SYBILLINISCH
Ab mit Bruch, sic transit gloria mundi:
Fortschritt wälzt sich nicht wie Lava fort;
atmet lautlos wie ein Pflanzendarm…
Weimar, sicher, war erlebnisarm;
aber nehmen wir Botswanaland, Burundi,
was ist dort?
Abends, wenn die Sternemänner starten,
und die Glotze sprüht von Himmelsgischt,
hebt sich deiner Augen Doppellauf −
Komm, klapp zu, steck auf!
Aus sehr winzigen verstreuten Eigenarten
ist ein Individuum gemischt.
Wer das mitkriegt, wie du übertourig
ewig haltlos durch die Räume gurkst,
sieht nur gerade die Gestalt zerfließen −−−
Richtig Stil braucht Zeit, sich zu entschließen:
r o t f i g u r i g – s c h w a r z f i g u r i g:
welche Ruh! und kaum ein Strich vermurkst.
Wer du wirklich bist, ist gar noch nicht entdeckt:
etwas zwischen Einzelstern und Rude,
bißchen Kunstgeschmack und bißchen Hundsgeruch;
nicht mal klassisch-klarer Widerspruch.
A b e r m a n c h m a l
i n d e s R e g e n s W a h r g e s p r u d e l
strafft sich – unnachahmlich – dein Subjekt.
Wie viele Belustigungen des Witzes und des Verstandes verdankt ihm das Vaterland, wie wenig hat es ihm seine Arbeit vergolten! Peter Rühmkorf war immer der Muntersten einer unter den deutschen Dichtern: ja manchmal mochte es fast scheinen, als hätten wir es mit einem Bruder Lustig der Poesie zu tun. Doch wirft alles was er schreibt einen melancholischen Schatten, der auch an seiner Person haftet und an seinem Los als Schriftsteller.
Das Theater hat ihm, ungeachtet seiner weit ausholenden Anstrengungen, kein Glück gebracht. Was er in einem kulturellen Milieu, wo dergleichen im Ernst nicht existiert, an Poesiekritik geleistet hat, ist und bleibt erstaunlich; doch sein berühmter Lyrik-Schlachthof ist ohne Nachfolge geblieben. Nach seinen Exkursen in den literarischen Untergrund, über das Volksvermögen, einer Pionierarbeit erster Klasse, hat, soviel ich weiß, die Wissenschaft, die (im Gegensatz zu Rühmkorf) dafür bezahlt wird, kaum gekräht. Und die poetische Produktion, an der er nun seit fünfundzwanzig Jahren mit vollendetem Eigensinn festhält, hat ihm zwar Achtung verschafft, aber nicht viel Liebe.
Verkannt kann man ihn nicht nennen, aber „etwas fehlt“. Nun hat der Kulturbetrieb in unserer Republik ja seine eigene Vorstellung davon, was er an seine dürre Brust drücken möchte, und freilich wechselt diese Vorstellung von Fall zu Fall, von Saison zu Saison, von „Welle“ zu „Welle“; daß sie etwas mit Qualität zu tun hätte, könnte nur ein Träumer glauben. Vielleicht hat Rühmkorf insgesamt zu wenig Tonnen Papier bedrucken lassen; vielleicht ist er sich selbst zu ähnlich geblieben, was als fataler Mangel gilt; vielleicht ist es einfach sein Deutsch, was hier befremdet: es ist nicht plump, nicht dumpf genug.
Alles in allem also kein Grund zur Ausgelassenheit. Sollte es damit zusammenhängen, daß Rühmkorfs Gesammelte Gedichte so schwarz-weiß, ja beinah grämlich aufgemacht, daherkommen? Das kleine Vexierbild auf dem Umschlag, ein zerschnippeltes Porträt des Autors, ist sogar mit einem Trauerrand umgeben. Doch um einen Dünndrucksarg handelt es sich nicht. Knapp hundert Gedichte, alles, was Rühmkorf an Poesie bisher veröffentlicht hat, gehen hier auf 140 Seiten: im Jargon der Rezensenten ist das ein schmales Werk.
Breitbeinig ist dieser Dichter nie dahergekommen; sich auszuwalzen liegt ihm fern. Doch von einem minor poet hat er nichts. Man braucht ihn nur gegen die Kleinmeister der allerneuesten deutschen Lyrik zu halten, die ihre bösgemeinten Idyllen zwischen Kneipen und Fußballplatz, Supermarkt und Badestrand ansiedeln, und man sieht sofort: mit diesen Miniaturen, die halb Schnappschuß und halb Genrebild sind, hat Rühmkorf wenig Ähnlichkeit. Er ist im emphatischen Sinn des Wortes unbescheiden, und es fehlt ihm gänzlich an jener Freiwilligen Selbstkontrolle, die dafür sorgt, daß die Strophe stets auf dem Pingpong-Tisch, die Stimme am Tresen bleibt.
Seine Themen sind groß. Auch wenn er sich darüber ärgern dürfte, behaupte ich, daß er ein metaphysischer Dichter ist. Seine Ironie in allen Ehren: doch wovon er immer spricht, das sind Zeugung und Tod, Freundschaft und Isolation, Vergänglichkeit und Gram. Die allerneuesten Gegenstände unseres Interesses sind das nicht, sondern Brot vom ältesten Brot der Dichtkunst.
Heute allerdings wagt solche Donnerworte (wie die barocken Poeten es nannten) kaum noch einer in den Mund zu nehmen. Doch Rühmkorf ist nicht von heute. Er fing 1953 zu publizieren an. Damals aber waren die alten Themen noch nicht tabu, sie wurden vielmehr nicht ohne Pomp zu Grabe getragen. Ihr Hohepriester hieß Gottfried Benn, und sein Tonfall war es auch, den Rühmkorf damals schamlos und unverblümt aufnahm und, zusammen mit seinem Freund Riegel, ins Extrem des „Finismus“ trieb.
„Die jungen Leute!“ bemerkte der Alte höhnisch, „Gott erhalte ihnen ihren Imitationstrieb, dann hört es bald von selber auf.“ Rühmkorf aber war kein Epigone. Er gab der Metaphysik der fünfziger Jahre eine entschieden materialistische Wendung und demontierte die Restbestände an aufgeblähter Feierlichkeit, den heimlichen idealistischen Speck, der dem schwarz geschminkten Existentialismus jener Jahre anhaftete.
Von Anfang an ein Virtuos und aufs Beste vertraut mit dem Indischen Seiltrick, hat er doch den platten Boden der Tatsachen, und das heißt die Ebene der Alltäglichkeit, nie verlassen. Er hielt sich an ein Element, das heute nur noch in der Schwundstufe des „Pop“ zu überleben scheint; an das plebejische. Formal zeigt sich das an seiner Vorliebe für den Schlager, den Kalauer, das Graffito. Immer wieder tauchen in seinen Kunstliedern und Oden, in seinen Hymnen und Variationen die Spuren eines „Volkstons“ auf, der keinen Feinsinn kennt. Weder vor dem Klo-Verschen noch vor dem Schnaderhüpfl schreckt er zurück, und es gibt kaum ein Gedicht von ihm, darin nicht irgendwo ein Gassenhauer herumgeisterte.
Solche Hormon- und Vitaminstöße tragen zur Lebendigkeit seiner Verse vieles bei, aber es ist klar, daß auch sie aus der Apotheke stammen und Rühmkorfs Manierismus allenfalls zum Scheine brechen. Sie haben, wie alle Drogen, ihren Preis. Manche Gedichte leiden an einer Überdosis davon. Dann entsteht der Eindruck der Kraftmeierei: „Ho-he-hau!“, „Caramba!“, „Attenzione!“, „Tomeihoda!“ Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen.
Auch in die Liebesgedichte Rühmkorfs dringt öfters etwas von dieser artifiziellen Grobschlächtigkeit ein. Wenn er von Frauen spricht, breitet sich ein spezifischer Geruch aus, der mich stört: halb Puff, halb Bratkartoffeln. So frisch viele Rühmkorf-Gedichte jahrzehntelang geblieben sind: hier gibt es trübe Stellen, an denen sich auch ein historisches Veralten ablesen läßt.
