„ZAUM“
Wortschöpfung, die Chlebnikov als ein „Aufreißen des sprachlichen Schweigens, der taubstummen Sprachschichten“1 und als „Feind der Versteinerung der Buchsprache“2 bezeichnet, heißt zum einen Semantisierung der kleinsten sprachlichen Einheiten, wie es Chlebnikov in der „Sternensprache“ demonstriert, zum anderen, wie in der transmentalen Sprache, der „zaumnyj jazyk“, die Praxis der „poetischen Gegenstandslosigkeit“.3
Doch Chlebnikov will die „zaum-Sprache verständlich machen“4 – wieder tritt hier der Wille zum klar überschaubaren System zutage; zur Gesetzmäßigkeit von Strukturen, die, über eine immanent-logische Ausgewiesenheit verfügend, aus der Regelhaftigkeit und Produktivität eine darüberhinaus eindeutige und universelle Bedeutung herleiten lassen und gleichsam reflektieren.
To, čto v zaklinanijach, zagovorjach
zaumnyj jazyk gospodstvuet i vytesn-
jaet razumnyj, dokazyvaet , čto u nego
osobaja vlast’ nad soznaniem, osobye
prava na žizn’ narjadu s razumnym.
No est’ put’ sdelat’ zaumnyj jazyk
razumnym. Esli vzjat’ odno slovo,
dopustim, čaška, to my ne znaem,
kakoe značenie imeet dlja celogo
slova každyj otdel’ nyj zvuk. No esli
sobrat’ vse slova s pervym zvukom
Č (…), to vse ostal’nye zvuki drug
druga uničtožat, i to obščee znače-
nie, kakoe est’ u ėtich slov, i bu-
det značeniem Č. Sravnivaja ėti slo-
va na Č, my vidim, čto vse oni zna-
čat odno telo v oboločke drugogo;
Č – značit oboločka. I takim obra-
zom zaumnyj jazyk perestaet byt’
zaumnym. On delaetsja igroj na osoz-
nannoj nami azbuke – novym iskusst-
vom, u poroga kotorogo my stoim.5
Ganz im Sinne des „zakon kačelej“ – Universale 4 – spricht Chlebnikov vom reinen und vom alltäglichen Wort.
,Lysyj jazyk‘ pokryvaet vschodami
svoi poljany. Slovo delitsja na
čistoe i na bytovoe. Možno dumat’,
čto v nem skryt nočnoj zvezdnyj
razum i dnevnoj solnečnyj… Otdel-
jajas’ ot bytovogo jazyka, samovitoe
slovo tak že otličaetsja ot živogo,
kak vraščenie zemli krugom solnca
otličaetsja ot bytovogo vraščenija
solnca krugom zemli. Samovitoe slovo
otrešaetsja ot prizrakov dannoj by-
tovoj obstanovki i na smenu samooče-
vidnoj lži stroit zvezdnye sumerki.6
Chlebnikov spricht von der „offenkundigen Lüge“, wie sie sich im konventionalisierten im Gegensatz zum selbsthaften Wort zeige – Brjusovs Bemerkung: „Wir leben in einer fortwährenden, längstbestehenden Lüge“7 im Zusammenhang mit der sich durch die Methoden der Wissenschaft nur vermittelten annäherndem Wissen, ist von Chlebnikov im Bereich des „selbsthaften Wortes“ auf originelle Art und Weise durch die Metapher der „Sternendämmerung“8 transzendiert worden. Im selbsthaften Wort reflektiert sich, so Chlebnikov, die „Vernunft der Sterne“.
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit dem Begriff der Utopie bei dem russischen Schriftsteller Velimir Chlebnikov (1885–1922) auseinander.
Das Thema wird allerdings nicht unter dem Aspekt der Sozialutopie, sondern eher unter dem Gesichtspunkt des utopischen Denkens9 behandelt.
Hier sind vor allem die Überlegungen Chlebnikovs zur Zahl, bzw. zur Zeit als Ausdruck eines zyklischen Verlaufs der Geschichte, sowie die Versuche, eine transkulturelle Sprache („zvezdnyj jazyk“, „zaum“) zu schaffen im Zusammenhang mit dem Konzept des „budetljanstvo“ als ein utopisches Konzept einer zukünftigen Welt von Bedeutung.
Mit dem Begriff der Universale wollen wir einen produktiven Zugang zu bestimmten Werken Velimir Chlebnikovs bieten.
Wir verstehen die Universalen (wir werden sieben Universalen herausarbeiten) in dem von uns behandelten Textkorpus als axiomatische und strukturbildende Begriffe. Als „Konstanten der Welt“ haben sie modellbildende Funktion.
