– Zu Ulrike Draesners Gedicht „Penelope“ Ausschnitt aus der Zeitschrift Trimaran #4. –
ULRIKE DRAESNER
Penelope
in den saugnäpfen der kraken
die man aus den salzüberspülten höhlen
am hafen zieht, hängen stücke von fels – so kräftig
klammern sie an.
aaaaaaaaaaaaaaeinem polypen gleich
muss man den faulen kerl aus kirkes
schweinehöhle zerren wo er sich hätscheln
lässt, ganz hellene, ganz hormon, statt
den acker zu pflügen, seine herrschaft – den oikos
zu bestellen.
aaaaaaaaaaaaaalaut schimpft antikleia
aus dem ersten stock des pallas, wo sie
schwarze krähe zwischen den weiten kronen
der pinien, die straße bewacht, um ihn, oútis
den kurzen sohn, dessen kosename „niemand“
bedeutet, als ersten zu greifen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawährend sie, penelope
die fremde – sie weiß doch, wie die schwiegermama
über sie denkt, sie : das zarte mädchen einst
penelope, die muskelgeschmeidige spartanerin nun
jeden morgen nackt
aaaaaaaaaaaaaaund glänzend wie junges olivenöl
im hof unter aller augen (komm schon, antikleia
geh auch freier schauen) mit ihren frauen ringt
und in die weite wirft den ball
wie den blick
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaopa laertes ist ausgezogen.
er bestellt, was er garten nennt : einen stundenlauf
groß sein bergiger grund. jeder schmollt auf seine weise
in briefen erzählt er
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie sie, penelope, wartet und wartet
auf seinen sohn womit er sich das eigene sehnen
verkleidet, seine in die wurzeln des gartens gepflügte
machtlosigkeit, sodass die welt nun glaubt
sie nähte kleidung, sie
aaaaaaaaaaaaaadie in menschen näht
(…)
ALS ICH NOCH EIN KIND WAR, las mir mein Vater jeden Abend etwas vor. Auf die Märchen der Brüder Grimm und die griechischen Mythen und Sagen folgten die Schilderung des Trojanischen Krieges und die Irrfahrt des Odysseus. Also auch Penelopes Warten. Und ihre ambitiösen Freier – dadurch habe ich in der wirklichen Welt so viele Freier erkannt, so viele Thronanwärter. So viele Teppiche, die gewebt und wieder aufgetrennt werden.
Ulrike gab mir einen Auszug aus ihrem Langgedicht PENELOPE. Nachdem ich diesen mehrmals gelesen hatte, sagte mir der Text: Höre mir zu, wie du dem Wasser zuhörst (ich weiß nicht, ob ich den Rat, den mir der Text gab, gut befolgt habe, aber ich habe es genossen, denn was drang nicht alles an mein Ohr!).
Manchmal ist die Wasseroberfläche nahezu unbewegt, manchmal stürzen meterhohe Wellen rauschend herab, manchmal muss man sich vor gefährlichen Unterwasserströmungen in Acht nehmen, vor Stromschnellen, Wasserfällen, es gibt Farbnuancen und Blue Holes. Manchmal reißt das Wasser etwas mit sich in die Tiefe, ohne dass ich es erkennen könnte. Ich weiß, dass sich farbenprächtige Pflanzen, aber auch unvorstellbare Wesen in den Spalten und Höhlen verstecken. Manchmal sind diese Wesen durchsichtig und leuchten. Offenbar leben dort auch gigantische Monster – mehr dazu unter dem Lemma „Trauma“. Manchmal ist das Wasser klar wie in einem Bergbach. Manchmal verbirgt sich die Oberfläche hinter einem hauchdünn gewobenen Schleier. Manchmal ist die Wasseroberfläche eine marschierende Armee. Manchmal hört man das rhythmische Geräusch des Ruderschlags. Und dieses Geräusch kenne ich aus der Schilderung des Trojanischen Krieges.
man zieht mit beiden armen vor die brust
ein gewicht, rudert vor, zurück
Bei Ulrike rudern Frauen dieses Boot. So wird das Boot ab jetzt die Wellen teilen. Mit Penelope am Ruder. Ich nehme mir vor, der Reisebeschreibung möglichst wörtlich zu folgen, in einem Niederländisch, das sich möglichst nah an Ulrikes Deutsch schmiegt.
