgedrungen gegen die beinah schon in Vergessenheit geratenen Bühnenbretter vertauschen musste, hat gerade dieser Szenenwechsel seinen equilibristischen Höhensinn noch einmal völlig neu stimuliert und den Autor zu wahrhaftigen Mutsprüngen in die Vortragsarena verleitet. Immer bedenken Sie, Kuttel Daddeldu war an diesem kritischen Punkt seiner künstlerischen Karriere überhaupt noch nicht in Sicht. Die Turngedichte noch nicht geschrieben. Die Reisebriefe eines Artisten noch in unerahnter Ferne und die Flugzeuggedanken allenfalls als Erinnerung an den Fliegerhorst Nordholz und sein glücklos abgestürztes Drama Der Flieger in den Tiefen seines Unterbewusstseins gespeichert. Nun wuchsen ihm aus den Brettern, die die Welt bedeuten, beinah von einem Tag auf den andern neue Kräfte zu – ein Antäus der Bühne, wenn man es mal in ein mythologisches Licht rücken will – und wo er sich in seinen Theaterstücken noch in wechselnde Rollen mit verteilten Stimmen aufgespalten hatte, begann er mit nunmehr bereits 37 Jahren die lyrische Solodarbietung als Dialog mit Gott und der Welt und dem Publikum zu entwickeln.
Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen. Mit seinen öffentlich geführten Selbstgesprächen und ihren colloquialen Anrede- oder Zuwendungsformen hat der auch heute noch weitgehend unter Wert gehandelte Ringelnatz einen Beitrag zur modernen experimentellen Poesie geleistet, der seinesgleichen sucht, und der unseren Dichter über alle gängigen Begriffe von ,Kleinkunst‘ hinweg in die Phalanx der ganz großen Neuerer einreiht. Was ich meine, ist eine gewisse ungezwungene Gangart, die weder dem strophisch gegliederten Reimgedicht noch auch den sogenannten Freien Rhythmen zuzuordnen ist, sondern sich auf eigentümlich schlingernde und gelegentlich weit ausholende Weise zwischen den Fronten bewegt. Gewiss, „gereimt“ heißt bei Ringelnatz soviel wie obligatorisch und die bekannten Versformen vom Volkslied bis zum Chanson oder Shanty beherrscht er aus dem Effeff. Aber zwischen den beiden oben erwähnten Spezies scheint er sich denn doch einen eigenen Spielraum erobert zu haben, indem er nach freiem Belieben seine Zeilen tanzen lassen kann, um am Ende absolut schwindelfrei und bühnensicher auf dem richtigen Versfuß zu landen. Wie so etwas aussehen kann, möchte ich Ihnen gern an einem Gedicht demonstrieren, das den Titel Flucht trägt und das mir derart von Wetter, Wind und Wellengang beherrscht scheint, dass unsere akademischen Jamben-, Trochäen- und Daktylenklopfer hier schlichtweg mit ihrem Latein (verzeihen Sie, ihrem Griechisch) am Ende sind.
FLUCHT
Du segelst allein. Es soll niemand dabei sein.
Doch tausende Fischlein begleiten dein Boot ein Stück
Des Weges. Aber du willst ganz frei sein,
Schaust weder nach rechts noch nach links noch zurück.
Nur fort! Nur weiter! Du willst das Vergangene
Vergessen. Fort! Du glaubst an den rechten
Gradaus fliehenden Weg ins Glück.
Hinter dir, hinter Glas und Draht und Eisengeflechten
Blicken dir lange nach: Gefangene.
Du glaubst deiner Richtung. – Mit Hilfe des Windes,
Der Strömung segelst du weiter und reist
Und reist und reist. Und die Sehnsucht des Kindes
Erkennt sich allmählich, altert, vergreist.
Nun und? – Aber die Wellen umspielen
Dein Boot. Es folgen dir Himmel und Licht.
Fremde Ziele passierst du. Von deinen Zielen
Das schönste, das einzige – kommt nicht in Sicht.
Hering in der Nordsee? Papagei
In Aschaffenburg? − − Wer ist ganz frei?