Was dagegen durchaus hell bleibt und an diesen Texten funkelt, ist ihr Traditionalismus. Von dieser Substanz, die in der gegenwärtigen deutschen Literatur äußerst rar geworden ist, bringt Rühmkorf mehr auf die Waage als jeder andere deutsche Dichter. (In der Prosa wäre das Werk von Arno Schmidt der einzige Vergleich.) Der Titel eines 1975 erschienenen Bandes, Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, ist keine Unverschämtheit, sondern ein Understatement. Wenn man die Echo-Effekte und die subkutanen Anspielungen in Rühmkorfs Gedichten abklopft, kommt man auf eine nahezu lückenlose Ahnenreihe von Hoffmannswaldau bis Arp, von den Minnesängern bis zu Morgenstern, unter besonderer Berücksichtigung des Unerwarteten und Verdrängten (Brockes, Hamann, Nietzsche).
Der Rückgriff auf die Tradition beschränkt sich durchaus nicht auf das einmontierte Zitat, die verblüffende Replik. Er bestimmt Rühmkorfs Poesie strukturell, ihre Gestik und Komposition, ihr Wahrnehmungsvermögen und ihre Haltung. Manche seiner Kunststücke sind die reine Schlupfwespen-Lyrik: der Autor nistet sich in einen alten Text ein und füllt ihn produktiv aus. Dazu bedarf es einer historischen Empfindlichkeit, von der man geschworen hätte, daß sie längst ausgestorben ist.
Die Konsequenzen einer solchen Haltung sind merkwürdig. Als einer von wenigen schreibt Rühmkorf an dem weiter, was einst Nationalliteratur hieß. Diese Deutschheit, die seinen Arbeiten anhaftet, wirkt nachgerade eigenbrötlerisch und macht sie unübersetzbar. Mit dem Internationalismus der Bundesrepublik, diesem eifrigen Lufthansa-Weltbürgertum, hat er nichts im Sinn; störrisch leugnet er, für seine Person, was doch objektiv auf der Hand liegt, die Integration dieses Landes in den kapitalistischen Weltmarkt, seine Export- und Importabhängigkeit, und die Reflexe dieses Sachverhalts im kulturellen Überbau.
Zum andern nimmt es der Dichter ungerührt in Kauf, daß er mit jedem Tag unverständlicher wird. Schließlich hat er es mit einem Publikum zu tun, das je jünger desto unbefangener ignoriert, was er voraussetzt. Selbst einem rechtschaffenen Germanisten sind doch, wenn er nicht eben über sie promoviert, Oswald von Wolkenstein und Wieland, Klopstock und Claudius längst Hekuba (von Hekuba ganz zu schweigen). Somit kann Rühmkorf sich an den Fingern abzählen, daß seine Poesie von Jahr zu Jahr obsoleter und unzugänglicher wird. Ich glaube aber, daß gerade darin ihre Lebenskraft liegt: in ihrem radikalen, bewußt in Kauf genommenen Anachronismus. Sie gesteht ja nur etwas ein und treibt es auf die Spitze, was dieser Kunstübung überhaupt anhaftet, eine Ungleichzeitigkeit, die durchaus notwendig ist und der sie nicht entkommt.
Rühmkorf besteht darauf. Das ist das Skandalöse an seiner Dichtung. Es ist zugleich ein Politikum ersten Ranges. Allmählich sollte sich herumgesprochen haben, daß sich der politische Gehalt der Poesie nicht an den Meinungen ihrer Autoren ablesen läßt. Natürlich hat Rühmkorf nicht verschwiegen, wie er es mit der Politik hält; seine Publizistik legt davon Zeugnis ab; er hat sich stets auf die Seite der Linken geschlagen und an seinen sozialistischen Positionen keinen Zweifel gelassen.
Auch in seinen Gedichten gibt es zahlreiche manifest politische Wendungen. 1958, als dies nicht das Opportunste im Westen Deutschlands war, „knüllt er sich mit Bedacht / (und dies ist durchaus in der Ordnung) / eine original-Thälmannfaust: / Druschba!“. Das wissen wir auch zu schätzen. Nur, politisch machen solche Zeilen kein Gedicht. Sie sind Spielmaterial, Versatzstücke, bewegt von einem artistischen Kalkül, mit sorgfältigem Hohn so placiert, daß es gerade den Genossen nicht so recht warm ums Herz werden kann.
Was es mit dem „roten Rühmkorf“ auf sich hat, er selber weiß es nur allzu genau, keiner braucht es ihm vor- und nachzurechnen. In vielen seiner Gedichte wird das Problem thematisch, und er ist der erste, es zuzugeben: der Künstler kann die Proletenfaust immer nur ironisch recken, wenn er kein Schwindler ist. Dies wenigstens hat Rühmkorf, als Marxist, den militants der Seminare voraus, daß er sich über sein „gesellschaftliches Sein“, über seine Klassenlage, keine Illusionen macht. Er ist ein Kleinbürger, und zwar nicht aus Mangel an „Bewußtsein“, sondern ganz im Gegenteil, weil er mit Bewußtsein handelt.
Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Denn das Kleinbürgertum ist die einzige kulturell produktive Klasse unserer Gesellschaft. Und zwar kann er sich, als Künstler, nicht einmal zu der avanciertesten Fraktion dieser Klasse zählen, zu einer von jenen Pop- und Pepsi-Cola-Generationen, die in konjunkturbedingter Folge an uns vorbeigaloppieren, immer dem neuesten Trend auf der Spur; sondern seine Arbeit, seine Produktivität verweist ihn notwendig auf ältere, überständige Gesellschaftsformationen und deren historisches Gepäck.
Seine Wahrheit, und es ist eine politische Wahrheit, um die es hier geht, drückt sich gerade darin aus, daß er nicht aus einem Guß ist. Er befindet sich in einem Zustand der ständigen Unruhe, die sich im Duktus seiner Texte überall nachweisen läßt. Auf die politischen Gretchenfragen, die ihm Jürgen Manthey (man fragt sich aus welcher gesicherten Position heraus) gestellt hat, weiß er keine beruhigenden Antworten zu geben. Sein doppelter Widerspruch läßt sich nicht aufheben. Weder kann er sich abfinden mit dem nachbürgerlichen Wegwerf-Bewußtsein, noch kann er sich als Produzent um ein Banner „scharen“, das seit nunmehr sechs Jahrzehnten schon genügend Dichter erschlagen hat. „Gestern Kommunist – morgen Kommunist, / aber doch nicht jetzt, / beim Dichten?!“
Hans Magnus Enzensberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.5.1976
− Peter Rühmkorfs Gesammelte Gedichte. −
Lyrik hat es seit einiger Zeit wieder gut bei uns, solange es gut geht. Wir leben in einer Zeit der Gesammelten Gedichte, die Gesammelten mit oder ohne Anführungszeichen versehen. Bei Peter Rühmkorf sind sie damit versehen. Warum bloß? Gesammelt ist gesammelt. Er tat recht daran, finde ich. Er kann etwas vorzeigen, und er tut es jetzt und wieder, wie früher, als es von ihm die Einzelbände gab und noch nicht diese ironisch gesammelten Gedichte. Er hat Ernst gemacht, indem er diesen Sammelband unter die Leute und seine Leser gehen ließ. Auch hat er Ja gesagt zu gesammelten Gedichten, mit ironischem, also ernsthaftem Vorbehalt. Er hält uns auf seine Weise sein (literarisches) Leben und seine Kunst-Stücke vor, einen Spiegel, wie ein Brennglas. Was man liest, ist kein Abschwung auf dem Hochseil (so heißt eines der neuen Gedichte), schon gar kein Abgesang. Doch dies konnte keiner erwarten, der jemals Peter Rühmkorfs Gedichte las und wieder las und sie mochte, weil sie so rüde und traurig, so alkoholfeucht und schnoddrig, so für sich am Leben waren und es sich dabei gut und intellektuell sein ließen.