Im Zusammenhang mit dem Harmonie-Begriff, dem Enzyklopädierungs-Gedanken und dem Begriff der „Poetisierung der Wissenschaften“, wobei wir Novalis (d.i. Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, 1722–1801) mit Chlebnikov kontrastieren wollen, werden wir die, wie wir meinen, grundlegende Bedeutung der Universalen betrachten.
Wir wollen auf ihre remodellierende und modellierende Funktion im Verlauf der vorliegenden Arbeit eingehen.
Das utopische Denken wird im Zusammenhang mit Chlebnikovs „utopischem Wunschkatalog“ und mit der „utopischen Konkretion“ näher erläutert.
Chlebnikovs Konzept des „budetljanstvo“ wollen wir in Abgrenzung zum russischen Futurismus als über dessen Praxis hinausgehend betrachten.
1. Einleitung
2. Der Begriff der Utopie
2.1. Pansophie
2.1.1. Umfassende Zeichensysteme
2.2. Utopisches Denken, eine Annäherung
2.3. Tradition des utopischen Denkens in Rußland
3. Das Netzwerk
3.1. „Konstanten der Welt“
3.1.1. 365±48
3.1.2. Die Zahlen 2 und 3
3.1.3. „zakon kačelej“
3.1.4. Das „Allgemeine Gesetz der Vergleichbarkeit“
3.1.5. Reihe
3.1.6. Gewebe, Netz, Verflechtung
3.2. Netzwerk als Metapher
3.3. Schaubild
3.3.1. Erläuterung zum Schaubild
4. Chlebnikovs harmonikale Weltsicht – pythagoräisches Denken
4.1. Leibniz
4.2. Das Kontinuitätsprinzip
4.3. Die Zahl als Klassifizierungsparameter
4.4. Pythagoräisches Genre
5. Chlebnikov und Novalis – poetisierte Wissenschaft
5.1. Der Enzyklopädierungsgedanke
5.2. „Die Welt als Formel“
5.3. Die Rolle der Potenzzahl
5.4. „Stumme geometrische Zeichen“
5.5. Raum und Zeit
5.6. Natur und Geschichte
5.7. Abschließende Bemerkung
6. „Poetisierung der Wissenschaften“ – „Wissenschaftspoesie“
6.1. Naturwissenschaftliche Forschungen
6.1.1. Ornithologie
6.2. Der Spielgedanke
6.3. Fraunhofersche Linien
6.4. Das Lorenztsche Weltgesetz
6.5. Imaginäre Zahlen
6.6. π – „Tempelritter des Kreisrunds“
6.7. Karl Friedrich Gauß
6.8. Das Gamma
6.9. Metaphorisierung
6.10. „Poetisch-technische Verfremdung“
7. „Sternensprache“
7.1. Phonetische Opposition
7.2. Die Rolle der anlautenden Konsonanten
7.3. „zaum“
7.4. Poetische Etymologie
7.5. Beziehung zum russischen Symbolismus
7.5.1. Andrej Belyjs „GLOSSALOLIJA“ und Chlebnikovs „STERNENSPRACHE“
8. Chlebnikovs Konzept des „budetljanstvo“
8.1. Die „Lehre vom Strahl“
8.2. Der „budetljanin“
8.3. „Zangezi“
8.4. Utopischer Wunschkatalog
8.5. Utopische Konkretion
8.5.1. „Lebedija Buduščego“
8.5.2. „Ladomir“ und „Utes Iz Buduščego“
8.6. Zusammenfassung
8.6.1. Gegenüberstellung von Remodellierung und Modellierung
9. Globaler Stellenwert der Universalen
10. Zusammenfassung
11. Literaturverzeichnis
Peter Stobbe: Utopisches Denken bei V. Chlebnikov in der Bayerischen StaatsBibliothek
Johannes Holthusen, Johanna Renata Döring-Smirnov, Walter Koschmal und Peter Stobbe (Hrsg.): Velimir Chlebnikov 1885–1985 bei library.oapen.org
Horst Bienek: Schamanismus der Sprache. Zu Chlebnikovs Neu-Entdeckung, Merkur, Heft 293, September 1972
Wladimir Majakowski: Velimir Chlebnikov, Merkur, Heft 287, März 1972
Welimir Chlebnikow und seine poetische Wolga
Welimir Chlebnikows sprache privat gelesen von Valeri Scherstjanoi beim KULTURNETZ 6. KULTURFEST – DAS WORT AUF DER ZUNGE, EIN POETISCHES GASTMAHL am 3.12.2010 in Kassel.
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