– Zu Gottfried Benns Gedicht „Restaurant“ aus Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. –
GOTTFRIED BENN
Restaurant
Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier,
das ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen
daß ich auch gelegentlich einen zische.
Man denkt immer gleich, man ist süchtig,
in einer amerikanischen Zeitschrift las ich sogar,
jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten,
das glaube ich nicht, vermutlich steht die Coca-Cola-Industrie
oder eine Kaugummifabrik hinter dem Artikel.
Ein normales Leben, ein normaler Tod
das ist auch nichts. Auch ein normales Leben
führt zu einem kranken Tod. Überhaupt hat der Tod
mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun,
er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke.
Wie meinen Sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun?
Ich meine das so: viele erkranken, ohne zu sterben,
also liegt hier noch etwas anderes vor,
ein Fragwürdigkeitsfragment,
ein Unsicherheitsfaktor,
er ist nicht so klar umrissen,
hat auch keine Hippe,
beobachtet, sieht um die Ecke, hält sich sogar zurück
und ist musikalisch in einer anderen Melodie.
Für einmal fällt der Beruf des Autors ins Gewicht. Wenn es um Rosen geht, um Sonnenuntergänge oder Liebesnöte, ist jeder zuständig. Stammt ein Gedicht über Krankheit und Tod aber von einem Arzt, horchen wir anders hin. Hier spricht der Fachmann. Hier könnte es zu Informationen kommen, die anderswo nicht zu haben sind. Plötzlich können wir den historischen Autor nicht mehr zum lyrischen Ich sublimieren. Er sitzt uns gegenüber, und das Stethoskop baumelt ihm um den Hals.
Auch wenn das Gedicht nicht im Sprechzimmer spielt, sondern in einer Berliner Kneipe, und der einsame Trinker gewiß ohne seine medizinischen Instrumente ausgegangen ist, sehen und hören wir den Arzt. Das macht den Text so ungewöhnlich. Und was gesagt wird, steht erst recht quer zu jeder Erwartung. Ärzte sind Naturwissenschaftler, Ärzte sehen täglich die Krankheit, täglich den Tod, für Ärzte ist alles Natur, und irgendwann führt eine Krankheit eben zum Tod – so, denken wir, muß hier argumentiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Dr. Benn, hinter seinem Bier monologisierend, trennt den Tod vom Zerfallsprozeß. Wider alle wissenschaftliche Konvention erklärt er ihn zu etwas ganz anderem, das, wörtlich, „mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun“ hat. Das ist ein Donnersatz. Man hat sich sofort um ihn gedrückt. Niemand scheint ihn zu kennen, niemand zitiert ihn.
Liegt es an der unfeierlichen Diktion? Diese ist in Wahrheit eine glänzende Errungenschaft Benns. Das scheinbar formlos Hingesagte ist raffinierte Setzung. Nicht um Parodie des streng Gefügten geht es dabei, nicht um die Zerstörung des hohen Tons, den er ja weiterhin pflegt, sondern um einen Gegengesang gleichen Anspruchs. „Salopp, mit der Slang-Masche, die ich so liebe“, nennt er diese Intonation einmal. Sie erweckt den Eindruck einer spöttischen Freiheit, redet in breiten Sätzen daher, ohne Rücksicht auf Ökonomie. Genau das aber ermöglicht so hinreißende Momente wie die Zwischenfrage:
Wie meinen Sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun?
Die Überraschung der These wird hier verdoppelt in einem formalen Coup, den man so noch nie erlebt hat: Plötzlich redet dem Dichter einer drein. Das ist komisch, ein Illusionsbruch, aber es spitzt auch die Denkarbeit dramatisch zu.
Jetzt geht es um die älteste aller Fragen, den bittersten Stachel in der Menschenseele. Der Tod, so dieser Arzt, kann nicht von der Krankheit her verstanden werden. Daß er bloß eines ihrer Symptome sei wie das Fieber oder der Schüttelfrost, damit mag sich ein naiver Naturalismus zufriedengeben. Dieser merkt nicht, daß allein schon das Nachdenken über den Tod etwas fundamental anderes ist als das Nachdenken über Masern und Cholera – ob es nun im alten Athen geschieht, eine Stunde vor dem Sterben des Sokrates, oder 1950 in einer verrauchten Berliner Kneipe. Das Nachdenken über den Tod hat die Wissenschaften erst geboren, also können die Wissenschaften ihm nie überlegen sein. Wenn die Krankheit mein Gehör zerstört, zerstört sie, was ich immer schon als zerstörbar erfahren habe. Kann der Tod aber zerstören, was ich tief innen als unzerstörbar erlebe? Hier steckt das „Fragwürdigkeitsfragment“, von dem das Gedicht spricht. Es besagt, daß die Sache der Frage würdig ist, sogar wohl, daß diese Frage zur Würde des Menschen gehört. Wo der Tod nur noch natürlich ist, ist es bald auch das Töten. Der „Unsicherheitsfaktor“, als Parallelbegriff gesetzt, bringt zwar auch keine Lösung, ist aber immerhin ein Faktum. Wissenschaftlich kann man schwer über ihn reden, poetisch schon. Die letzten vier Verse tun es. Sie beseitigen das alte Bild vom Sensenmann und machen den Tod zu einem diskreten Flaneur. Ist er nicht eben draußen vorbeigegangen? Die Vorstellung reicht nicht aus. Sie fordert mehr: den letzten Vers. Er sagt das Äußerste, was gesagt werden kann. Das Unvergängliche ist als Musik zu denken. Wer widerspricht?
Peter von Matt, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010
Wie soll man “und ist musikalisch in einer anderen Melodie” verstehen?