Im Sammelband nun erkennt man den alten Rühmkorf noch im vorletzten und jedenfalls im neuesten Gedicht wieder. Nichts hat sich geändert. Er war so von Anfang an, als zählten mehr als zwei Jahrzehnte nichts und der „Finismus“ von einst, den er mit seinem inzwischen verstorbenen Freund Riegel in Hamburg einführte, als hätte man auf ihn (den Finismus) gewartet. Peter Rühmkorf wußte, Gedichte schreibend, von vornherein allzu gut Bescheid. Darum reimte und parodierte er, spottete und schonte fast nichts, und als Leslie Meier schon gar niemanden. Sein Sammelband weist ihn uns noch einmal aus, „gefeit durch Ungläubigkeit“, wie er einmal von Literatur sagte, und das Gedicht als ein Produkt von „Erkenntnis und Entmutigung“ zugleich, sein altes „Vorüberlied und Dennochlied“, eine Widerstandsorgel, die er schön zu drehen weiß, immer noch, zu seinem und unserem (irdischen) Vergnügen.
Die neueren Arbeiten zwischen 1964 und 1975 nehmen keinen bedeutenden Platz ein. Die fünfunddreißig Buchseiten genügen, um uns zu zeigen, daß der Autor noch da ist, und wie er da ist, explosiv oder implosiv, je nach Umständen und noch im Älterwerden.
Das hört sich wie folgt an:
Wolken, denen ich im Fluge nachsinn,
ZEIT,
in die ich mich vertu, vertief −
A b e r A c h t u n g,
dieser Altersschwachsinn
ist noch explosiv.
Die bekannte Reizsituation ist bestehen geblieben:
I c h w i d e r s p r e c h e,
i c h w e t t e r l e u c h t e n o c h!
Das ist gesperrt gedruckt, und man übersieht solche Zeilen im Abtrunk-Gedicht so wenig wie das andere Gesperrte und Nichtgesperrte, das ironisch und rüde Emphatische und das jäh Resignierte, eben jenes Bescheidwissen, wenn schon nicht Genughaben:
Im Nehmen hart – im Geben sparsam:
g e w a l t i g,
wie du dich bezähmen lernst.
Wohin die Fahrt im beinernen Gewahrsam?
Ah, richtig, da ist Dichtung, das ist ernst.
Und anderswo kommt es plötzlich: „Lyrik in meinem Alter noch? Wohl doch’n bißchen unseriös. Zumindest ein Luxus, den man auf längere Sicht gar nicht durchhalten kann.“
Rühmkorf bleibt folgerichtiger, als solche Sätze sich anhören. Und er übt nach wie vor als sein höchsteigenes Kunst-Stück diesc Balance zwischen ironischer Emphase und Sarkasmus:
Das ist doch nicht uninteressant
und auf unterhaltsame Art
sogar lehrreich:
Schwankend
und entschieden allein auf den eigenen Kopf gestellt […]
Tatsächlich waren und sind Peter Rühmkorfs Verse nicht nur jeweils Kunst-Stücke. Es sind Lehrstücke für seine Leser. Man muß sie sich merken, von einem bestimmten Moment an, ob man will oder nicht.
Noch immer gibt es die alten Bestätigungen: hier „strafft“ sich das „Subjekt“, wie es heißt, und es wird sogar klipp und klar (im Gedicht „Sibyllinisch“) verkündet: „Aus sehr winzigen verstreuten Eigenarten / ist ein Individuum gemischt.“ Und zu Rühmkorfs Balanceakten und Zurede-Kunststücken und -Schaustücken zählen Anreden wie diese: „Offen, Ihr, rede ich Blödsinn oder dichte ich schon, / oder lieg ich, unhaltbar, dazwischen?“ Rühmkorf ist selbst sein bester Cicerone durch seine Fähigkeiten, die er einmal auf die Formel gebracht hat: „Gedicht in Parenthese, Parodie: Reinfall des Widerspruchs.“ Nun hat er, schon mit sechsundvierzig Jahren und fast ungeduldig mit sich und mit dem, wie es bei ihm weitergeht oder nicht weitergeht, seine Gesammelten Gedichte in Parenthese bekommen. Ein relativ schmaler, ein scharfer Band Gedichte, immer noch „heiße Lyrik“ wie damals, als er anfing, vor genau zwanzig Jahren, mit Werner Riegel, in der Stadt, in der er blieb: in Hamburg.
Über Wesen und Bedeutung des Parodierens bei Rühmkorf ist längst gesprochen und geschrieben worden. Er schlüpft nicht einfach in andere Personen. Er bleibt sehr bei sich. Er ist in dieser Hinsicht etwas anderes als H.C. Artmann und sein Degenschlucken und lyrisches Voltigieren, sein raffiniertes Vokabel- und Maskenspiel. Rühmkorf ist aus härterem Holz. Er bleibt jederzeit erkennbar, in der Benn- oder in der KIopstock- oder der Heine-Variation. Die „suspekte“ Lyrik Peter Rühmkorfs muß Respekt vor seiner hartnäckigen und ungestümen Individualität hervorrufen, die sozusagen „die Schnauze voll“ hat und – weiterschreibt.
Karl Krolow, Darmstädter Echo, 11.6.1976
− Bemerkungen zur alten und neuen Poeterei des Peter Rühmkorf. −
Gesammelte Gedichte, das gab es früher eigentlich nur ich will nicht gerade sagen postum, aber doch „letzter Hand“. Von Peter Rühmkorf will ich nun hoffen, daß er seine Gedichte statt dessen mit leichter, sagen wir mit der linken Hand gesammelt hat und mit der rechten weiterhin Gedichte und Lieder unter die Leute streut, wie es ihm sein „anhaltendes und anscheinend durch keine Entmutigung zu bremsendes Bedürfnis nach der Versifikation menschlicher Leiden und Leidenschaften“ eingibt. Am liebsten würde ich nun einfach von seinen Gedichten und Liedern sprechen, mit denen man sich ohne lange Vorstellungszeremonien schnell anfreunden kann. Zum Beispiel mit dieser „Hymne“:
Völlig im Einklang mit diesem Satze Hamanns,
daß der purpurne Mantel des Genius
nur den blutigen Buckel ebendesselben verdecke,
(sehr fein beobachtet!)
justiere ich meinen Hintern auf dem Hocker von
Riemerschmidt:
Ja!
in meiner Branche ist Glut und Finsternis durchaus der
Umgang
Zwischen Geburt und Beil halte ich mich
meinem Zeitalter zur Verfügung.
Ein klarer Kopf hat sich auf meinen Schultern konstituiert,
voll süßen Grimms
auf die hierorts gehandelten Sitten:
wie es speckgeknebelten Halses von Freiheit quäkt:
kein Stroh zu gemein, kein Arm unerschwinglich,
und dem man das Licht noch vorkaut, er mietet
den Streifen Abendlandes vor meiner Türe.
Der unter solchen Umständen zu singen anhebt,
was bleibt ihm zu preisen?
was wäre, he-denn, eines erhobenen Kopfes noch wert?
Trainiert und geflügelt
nahet der Gauner im Glück:
eine schöne Gesellschaft möchte sich maßnehmen lassen,
zwischen Hacke und Schnauze: Erhabenheit!
Dahinter den Mond, wenn ihm Tran,
Tran, hell wie Tau, aus zerlassener Locke träuft;
schöneres Bild eines Hochkommens, handkoloriert −
gemach!
gemach, Señiores,
euch laß ich den Tiger tanzen!
Aber nun:
die ihre Schwäche nicht adelt,
halten um Lieder an,
brav unter ihre Dächer geduckt,
wie sie die Peitsche zu unansehnlichen Brüdern gekämmt hat:
Kumpel! mach uns ein Lied!
der du als eins unter andern
hungriges Hündlein bist,
mit den Lüsten der Hündlein
u-hund
dem trauten Wauwau eines allen gemeinsamen Grundgesanges
−
Ihr Jecke, das ist, was einem in Deutschland das Hirn an die
Decke treibt:
rührt euer Klinkerherz andres als Schuß und Schlag,
oder:
wo ich euch aufspiel, legt ihr da mit Axt an?