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen. Wo hat es denn vor, nach und neben Ringelnatz überhaupt schon mal so was gegeben, dass ein lyrischer Dichter einfach so loslegt, als kämen ihm seine Eingebungen gerade eben beim Sprechen und als sprudelten ihm seine Weis- und Wahrsprüche ohne großes Überlegen über den Brunnenrand. Trotzdem ist natürlich gerade dieses Gedicht teuflisch gut in Szene gesetzt, scheinbar freizügig aus der Fahrt heraus und dann absolut zielstrebig auf die entsagungsvolle Schlusspointe zu. Bloß, und da berühren wir dann womöglich den interessantesten O-Punkt von Ringels geheimer Auflichtungsdramaturgie. Mit einem derart niederziehenden Resümee (dass das sehnlichst erwünschte Lebensziel nicht in Sicht kommt) darf ein Gedicht bei ihm einfach nicht sein Bewenden finden. Das heißt, dass er der melancholischen Bilanz zum allerletzten Schluss noch einen Aufgesetzten mit auf den Weg geben muss – den von Tucholsky so benannten „risus interruptus“ – der auch unsere bereits in Trübsinn versackenden Gesichter zu einem erlösenden Lacher aufreißt.
In der Hoffnung, dass Ihnen das als nicht zu hoch gegriffen erscheint, möchte ich unseren kleinen Ringel fast in den Rang eines geheimen Religionsstifters oder Evangelisten erheben. Wo er zu spüren meint, dass sich seine Tiefsinnigkeiten bereits der Trübsinnsgrenze nähern, kann er sich einen knalligen Rausreißer einfach nicht verkneifen. Worum es ihm allerletzten Endes geht, ist der artistische Versuch, den in aller Schärfe anvisierten Versagungshorizont wenigstens um ein paar unvermutete Helligkeitsgrade aufzulichten und der immer auf der Lauer liegenden Melancholie ein Schnippchen zu schlagen. Dass das nur im Medium gelingen kann – in der Sprache, in der Poesie oder auch in der Zirkusarena – ist ihm dabei so schmerzlich wie zum andern auch wieder anstachelnd, beflügelnd und seine Überlebenslust herausfordernd bewusst. Seine besondere Zuneigung zu den großen Jonglier- und Equilibristikkünstlern seiner Zeit kommt insofern auch keineswegs von ungefähr. Wo er, selbst einmal in die Rolle des Zuschauers versetzt, einen genialen Bühnenartisten die Fesseln der Schwerkraft abstreifen sieht, ist er als erster bereit, darin ein mutmachendes Beispiel zu erkennen und seine Hände neidlos zum Kollegenapplaus zu rühren.
AN ENRICO RASTELLI
(11. Oktober 1929)
So groß hat sich vor mir noch nie
Im Varieté etwas begeben.
Ich sah zart-tierisches Genie
Vor einem arbeitsstrengen Leben.
Ich danke, ich, ein Publikum.
Wie viele Tausende dir danken.
Du, der den sichren Punkt erkennt im Schwanken,
Du weißt, wenn ich dir danke, wohl, warum.
Meine lieben Freunde und Freundinnen,
Widmungsgedichte, versifizierte Neigungsbekundungen und poetische Zuwendungen, das reicht uns fast schon ein schiffstaudickes Bindeband zu, um auf unseren zweiten Preisträger, Alexander Nitzberg, zu sprechen zu kommen. Nicht allein, weil sich mit den Silben Nitz und Natz so hübsch herumjonglieren lässt. Auch dass unser Freund Nitz im Jahre 1969 in Moskau geboren wurde und zehn Jahre später mit seiner Familie nach Dortmund übersiedelte, wo wiederum ich im Jahre 1929 das Licht der Welt erblickte, scheint mir eher ein zufälliges Nachfolgewunder, das uns nicht zu magischem Beziehungswahn verleiten soll. Wichtiger scheint mir da schon, dass er durch die gleiche Schule der modernen europäischen Lyrik gegangen ist, die auch ich durchlaufen habe – den russischen Futurismus sowohl wie den deutschen Expressionismus – so etwas schafft dann schon eher ein logenbrüderliches Einverständnis, und es verbindet um so mehr, als es sich hier um eine Traditionslinie handelt, die von unseren zeitgenössischen Poeten nicht eben häufig in Anspruch genommen wurde. Da ich über diese wahlverwandtschaftlichen Neigungswinkel schon einmal ausführlich geschrieben habe – und zwar in der ZEIT vom 17.10.1997 – möchte ich mich hier eigentlich nicht gern wiederholen und meinen Preisgesang von vorgestern einfach mal als bekannt voraussetzen. Dass das etwas viel verlangt ist, weiß ich selbst. Andererseits können Sie die freundschaftliche Bewidmung ja jederzeit nachlesen – zum Beispiel in meiner kürzlich erschienenen Dichtungskunde mit dem Titel Schachtelhalme −, was vielleicht sogar eine noch gewagtere Zumutung ist, aber es gibt ja immerhin noch Volks- oder Stadtbüchereien, die wir nie ganz außer Sichtweite verlieren wollen.
Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus. Was ich damit sagen wollte, war nur, dass auch Rezensionen in gewisser Weise als Widmungsadressen zu verstehen sind und feuilletonistische Preislieder bereits in der Nähe von Literaturpreisen anzusiedeln sind. Wenn dann gar das große Transsubstantionswunder einsetzt, dass das Wort sich zu Fleisch verwandelt und preisende Bemerkungen sich wirklich und wahrhaftig zu materiellen Zuwendungen verfestigen, ist die Freude auf Seiten des Anregers natürlich immer besonders groß, denn wer tutet seine Begeisterung schon gern in die Welt hinaus und wartet dann vergebens auf die erhofften angemessenen Reflexe. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang auf eine kleine sprachliche Besonderheit aufmerksam machen. Etymologisch betrachtet hängen die Wörter ,widmen‘ und ,Widmung‘ nämlich mit den mittel- und althochdeutschen Begriffen ,widemen‘ und ,Widamo‘ ( = Aussteuer oder Schenkung) zusammen, was einem dann schon wirklich als reine Magie scheint, weil man glaubt, mit sprachlichen Mitteln etwas sachlich Fassbares herangezaubert zu haben.
Lassen wir es bei dieser kleinen Überleitung bewenden und nur noch ein einziges Sätzchen zu unserem Alexander Nitzberg hinzufügen. Der im Namen Ringelnatzens gestiftete Nachwuchspreis scheint mir in unserem Fall genau die richtige Adresse erreicht zu haben, erstens, weil der von mir aus gesehen immer noch junge Mann selbst ein absolut aus dem Rahmen fallender Sprachzauberer und Rastelli der Reimkunst ist. Und weil man sich mit solchen esoterischen Künsten immer nur in effigie (sprich im Bilde) über die Niederungen der wirtschaftlichen Notdurft erheben kann.
Ich danke insofern zunächst einmal der Lebensmittel- und Keksfabrik Wurzen für die materielle Unterfütterung des Nachwuchspreises an Alex Nitzberg, auf das er weiter wachsen und uns noch mit vielen aufsehenerregenden Boden-Luft-Nummern erfreuen möge.
Ich danke in eigener Sache sehr herzlich dem Oberbürgermeister der Stadt Cuxhaven Helmut Heyne nebst natürlich der Stadtsparkasse und ihren weitgeschnittenen Spendierhosen.
Ich danke ganz besonders auch der Jury, die die alten Sympathiefäden zwischen R. und R. noch einmal so unübersehbar nachgezurrt und mir in der Nachwuchsfrage völlig freie Hand gelassen hat.
Ich danke meinem alten Freund Heinz Ludwig Arnold für sein (mit Ringel zu sprechen) herzerwärmendes „Hymnüs’chen“ und zumal für die absolut unerwartete Surpriseeinlage, mit der hier wohl keiner gerechnet hat, am wenigsten der solchermaßen von ihm Behymnusste.
Ich danke Ihnen, mein sehr verehrtes Publikum, dass Sie meinen nicht unbedingt populistischen Ausführungen mit soviel Geduld und paar Klatschern an den richtigen Stellen zugehört haben, und wenn unser Ringel in Cuxhaven erst gegen Schluss seiner militärischen Karriere so richtig vor Anker gegangen ist – ich spreche von Seeheim, wo er sich mit einem gewaltigen bis monströsen Terrarium so etwas wie eine Heimstatt auf Zeit begründet hatte, dann beherzigen Sie mit ihm diese wirklich ergreifende Lebenswahrheit:
Stich fest in das Humorische!
Heimat? Wir finden alle keine,
Oder – und allerhöchstens – eine
Improvisatorische.
Peter Rühmkorf, Antwortrede bei der Verleihung des Joachim-Ringelnatz-Preises für Lyrik der Stadt Cuxhaven 2002, aus: Frank Möbus (Hrsg.): „Alte Liebe“, 2011
Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!. Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona
Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf
Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit
Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit
Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik
Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik
Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik
Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum
Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern
Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)
Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999
Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005
Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004
Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018
Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019
Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019
Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019
Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019
Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019
Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019
Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019
Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019
Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019
„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.
„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 1/2
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 2/2
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