Peter von Matt: Zu Friederike Mayröckers Gedicht „An eine Mohnblume mitten in der Stadt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Friederike Mayröckers Gedicht „An eine Mohnblume mitten in der Stadt“ aus dem Band Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939–2003. –

 

 

 

 

 

FRIEDERIKE MAYRÖCKER

An eine Mohnblume mitten in der Stadt

aus meinen Köpfen sprießt
das Feuerwerk der Tränen, der
Flieder rostet, der Liguster
weht, die Camouflage des
Sommers läßt Gewitter ahnen –
Wolfsmilch besamt die Flur, die
Stare fallen, Mücken
flirren im Dorngebüsch, das
abgewelkte Blühen einer
Wolke von erbsengrüner Kirschenfrucht
gekrönt –
samt aufgeprägten kaiserlichen
Doppeladlern – Portraits auf roten Ziegeln –
bröckelt die Friedhofsmauer ab
gestützt nur noch von immergrünen
Efeuranken –
im Aufwind flügelschlagend
steht
raubvogelgleich mein Herz nach Beute äugend

 

Unverhoffte Herrlichkeit

Ich bitte, mit dem Ende beginnen zu dürfen. Die letzten drei Zeilen reden herrlich von einer hohen Stunde. Das liturgische „Sursum corda!“, der Aufruf, die Herzen gegen den Himmel zu werfen, von wo es ihnen mit Wind und Feuer entgegenbraust, wird hier befolgt. Aber es ist nicht die Tat einer frommen Seele, sondern die Erhebung geschieht einem dichterischen Geist, ihm wird der triumphale Aufschwung plötzlich und mächtig geschenkt.
Jetzt vermag das Herz alles. Es sieht alles, weiß alles, kann alles erjagen und schlagen. Es erfährt die Machtvollkommenheit der schöpferischen Zeit, den grenzenlosen Augenblick der Inspiration. „Raubvogel süß ist die Luft / So kreiste ich nie über Menschen und Bäumen“ heißt es bei Sarah Kirsch; und auch bei Ingeborg Bachmann ertönt der „Jagdruf“ dieses Vogels, „der seine Schwingen steift“ und tödlich auf die weißen Hühner niederfährt. Vorher war tote Zeit, und tote Zeit wird wiederkommen – was soll’s? Auf das Jetzt kommt alles an.
So wie diese Stunde in der toten Zeit, so steht die unverhoffte Mohnblume mitten in der steinernen Stadt, ein flammendes Rot aus einem merkwürdigen Kapselkopf. Die Chiffre von der einsamen Blume, auf die ein Dichter stößt, ist alt. Platen redet so von einer Geißblattranke: „… in der Oede / Find ich, teure Blüte, dich so spat?“; Mörike von einer Christblume: „Im fremden Kirchhof, öd und winterlich, / Zum erstenmal, o schöne, find ich dich!“
Aber die sorgfältige allegorische Auslegung der lieblichen Erscheinung, die die Vorgänger im Vollzug ihrer Gedichte betreiben, ist Friederike Mayröckers Sache nicht. Bild und Sinnspruch, Emblem und Subscriptio werden bei ihr nicht bedachtsam getrennt. Da stürmt und bläst auch poetisch alles durcheinander im Wind der Inspiration, der jetzt – „mitten in der Stadt“ – eine große Frühlingslandschaft heranträgt. Diese Landschaft ist beides zugleich: die wunderbar genaue Beschreibung, wie ein Jahr sich von der Blütezeit in die Zeit der Früchte, Samen und Gewitter wendet, und das bewegte Gleichnis poetischer Produktivität. Der Dornbusch lebt von Millionen Mücken. Es ist der gleiche, der einst in der Wüste plötzlich brannte. Der Friedhof, die Vergänglichkeit, die bröckelnden Kaiserwappen, verschollene Pracht und vergessene Tote: sie gehören in diese schwebende Fata Morgana, machen keinen Gegensatz. Aus allem „Abgewelkten“ schwillt es „erbsengrün“, wie in der Krone des Kirschbaums, der mit dem scharfen Auge des alten Brockes gesehen wird.
Jetzt nehmen sich auch die Köpfe des redenden Ichs, die Köpfe in der Mehrzahl, nicht mehr nur seltsam aus. So ganz verschieden sind ja die toten von den lebendigen Zeiten, so ganz anders jedesmal erfährt sich selbst, wer sie erlebt, daß von einer einzigen Person, einem einzigen Kopf fast nicht mehr die Rede sein kann. Der Schreck der Schöpferischen angesichts ihres Werks: „Wer hat das gemacht? War ich das, wirklich ich?“, hat schon in der Romantik zu Verdoppelungsphantasien geführt. Die Köpfe der Dichterin, mehrere offenbar, Köpfe und Mohnkapseln zugleich, aus denen nach dem Tränenregen das Rot schießt und in denen der Wahn kocht – anderswo heißt es: „stütz ich den Kopf, die Kapsel / schorfbedeckt, in meine Hand… die Kapsel ausgetrocknet / meiner Stirn und flammend Mohn und Wahn“ –, sie sind ein drastisches Bild für das Unheimliche, das mit allem bedeutenden Dichten, mit jedem bedeutenden Gedicht, also auch mit diesem hier, verbunden ist.

Peter von Matt, aus Peter von Matt: Die verdächtige Pracht, Erstdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.2.1991

1 Antwort : Peter von Matt: Zu Friederike Mayröckers Gedicht „An eine Mohnblume mitten in der Stadt“”

  1. pjesma sagt:

    Mag dies Gedicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00