Deutschland1 – Deutschland2
hier wird mir kein Bruder geworfen;
hier steht die Luft, wie die Torheit stolz auf der Stelle tritt.
Zwar
mit Forsythia führt sich auch diesmal wieder der Lenz ein, mit
Rosenbändern,
aber Träne auf heißen Stein ist des Wackeren Jammer!
Ach, wodenn träfen sich Zweie im stillen Anschaun des Mondes,
gleich
in Erörterung der kernwaffenfreien Zone?
Woooooo,
liebende Freunde und reflektierende,
drängte hoffnungsvoller nach vorn die Verfeinerung?
Daß des Edlen „Avanti“ mächtig aufkläre unter Irdischen,
ihrer Schwalben Geleit, gütlichem Sommer zu −
Oh Ihr Gefährten,
unsichtbare noch, aber im Dunkel schon ausgespart,
aus dem Schlamm des Vaterlandes erhebt euch!
Die Unmuts-Zunge rührt,
froh der Anfechtung und e i n e s Zornes voll.
Daß ein künftig Geschlecht euch anständig spreche.
Größe von eurer Größe zu nennen weiß
und Nein von Eurem Nein.
1 BRD; 2 DDR.
Rühmkorf hat dieses Gedicht aus dem Ende der fünfziger Jahre zweimal nachgedruckt, in den Gesammelten Gedichten von 1976 und vorher schon in dem vermischten Band Die Jahre die Ihr kennt (beide bei Rowohlt). Dort ist es von allerhand biographischen Notizen umgeben, was einen Literarhistoriker von anno dazumal erfreut hätte. Ein Gedicht wie dieses als „dialektischen Gegenschlag“ auf die entfremdete Arbeit eines freien, d.h. schlecht bezahlten Verlagsgutachters und als „Versuch, wenigstens dem Bewußtsein der eigenen Bildungsschicht auf die Beine zu helfen“, aufzufassen: nun ja, wir wollen es zur Kenntnis nehmen als ein Stück Dichtung und Wahrheit, jedoch mit der Skepsis, die gegenüber dieser literarischen Gattung, wie einschlägig bekannt, am Platze ist. Lieber würde ich heute von Peter Rühmkorf wissen, wie er eigentlich die Überlebenschanchen dieses sehr schönen Gedichtes einschätzt, wenn die Bildungsschicht, die noch Hamann, Novalis und Hölderlin kennt und die noch die zarte Ironie eines archaischen Genitivs, eines sublimen epitheton ornans genießt und sich diese Verseslust durch die scharfe Würze einer rüden Kontrastsprache eher verfeinern als verderben läßt – wenn diese Gesellschaftsschicht, sage ich, erst einmal mit curricularer Gewalt ganz auf die alte Matrone Gesellschaft eingeschworen ist und vor lauter Relevanzen gar keine Nuancen des Stils mehr wahrnimmt, auch nicht die geniale Nuance des Wortes Vaterland im Kontext der Fußnoten zu dem Vers „Deutschland1 – Deutschland2“. Gut wohl, daß Rühmkorf das Wort KUNST jetzt in Majuskeln schreiben will, aber verglichen mit dem „süßen Grimm“ der fünfziger Jahre, was für ein Grimm ist dann dieser der siebziger Jahre?
[…] Wackeln Sie nur nicht so
unmutig mit dem Überbau, meine Herrschaften!
Wenn diese Gesellschaft sich k e i n e
G e d i c h t e leisten kann,
d e n A n s p r u c h,
ne Kulturnation zu bleiben, werde
I C H?
a u s e i g e n e r?
T a s c h e?
b e s t r e i t e n? Gar nichts werd ich.
Sagen wir es deutlich: ebenso wie Kagel in der Musik, Botero in der Kunst, braucht Rühmkorf in der Literatur ohne Pardon den vollen und übervollen Horizont der kulturellen Tradition, des NKE, des „nationalen Kulturerbes“ also, wie Rühmkorf diese mit gezielter Koketterie nennt. Er braucht ihn, um dagegen anschreiben zu können.
Rühmkorf braucht in diesem Sinne sogar die Germanistik. Nicht die neue, die lebens- und berufstüchtige Germanistik von heute meine ich, sondern die alte Germanistik der fünfziger Jahre, die Rühmkorf die Altherrengermanistik und Papa-Klopstock-Forschung nennt und an die er einige Jahre seines Lebens verschwendet hat. Rühmkorf auf die Couch gelegt, da käme bestimmt ein ausgewachsener Germanistik-Komplex heraus, mit allen Symptomen einer triebstarken Haßliebe. Denn diese Germanistik ist für unsern Autor ungefähr das, was für Klopstock die strenge Zucht von Schulpforta, ja mehr noch was für Schiller die Militär-Pflanzschule des Herzogs Karl Eugen und für Rilke die Militäranstalt St. Pölten war: ein schreckliches, traumatisches, aber in seiner ungebrochenen Selbstgewißheit zugleich faszinierendes System, aus dem man sich nicht schon dadurch befreit, daß man sich abmeldet oder ausbricht. Das Buch mit dem schönen und, wie ich finde, gar nicht anmaßenden Titel Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich von 1975 (ebenfalls bei Rowohlt) ist ganz aus diesem Antrieb entstanden. Besonders das Walther-Kapitel mit seinen angestrengten Schnodderigkeiten, mit seinen Rempeleien gegen die Walther-Philologen, zugleich aber mit seinen glänzenden, ebenso kraftvollen wie feinfühligen Nachdichtungen und mit einem weiten Herzen für den fernen Kumpanen, den er „des Reiches genialste Schandschnauze“ nennt, ist ein eindrucksvoller Beweis für die Unersetzlichkeit der Wut als Antrieb einer Poesie, die ihre Verse nicht sanft hinblättern, sondern uns auf den Tisch knallen und um die Ohren schlagen will.
In dem anschließenden Klopstock-Kapitel (das ist schon „Neugermanistik“, nicht mehr „Altgermanistik“) läßt die Wut bereits etwas nach. Das Kapitel kann als eine Instrumentierung des von dem bieder-enttäuschten Bodmer überlieferten Satzes gelesen werden: „Klopstock ist nicht heilig“. Gut, das war er auch nicht, sondern er war ein aufstrebender Deklassierter, ein bißchen Bohemien und Verführer, zeitweilig Fabrikant und Privatunternehmer, ein einfallsreicher Verleger schon damals mit der verwegenen Idee eines Autorenverlages, bei alledem ein „empfindsamer Revolutionär“ mit einem gewissen radikal-demokratischen Pathos – und natürlich Poet dazu, leider allzu oft „Verelendungsveredler“, aber so waren eben die Zeiten: – nun, das alles mag ja richtig sein, und vielleicht haben die Germanisten das tatsächlich bisher zu wenig bedacht, aber, lieber Peter Rühmkorf, muß man denn diese neue Wahrheit gleich in einem so triumphalistischen Entlarvungston vortragen? Nichts gegen die Literatursoziologie und ihre legitimen Entdeckerfreuden, aber wenn sich auch hier erst einmal die Epigonen dieser Methode bemächtigen, und das tun sie zur Zeit mit erbittertem Fleiß, dann ist diese Methode genau so unerträglich wie jede andere literaturwissenschaftliche Methode, die nicht mit einer gewissen Diskretion angewandt wird.