Ein Text, gebrochen vom Rhythmus. Denn Wasser steht niemals still (auch wenn wir das manchmal glauben), es verändert sich also jede Sekunde. Weil der Text mit den alten Geschichten bricht (dazu später mehr). Manchmal suchend, tastend (im Dunkeln), stotternd.
Poesie, die ihren Anfang findet im Schmerz, einer Wunde (auf der Suche nach einer Möglichkeit, doch sprechen zu können). Fragmente, Fetzen, Bruchstücke, Klumpen, Elemente, Fasern (Penelopes Teppich, der jedes Mal aufs Neue aufgetrennt wird – ist Poesie nicht die Sprache für das, was nicht da ist?). Filmisch (allerdings aus Szenen, die aus dem Zusammenhang geschnitten, bearbeitet, zu einem neuen Ganzen montiert werden). Aneinandergenäht (die Nähte sind noch zu sehen / manche Stücke sind gerissen, andere wurden erst zerschnitten und dann doch wieder zusammengenäht – auch die Dichterin hat an Trauben geübt). Sauer. Wütend (aber diese beherrschte und dadurch zutiefst beunruhigende Wut). Ab und zu spöttisch. Gleichzeitig aber mit militärischer Präzision, gemessen.
Die „Geschichte der Reise“ geht weiter (wie das Warten und Weben Penelopes in jener anderen Geschichte). Penelope ist nicht länger sie, die „wartet und wartet“ auf Odysseus, sie ist selbst Reisende geworden, auf dem Weg zu einem Zuhause. Unaufhaltbar: Einmal in Gang gesetzt, ist es nicht mehr zu stoppen, unumstößlich, unstillbar.
Der Text ist apokalyptisch, also offenbarend: Schau, das sind die neuen Zeichen, dies ist die neue Erzählung. Voller Details, die mit den Leser*innen reagieren, Bilder, die aufflammen und nicht mehr auszulöschen sind;
da tritt
glatt wie ein skink
in die fugen der sonne geschmiegt –
aus seinem gehäuse
poseidon
als glänzendes mineral
als karte aus der wand
Umformung der klassischen Geschichte/Metamorphose der „offiziellen“ Erzählung (der offiziellen Lüge), der Protagonisten, der Handlungen: nichts vergeht, alles wandelt sich (Ovid). Als überschriebe die apokryphe Erzählung die klassische (wie bei EMDR: das Gehirn, bzw. das traumatische Ereignis, wird durch eine neue Fassung überschrieben).
Filmisch (ein Film, der nur aus Rushes besteht, die aus ihrem Zusammenhang geschnitten wurden – die Geschichte, die Illusion der kausalen Geschichte als Waffe derer, die den Status quo aufrechterhalten wollen, mit anderen Worten: des Patriarchats). Filmisch meint hier: Die Kamera registriert, fokussiert (schneidet also mit einem Skalpell das Bild aus dem größeren Bild).
Mit einem Skalpell: Das Bild bringt das Symptom zum Vorschein, die Erkrankung, den Grund zur Klage. Klage (nicht wie in Wehklage, sondern wie in Anklage). Anklage wie in „stark“. Stark wie in „lebendig“.
Lebendig wie in „handelnd“, nicht in der Bedeutung von: Tomatensuppe auf ein Gemälde werfen, sondern in der Bedeutung: Ein neues Gemälde erschaffen. Etwas Neues ermöglichen. Neu wie: Dies ist die neue Geschichte (= eine neue Möglichkeit zu sehen).
Neu wie: voller Hoffnung. Es gibt eine Zukunft.
Peter Verhelst
Übersetzung: Stefan Wieczorek
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