Nach Walther und Klopstock kommt der Dritte in diesem literarischen Bunde, Peter Rühmkorf also selbdritt, der gleichzeitig das Ich der Anfälle und Erinnerungen ist, wie der Band Die Jahre die Ihr kennt von 1972 im Untertitel heißt. Ja, wir kennen sie tatsächlich, diese Jahre, in denen sich ein geschlagenes Volk mühsam wieder aufrichtete, eilfertig an alle unverdächtig erscheinenden Traditionen anknüpfte, dabei unversehens auch den Kapitalismus restaurierte und die Uniformen wieder einführte, bis schließlich unabweisbar wurde, dies alles in Frage oder sogar, wie als einer der ersten „der rote Rühmkorf“ hoffte, auf den Kopf zu stellen, was inzwischen auch schon wieder Mythos und Legende ist. Waren das nun gute oder schlechte Zeiten für Lyrik? möchte vielleicht ein argloser Leser erfahren. Rühmkorf will jedoch vorab etwas anderes wissen. Ihn bewegt mehr als alle Probleme des Gedichtemachens die Frage, wie man eigentlich in solchen Jahren, wenn in einem und um einen herum aus Irrtümern Fehler, aus Fehlern Verbrechen und aus Kindereien neue Wahrheiten entstehen, als Schriftsteller seine Identität bewahren kann. Ich kann daher verstehen, daß Rühmkorf das Bedürfnis hat, die Rechnung offenzulegen, wenngleich sie stellenweise etwas ausführlicher ausfällt, als dem geduldigen Interesse des Lesers zugemutet werden kann. Das Fazit heißt jedenfalls in einer Tagebuchnotiz von Anfang 1972 so: „Habe viele Schlachten, aber nie meine Identität verloren. Wußte vermutlich auch nie recht, was das eigentlich ist.“ Nun, ich weiß es auch nicht, aber ich vertraue auf das sympathetische Verstehen eines liebenswürdigen Gedichtes, wenn ich bei Rühmkorf die – an Heine erinnernden – Verse des Gedichtes „Aussicht auf Wandlung“ lese:
Mein Dasein ist nicht unterkellert;
wer schuf das Herze so quer?
Bei halber Laune trällert
der Mund sein Lied vor mir her.
Ach Liebste, könntest du lesen
und kämst einen Versbreit heran,
da sähest du Wanst und Wesen
für immer im Doppelgespann.
Ich halte der Affen zweie
in den knöchernen Käfig gesperrt;
und ich teil die Salami der Treue
mit ihm, der um Liebe plärrt.
O Herz, o Herz, wen verwunderts,
daß du zerspringen mußt?
Der tragende Stich des Jahrhunderts
geht hier durch die holzige Brust.
Hunger und Ruhe vergällt mir
ein scheckiger Wendemahr!
Zu jeder Freude fällt mir
die passende Asche aufs Haar.
Der Abend, der rote Indianer,
raucht still sein Calumet.
Was scherts ihn, ob ein vertaner
Tag in der Pfeife zergeht…
Sei, sei der Nacht willfährig!
Steig in den Hundefluß!
Jetzt kommt eine Wandlung, aus der ich
als derselbe hervorgehen muß.
Rühmkorf, der natürlich über sich selber nicht nur in Versen nachdenkt, bietet uns für die Sache mit der Identität auch eine passende Theorie an. Es ist eine mehr in Frankfurt als in Hamburg beheimatete, sozial psychologische Theorie, die besagt, daß ein Menschenkind nur dann, wenn es in eine „schiefe Klassenlage“, d.h. zwischen die Klassen gerät, ein Bewußtsein seines Ich entwickeln kann, weil es ihm nämlich jetzt auf interessante Weise dreckig geht. Nun will ich hier nicht ein für allemal abschätzen, wofür eine schiefe Klassenlage gut oder schlecht sein kann. Aber wenn ich die Klassiker der politischen Literatur recht gelesen habe, ist diese Klassenlage immer schon erstens für die bequemlichen Eigenheimwonnen der Kleinbürger, zweitens für das Einerseits-Andererseits der immer „schwankenden Intellektuellen“ (Lenin) verantwortlich gemacht worden. Zumal die Letzteren haben sich, sobald sie auch nur in Ansätzen ein gesellschaftliches Bewußtsein entwickelten, eigentlich nie darüber gewundert, daß sie sich eines höchst labilen Gleichgewichtes zwischen den Klassen allenfalls dann erfreuen können, wenn sie mit der gleichen Repulsion von dcr Rechten wie von der Linken abgestoßen werden, wie man beispielsweise bei Sartre nachlesen kann. Daraus kann natürlich, das will ich gerne glauben, auch Literatur entstehen und vielleicht keine schlechte. Aber nicht selten entsteht aus der prekären Klassenlage auch nichts anderes als Opportunismus und Anpassung an die gerade triumphierenden Kräfte, und manchmal entsteht auch beides, wie Rühmkorf ja an den beiden historischen Exemplaren Walther und Klopstock nachzuweisen versucht hat. Dieser Nachweis ist ihm mindestens in dem Sinne gelungen, daß man Rühmkorfs Selbstverständnis („und ich“) besser an seinem Walther- und Klopstock-Portrait ablesen kann als an dem etwas strapaziösen Selbstportrait, das Rühmkorf im Dialog mit Jürgen Manthey von sich gibt.
Also lassen wir das mir den Klassen und verfolgen wir den neuesten Peter Rühmkorf bei seinem Aufstieg zum Trapez oder Hochseil, irgendwo hoch oben unter der Zirkuskuppel, „so links wie nötig und so hoch wie möglich“. In dieser Zirkuswelt ist Rühmkorf in keiner schlechten Gesellschaft; wir kennen nicht wenige, die sich Clowns, Gaukler, Prestidigitateure, Akrobaten und Zauberer nannten und zu den sehr Großen in der notwendig artistischen Kunst des Schreibens gezählt werden. Hals- und Beinbruch also für das kommende Programm, das man sich nach diesem Lebens- und Lyrikweg und nach einigen etwas sibyllinischen Andeutungen des Autors nur als ein höchst aufregendes Deutschland-Programm vorstellen kann:
[…] Das ist doch nicht uninteressant
und auf unterhaltsame Art
sogar lehrreich:
Schwankend
und entschieden allein auf den eigenen Kopf gestellt,
mit vergleichsweise reinen Händen,
aber ohne genügende Hilfsmittel,
können Sie hier
einen Mann
in der Luft seinen Mann stehen sehn!
Was aber ließe sich Rühmlicheres bemerken als
daß das hier eine wirkliche Lücke zu füllen gilt.
Harald Weinrich, Merkur, Heft 30, 1976
Ein begabter Hund, dieser Peter Rühmkorf. Kaum einer macht so perfekte Gedichte wie er, schreibt so geschliffene Essays, findet so ausgeklügelte und treffende Reime, Formulierungen und Konstellationen. Er beherrscht sein Schreibhandwerk, er ist ein Meister seines Fachs, ohne Frage.
Und doch stellen sich nach der vergnüglichen Lektüre zweier neuer Rühmkorf-Bücher – der Gesammelten Gedichte und des „neuen buchs“ mit dem Titel Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich – Zweifel ein. Hält Rühmkorfs Meisterschaft noch unseren gewachsenen Literaturbedürfnissen stand? Reicht die so genial zur Schau gestellte Mühelosigkeit der Erfindung aus, um unsere komplizierte, Tag für Tag sich wandelnde Realität literarisch befriedigend ins Bild zu bringen? Oder, ästhetisch gefragt, läßt sich die Darstellungskunst auf lauter geniale Kunst-Stücke reduzieren?
„Kunst-Stücke“, so nannte Peter Rühmkorf einen seiner frühen, Furore machenden Gedichtbände.
Wer sich die bei Rowohlt erschienene lyrische Chronik zweier Jahrzehnte zu Gemüte führt, kommt bei allem Lesevergnügen rasch zu der Erkenntnis: Rühmkorfs poetische Sternstunde waren die fünfziger Jahre. Als einer der bedeutenden Avantgardisten der Adenauer-Ära zog er ästhetisch gegen die restaurative Naturlyrik und das zum Anpassungsritual erstarrte Benn-Epigonentum sowie politisch gegen den ganzen Wirtschaftswunder-Überbau zu Felde. Mit Fug und Recht kann er, der aus der SPD exkommunizierte SDSler, konkret-Mitbegründer und Ostermarschierer, als einer der Wegbereiter der APO gelten, ästhetisch wie politisch. Die grobschlächtigen Agitproplyriker, die sich 1967 und 1968 zu Wort meldeten, beriefen sich auf Enzensberger wie auf ihn.
Rühmkorf geriet in den Umbruch- und Aufbruchjahren um 1967/68 offenkundig in eine Konzeptionskrise. Der politischen Lyrik der BRD, die seither ohne Frage differenzierter und nuancierter geworden ist, begegnet er – das zeigt der Essay „Kein Apolloprogramm für Lyriker“ im „neuen buch“ – mit Unverständnis und formalistischen Vorurteilen. Er selber hat fast aufgehört, Gedichte zu schreiben und startete statt dessen Exkurse in den literarischen Untergrund, entdeckte unterdrücktes poetisches Volksvermögen, versuchte sich in beinahe allegorisch verklausulierten Dramen und schrieb schließlich, kaum älter als vierzig, unter dem Titel Die Jahre, die Ihr kennt eine vorläufige Lebensbilanz.
Rühmkorfs lyrikmethodischer Ansatz gehört in der Tat in die fünfziger Jahre. Parodistisch entlarvte er die Hohlheit der Wirtschaftswundergläubigkeit; gegen die antikommunistische und antidemokratische Abendländerei plazierte er sich demonstrativ auf verlorenem Posten und propagierte – zusammen mit dem früh verstorbenen Werner Riegel – den „Finismus“, die kokette spät- und bildungsbürgerliche Selbstbespiegelung am Rande der Katastrophe, am Ende der Epoche. Seine gewollte Trivialität war als Schlag gegen die Freiheitsphrasen des Adenauerstaates gedacht, seine vulgäre Diesseitsfreudigkeit als Angriff auf die abgestandenen Ewigkeitswerte, die während des Kalten Krieges noch einmal aufgekocht wurden. In dieser Zeit entstanden die noch immer mitreißenden „Variationen“ auf Klopstock- und Hölderlin-Gedichte, in denen nicht die Klassiker selber, sondern die falschen Ideologeme verhackstückt wurden, die reaktionäre Nachlaßverwalter aus dem deutschen Kulturerbe herausgefiltert haben. Rühmkorf räumte auf seine Weise mit dem Gedankenschutt auf, der den freien Zugang zur Klassik nahezu unmöglich machte. Er, der Spötter, öffnete damit neue Wege zur Klassik.
Wer nach zwanzig Jahren Gedichte wie „Himmel angespeckt“, „Das kleine Ausschweife-Lied“, „Fundefeuer“ oder „Auf ein rohes Herz“ neu liest, diese perfekten Gemeinheiten, die ich als Oberschüler wie eine Offenbarung las und die mich gründlich das Zweifeln lehrten, dem fällt bei aller Bewunderung doch auch der begrenzte Horizont ins Auge. Wo nur kunstvolle Gegen-Gesänge und Anti-Idyllen fabriziert werden, stellt sich weltanschauliche Dürftigkeit ein. Und wo Rühmkorf Partikel westdeutscher Wirklichkeit in seine Kunstgebilde einrückt, entstammen sie samt und sonders dem Konsumptionsbereich. Die Produktionssphäre wird rigoros ausgespart, Parteilichkeit wird strikt abgelehnt:
Nein, ich rede keinen blöden Mist
bin weder so-, noch sorum abzurichten:
Gestern Kommunist – morgen Kommunist,
aber doch nicht jetzt,
beim Dichten?
(…)
Peter Schütt, die horen, Heft 103, 3. Quartal 1976
Rühmkorfs Gedichte sind nun in einer Sammelausgabe erschienen – es ist eine ärgerliche Ausgabe geworden: ein Prachtband, wie er lyrischen Großmeistern (Celan und so) ansteht, wie er aber den prinzipiell kontextuellen Gedichten Rühmkorfs widerspricht. Ein kommerziell erwogener Band, der die Rezeption Rühmkorfs fast notwendig fehlsteuern muß und allenfalls den Bibliotheken dienen mag. Freilich ist er nicht mal vollständig, auch wenn der Titel das suggeriert, ganz zentrale Texte fehlen, vor allem bei den Parodien. Plausibel wäre eine Ausgabe (etwa in der Reihe das neue buch desselben Verlages) gewesen, die Stichworte zum Bezug der Texte, einige Dokumentation, einiges aus den Abhandlungen Rühmkorfs, d.h. Material mitenthalten hätte, das die lyrischen Texte zu plazieren erlaubte. Nun liest man sie als ,Gedichte‘.
Die Sammlung ist in drei zeitliche Gruppen gegliedert: 1953–1959, 1959–1962, 1964–1975. Die Jahre um 1960 waren offensichtlich die fruchtbarsten, aus dieser Periode stammen die bekannten, in viele Anthologien eingegangenen Variationen (auf Klopstock, Hölderlin, Claudius u.a.) und frechgebildeten Lieder, die Rühmkorfs Ton bestimmen. Danach kommt nicht mehr zu viel, bestürzender Eindruck (für einen 40jährigen Rezensenten): Altersgedichte eines Vierzigjährigen:
keine Selbstgefühle
trab nachhause, alte Suchtkanüle,
schieß dich voll und laß dich ruhn
(„Schon ab Vierzig“).
Im „Hochseil“-Gedicht, dessen Ironie das mitgefühlte Pathos kaum verdeckt, wird Heines Ansatz probiert und benannt, durch Übertreibung der Tradition sich eine Sangesweise zu erschließen:
Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.
Das Kokettieren mit dem Tod will kaum einleuchten, und nimmt man’s metaphorisch (das Ausgesetztsein des Dichters à la Rilke, Weinheber, etc.), wird’s eher abgeschmackt.
Der Eindruck beim Lesen der gesammelten Gedichte, die nun abgetrennt vom Kontext bestehen müssen, ist der einer eigentümlichen Armut. Das, was man am wenigsten erwartet hätte. Rühmkorf beginnt mit kessen Ausfällen gegen die lyrische Tradition, die mit seinen theoretischen Auslassungen Hand in Hand gehen. Er schreibt in vielen Blättern, unter vielen Namen (mindestens sieben), und entwickelt vor allem die Technik des Gegengesanges, der Variation: eine gebildete Negation, die die Tradition beschwört, um ihr abzusagen.
Die Schotten auf, Bewußtseinsboom,
– ja ganz schpätes Haus –
und hebst den Kopf voll Alterthum
und schlappst die Himmelsschüssel aus.
(„Sentimentalisch I“)
Das nimmt Benn auf und ironisiert ihn zugleich – doch wird im Grunde das Spätlingspathos eines Benn eher artistisch überspielt denn aufgehoben. Wovon immer sich Rühmkorf verabschiedet, es ist ein Abschied mit großer Gebärde und prinzipiell zweideutig. Rühmkorf ließe sich als Opfer einer literarischen Übersozialisation beschreiben: die lyrische Vergangenheit ist ihm in alle Poren gedrungen, er schwitzt nichts anderes aus. Formale Neuerungen sitzen nur in trickreichen Verschiebungen der Konvention. So kommt man (zu) schnell in sein eigenes Alter. Das hängt vielleicht mit dem traditionellen Dichterverständnis zusammen, an das sich Rühmkorf, eher hilflos und stets verschleiert, anschließt: der Dichter als Seher, als das progressive Bewußtsein, das seiner Zeit notwendig voraus ist, was dann geistreiche Schmäh erlaubt. (Enzensberger nahm, u.a. in „Landessprache“, diesen Ton auf.)
Eine prinzipielle Kritik, zu der diese Sammlung verleitet, hat stets etwas Ungerechtes (vor allem als Kurzrezension). Verstärkt zudem, weil Rühmkorf sie selber am unerbittlichsten sich vorträgt. „Langsam schließen sich die Wunden der Jugend, und nichts will an ihre Stelle treten.“ Damit geht er auf den kritisch-polemischen Grundzug seiner Lyrik ein und zeigt seine Sensibilität sozial fundiert: unsere Zeiten erlauben kaum die volle Kehl und frische Brust der Vergangenheit! – Auf die von Rühmkorf vielseitig und geistreich ausgebildete Technik der Variation wurde schon hingewiesen; Th. Verweyen hat ihr eine sehr gescheite Monografie gewidmet (Th. V., Theorie der Parodie. Am Beispiel Peter Rühmkorfs. München: Fink 1973.) Seine formal dann traditionellen Strophen sind zum Bersten voll mit originellen Einfällen und Bildern, sprechenden Verschiebungen und Anspielungen. Rühmkorfs Offenheit ist entwaffnend: die Problematik der Lyrik heute stellt er zugleich als die des Individuums dar und umgekehrt. Die Frage nach der Identität der Erfahrungen und Erlebnisse erlaubt keinen ungebrochenen Ton; denn die Antwort kann nicht positiv sein und setzt die daraus sich nährende Poesie in ein Recht, das man ihr aus humanem Engagement streitig machen muß: „Dieser Tag war auch nur wieder einer wie –“ („Kiez“). Es gehört zur Bedeutung Rühmkorfs, diese Erkenntnis in seine Gedichte eingetragen zu haben.
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 2, 1977
Geboren am 25. Oktober 1929 als Sohn der Lehrerin Elisabeth R. und des reisenden Puppenspielers H. W. (Name ist dem Verfasser bekannt) in Dortmund. Die Stadt soll ruhig mal was springen lassen.
Mit diesen Worten hatte Peter Rühmkorf 1972 sein autobiographisches Buch Die Jahre die ihr kennt begonnen. Doch die Stadt Dortmund hat den Wink mit dem Zaunpfahl geflissentlich übersehen und ihrem ungebärdigen Sohn ihren Nelly Sachs-Preis bis heute vorenthalten. Und auch andere Jurys haben bislang gezögert, diesen Poeten auszuzeichnen, dem es offenbar an gravitätischer Feierlichkeit gebricht, diesen Nachfahren Heinrich Heines, den man gern als windigen Bruder Lustig missversteht und der sich scheut, mit einem imaginären Lorbeerkranz auf dem Haupte einherzuwandeln. Für Lorbeer hat er einen ganz anderen Verwendungszweck, wie er in seinem Gedicht „Anti-Ikarus“ zu Protokoll gibt:
Auf dem Prometheus-Gasbrenner koche ich meine Zamek-Suppe. Ich habe die Flamme nicht erfunden. Ich werde die Glut nicht erläutern… Nun noch den Pfeffer und Lorbeer, frisch von der Stirn gepflückt: Ich werde kein absolutes Ding drehn!
Nun sollte Rühmkorf freilich in diesem Jahr mit dem Lorbeer, des angesehensten deutschen. Literaturpreises, des Georg Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, bekränzt werden – doch es hat nicht sollen sein. Die Darmstädter Juroren zogen dem „Gall im Narrenkleide“ (Rühmkorf) den Dichter Heinz Piontek vor, gaben ihm den Büchner-Preis und verabfolgten Rühmkorf, gleichsam als Trostpflaster, den niedriger dotierten und in der Oeffentlichkeit kaum bekannten Johann Heinrich-Merck-Preis für Essay und literarische Kritik. Nicht als ob Literaturpreise sonderlich wichtig wären; aber der Vergleich Pionteks mit Rühmkorf scheint mir doch einen symptomatischen Gegensatz zu enthüllen.
Beide Autoren sind Epigonen (– was denn anderes könnte ein Dichter heute sein?). Doch während Piontek diese Tatsache überspielen will und sich in Poesie und Theorie – man lese nur seine Tagebuch-Notizen in dem Band Leben mit Wörtern (1975) – als individuelles Originalgenie hochzustilisieren sucht, nimmt Rühmkorf die Provokation durch die Tradition an und schlägt Funken aus dem, was bei Piontek mehr wie trockener Bildungs-Plunder anmutet. Und während der eine, nämlich Piontek, nicht nur seine Gesammelten Gedichte präsentiert, sondern auch Die Erzählungen – also nicht etwa schlicht „Erzählungen“, sondern gleich, als ginge es um Kafka, Hofmannsthal oder Thomas Mann, Die Erzählungen – setzt Rühmkorf, im „Vollbesitz seiner Zweifel“, auf dem Schutzumschlag seines jüngsten Buches die Worte „Gesammelte Gedichte“ auch noch selbstkritisch in Anführungsstriche, gleichsam als geniere er sich eines solchen an Klassikerausgaben erinnernden Titels.
Der Band, der im Rowohlt Verlag (Reinbek) erschienen ist, enthält knapp hundert Gedichte aus 22 Jahren. Er bringt, chronologisch in drei Abteilungen geordnet, eine Auswahl der Lyrik, die Rühmkorf von 1953 an veröffentlicht hat. Es fehlt also beispielsweise die Heisse Lyrik, die er einst zusammen mit Werner Riegel veröffentlichte, es fehlen die frühen Gedichte, von denen man einige in dem Buch Die Jahre die ihr kennt nachlesen kann. Die in den Band Gesammelte Gedichte aufgenommenen Texte stammen aus den Büchern Irdisches Vergnügen in g (1959), Kunststücke (1962) und Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975). Aber nicht sämtliche Gedichte aus diesen Büchern wurden übernommen, rund zwanzig Stücke fehlen, etwa das hübsche „Lied der Benn-Epigonen“ (zu denen zweifellos auch Rühmkorf zählte) mit der Eingangsstrophe:
Die schönsten Verse des Menschen
– nun finden Sie schon einen Reim! –
sind die Gottfried Bennschen:
Hirn, lernäischer Leim – Selbst in der Sowjetzone
Rosen, Rinde und Stamm.
Gleite, Epigone,
ins süsse Benn-Engramm.
Und mit den Schlusszeilen:
Philosophia per anum,
in die Reseden zum Schluss –:
So gefällt dein Arcanum
Restauratoribus.
Ob dergleichen Rühmkorf heute schon zu sehr als platte Parodie erscheint und nicht mehr seinen jetzigen Ansprüchen genügt? Uebrigens hat er auch in einzelne Gedichte korrigierend eingegriffen und etwa im „Himmelschluck-Lied“ aus der „lumumbaschwarzen Nacht“ nun eine „katangaschwarze Nacht“ werden lassen; das halte ich nicht für eine Verbesserung, da, wie mir scheint, der Name Lumumba mehr Nacht und Schwärze evoziert als der jener Provinz in Zaire, deren Hauptstadt, nebenbei, heute Lumumbashi heisst.
Peter Rühmkorf, das zeigt dieser Band wieder einmal, ist von Beginn seines Schreibens an ein Artist und Virtuose der Versbehandlung und des Strophenbaus, ein Meister des lyrischen Handwerks, dem nur wenige das Wasser reichen können. Allein das schon hebt ihn weit hinaus über die Schar der lyrischen Bilderstürmer, die bei ihren poetischen Kraftakten ja meist doch nur Pappgewichte stemmen und die sich über die Zwänge von Formen hinwegsetzen, die sie kaum beherrschen. Wer denn von all denen, die in sogenannten freien Rhythmen dichten, könnte überhaupt noch etwa ein Sonett oder eine Ode schreiben? Rühmkorf jedenfalls kann es, und er beweist sein Können in Kontrafakturen und Parodien – Parodie hier nicht verstanden als kabarettistischer Jux, vielmehr als eine Form, deren Gegenstand weniger eine Literaturvorlage ist, sondern mehr ein Gegenwartsbefund, ein Gesellschaftszustand: Parodie als „Vorüberlied und Dennochlied in einem“, als „kategorischer Konjunktiv“.
Rühmkorf verarbeitet Elemente aus der Bibel und aus den Gedichten von Walther von der Vogelweide, von Klopstock, Hölderlin, Eichendorff, Claudius und Heine, von Benn und Brecht und vielen anderen – und nicht zuletzt aus dem Barock. Schon sein erster Gedichtband Irdisches Vergnügen in g hatte ja auf des Hamburger Barockpoeten Barthold Hinrich Brockes neunbändige Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott angespielt und dabei den Namen Gottes durch g, das physikalische Symbol der Fallbeschleunigung ersetzt.
Rühmkorf arbeitet mit vorgeformtem Material, er fasst disparate Sprachinhalte zusammen und verändert sie durch kleine Bedeutungsverschiebungen so, dass die Sprache neu belebt wird. Er erzeugt auf diese Weise Reibetöne, ästhetische Mischeffekte, wie er selbst sagt, ähnlich wie Heine, der Mann mit der „Schizographenbrust“. Aber, so sagte Hans Magnus Enzensberger:
Der Rückgriff auf die Tradition beschränkt sich durchaus nicht auf das einmontierte Zitat, die verblüffende Replik. Er bestimmt Rühmkorfs Poesie strukturell, ihre Gestik und Komposition, ihr Wahrnehmungsvermögen und ihre Haltung. Manche seiner „Kunststücke“ sind die reine Schlupfwespen-Lyrik: der Autor nistet sich in einen alten Text ein und füllt ihn produktiv aus. Dazu bedarf es einer historischen Empfindlichkeit, von der man geschworen hätte, dass sie längst ausgestorben ist.
Mit der Tradition, auch der literarischen Tradition, ist es wie mit den bürgerlichen Freiheiten: sie bleibt nur dann lebendig, wenn man sie nutzt, nicht aber dann, wenn man sie nur aus der Ferne ehrfürchtig bestaunt. Die wirklichen Hüter der Tradition in der Literatur sind also nicht die germanistischen Naturschützer, die Goethe & Schiller & Hölderlin & Heine unter die Glasglocke musealer Verehrung stellen und vor Berührung schützen, sondern diejenigen, die mit ihnen umgehen, auch ruppig mit ihnen umgehen und handgemein werden. Sollte also nicht vielleicht der „rote Rühmkorf“, wie er sich in einem seiner frühen Gedichte bürgerschreckend einmal nennt, ein Bewahrer, ja, um das in diesem Zusammenhang scheinbar so deplazierte Wort auszusprechen, ein Konservativer im ursprünglichen Sinne sein?: einer, der durch kräftige Mund-zu-Mund-Beatmung lebendig hält, was andere entweder pietätvoll im Mausoleum bestaunen oder längst auf die Müllhalde der Geistesgeschichte gekippt haben?
Apropos „roter Rühmkorf“: Dieser Dichter hat von früh an gegen restaurative Tendenzen in der Bundesrepublik angeschrieben und aus seiner sozialistischen Gesinnung nie einen Hehl gemacht. Aber er hat auch stets gewusst, dass man mit Meinungen keine Gedichte macht, hat seine politische Aktivität in Artikel und Reden gesteckt, und wo die roten Fahnen – nein, es sind allenfalls Wimpel – in seinen Gedichten flattern, da rufen sie kaum zum letzten Gefecht, sondern signalisieren poetische Reize. Wenn Horaz in einer berühmten Ode sagt „Odi profanum vulgus et arceo“. (Ich hasse die gemeine Menge – sie bleibe ferne!), schreibt Rühmkorf, darauf anspielend, im „Heinrich-Heine-Gedenk-Lied“:
Ich bin der Kohl- und bin der Kolk-,
der Rabe, schwarz wie Priem:
Ich liebe das gemeine Volk
und halte mich fern von ihm.
Eine solche Strophe sagt, wie ein bürgerlicher Intellektueller zum Volk steht, und sie ist ehrlicher als das Gerede vieler angeblich so volksverbundener Autoren, die von Zeit zu Zeit ein Exemplar der so heissgeliebten Spezies der Proletarier an die Brust nehmen.
Skeptisch und desillusioniert heisst es in einem der späten Gedichte zu der Möglichkeit, mit Literatur etwas ausrichten zu können:
Nein, ich rede keinen blöden Mist
und bin weder so-, noch sorum abzurichten:
Gestern Kommunist – morgen Kommunist,
aber doch nicht, jetzt,
beim Dichten?
Kunst als Waffe? – da sei Majakowskij vor!
Deibel, diese blutige Krawatte.
Dicker Danton, der den Kopf verlor,
als er seine Zähne noch beisammen hatte…
Dass Peter Rühmkorf kein lyrischer Luftikus und kein Polit-Joker ist, wird beim aufmerksamen Lesen der Gesammelten Gedichte deutlich. Und dass Rühmkorf nicht nur was die Formen, sondern auch was die Sujets seiner Gedichte angeht, in der Tradition der deutschen Lyrik steht, das hat Enzensberger deutlich in seiner am 22. Mai 76 in der FAZ gedruckten bemerkenswerten Rezension gesagt, in der es über Rühmkorf heisst:
Seine Themen sind gross. Auch wenn er sich darüber ärgern dürfte, behaupte ich, dass er ein metaphysischer Dichter ist. Seine Ironie in allen Ehren: doch wovon er immer spricht, das sind Zeugung und Tod, Freundschaft und Isolation, Vergänglichkeit und Gram. Die allerneuesten Gegenstände unseres Interesses sind das nicht, sondern Brot vom ältesten Brot der Dichtkunst… Er gab der Metaphysik der fünfziger Jahre eine entschieden materialistische Wendung und demonstrierte die Restbestände an aufgeblähter Feierlichkeit, den heimlichen idealistischen Speck, der dem schwarz geschminkten Existentialismus jener Jahre anhaftete.
Peter Rühmkorfs Buch Gesammelte Gedichte hat keinen Waschzettel und keinen Klappentext, doch es enthält ein Gedicht mit dem Titel „Waschzettel“, in dem Rühmkorf, von Leslie Meier (unter diesem Pseudonym schrieb Rühmkorf früher Lyrik-Kritiken) sagt:
Leslie Meier
der sensible Hamburger Linksausleger
(enorme Nehmerqualitäten)
aber inzwischen natürlich auch aufs Hochseil übergetreten –
Hier, meine Damen und Herren, bezeugt sich noch einmal aufs Würdigste:
Der Versuch des Individuums, die tragisch verlorene Einheitlichkeit…
na, sehn Sie schon,
Wie es Balance übt zwischen Krisen- und Klassenbewusstsein.
Das ist doch nicht uninteressant
und auf unterhaltsame Art
sogar lehrreich:
Schwankend
und entschieden allein auf den Kopf gestellt,
mit vergleichsweise reinen Händen,
aber ohne genügende Hilfsmittel,
können Sie hier
einen Mann
In der Luft seinen Mann stehen sehn
Was aber liesse sich Rühmlicheres bemerken als
dass das hier eine wirkliche Lücke zu füllen gilt.
Heinz Ludwig Arnold: Einer, der querliegt. Gesammelte Gedichte
Frankfurter Hefte, Heft 10, 1976
Christian Grawe: Gesammelte Gedichte
World Literature Today. A Literary Quarterly of the University of Oklahoma, Winter 1976
Karl Heinz Kramberg: Lyrisches Subjekt. Peter Rühmkorf im Vollbesitz seiner Zweifel
Süddeutsche Zeitung, 19./20.6.1976
Karl Krolow: Mit voller Schnauze schreiben
Stuttgarter Zeitung, 25.5.1976
Peter Schütt: Lauter geniale Kunststücke. Lyrik und Literaturkritik von Peter Rühmkorf
Deutsche Volkszeitung, 15.4.1976
Jürgen P. Wallmann: In seinen Versen flattern rote Wimpel
Mannheimer morgen, 26.8.1976
Jürgen P. Wallmann: Rühmkorfs Reibetöne. Gedichte aus 22 Jahren
Nürnberger Nachrichten, 13.11.1976
Harald Weinrich: Radikal zwischen den Stühlen. Bemerkungen zur alten und neuen Poeterei des Peter Rühmkorf
Merkur, Heft 343, Dezember 1976
Dieter Lamping: Lyrische Selbst-Behauptung
literaturkritik.de Juni 2013
Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!. Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona
Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf
Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit
Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit
Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik
Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik
Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik
Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum
Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern
Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)
Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999
Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005
Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004
Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018
Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019
Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019
Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019
Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019
Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019
Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019
Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019
Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019
Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019
„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.
„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 1/2
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 2/2