– Zu Michael Krügers Gedicht „Die Schlüssel“. –
MICHAEL KRÜGER
Die Schlüssel
Beim Aufräumen des Schuppens
fand ich ein Kästchen alter Schlüssel,
schweres Gerät mit schönen assyrischen Bärten.
Jeder träumte von einer anderen Tür
in einem andern Jahrhundert,
von Duellen und fetten Würsten.
Einer paßte in ein liebesmüdes Herz.
Sie konnten Bismarck gekannt haben
oder Fontane oder ein Fräulein
in einem Roman, der nicht gut ausging.
Da sie kein Schloß mehr nehmen wollte,
legte ich sie vorsichtig zurück.
Das Haus atmete erleichtert auf.
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des menschlichen Seelenlebens, daß man Schlüssel nicht wegwerfen kann. Noch am unscheinbarsten Exemplar hängt die kleine Hoffnung, irgendwann werde sich damit ein wichtiges Schloß öffnen lassen. Auch scheinen Schlüssel von Natur aus gesellige Wesen zu sein. Sie versammeln sich zu Bünden, die als Zeichen der Macht gerne sichtbar getragen werden. In dieser Funktion belieben sie auch zu klirren. Versenkt man sie in der Rocktasche, ruinieren sie das Futter. Völlig lautlos wiederum liegen sie tief in einem Schubfach und werden da ihrer immer mehr. Kein Haus, keine Wohnung ohne solchen Schlüsselhort. Die Magie, die dem eisernen Ding in so vielen Märchen zukommt, schützt die unbrauchbaren Schlüssel vor dem Verlorengehen, während sich die unentbehrlichen nur allzu gerne aus dem Staub machen.
Michael Krüger hat ein Auge für das, was alle Leute sehen und doch nicht bemerken. So stößt er auf lyrische Motive, die ganz neu sind, obwohl sie jedem vor Augen liegen. Er muß gar nicht viel dazu sagen. Verblüfft über die Entdeckung des Vertrauten, blüht unser Verstehen den Versen förmlich entgegen. Dennoch arbeitet der Autor behutsam an seinem Fund. Er umspielt ihn mit Lichtern, die die Sache ganz sie selbst sein lassen und doch die Tiefe der Zeit dahinter öffnen. Und plötzlich hören wir ein Wort aus der Sprache unserer Träume.
So läßt er in den ersten Versen die Kinderphantasie von der Schatzkiste aufblitzen, ohne daß man genau sagen könnte, wie das zugeht. Es streift einen einfach der alte Zauber. Hat man nicht einst hoffnungslüstern auf Großmutters Dachboden herumgewühlt und den Kellerboden auf hohle Stellen abgeklopft? Vielleicht ist es allein das Wort Kästchen, das die Erinnerung auslöst. Und die „schönen assyrischen Bärte“ geben uns sogar eine ironische Bestätigung. Sie verknüpfen die Schlüssel mit der Archäologie.
Und darum geht es zuletzt. Archäologie ist die Suche nach dem, was einst war und jetzt verschüttet liegt, vielleicht im Zweistromland, vielleicht in der eigenen Seele. Was einmal war, ist wirklich. Es kann nie mehr nicht gewesen sein. Die Wirklichkeit des Vergessenen ist ein inständiger Gedanke in Krügers Lyrik. Er will die alles verzehrende Zeit nicht wahrhaben und sieht sie doch überall am Werk. In der Nacht quälen ihn die vergessenen Dichter.
Deshalb steht er im Bann dieser Schlüssel. Hart, schwer, gefräst, geschliffen, jeder ein Einzelstück, zeugen sie von Häusern und Menschen, die keiner mehr kennt. Er nimmt sie in die Hand und empfindet den Andrang des Unsichtbaren. Vornehmen haben sie gedient, derben Genießern, Liebenden aller Art, glücklichen und hoffnungslosen. Es ist, als träte man aus der Zeit.
Daher darf man sie nicht verlieren. Das meint wohl der letzte Vers, der schwierigste. Das Haus, das jetzt dasteht, solide, mit festen Türen und guten Schlössern, wird angesichts der Schlüssel von der eigenen Vergänglichkeit gestreift. Ein Kollege des Autors, der alte Gryphius, hat es gewußt:
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein: Wo jetzund Städte stehn, wird eine Wiese sein…
Diesem allgemeinen Untergang aber trotzen die Schlüssel. Klein sind sie, widerborstig und unendlich gleichgültig gegenüber dem, was zur Zeit gerade existiert. Schau mich an, sagen sie, etwas bleibt immer. Nichts kann ganz verschwinden. Es geht nur über ins Unsichtbare. An diesem ist dem Lyriker Michael Krüger viel gelegen. Alles Sichtbare erinnere sich an das Unsichtbare, heißt es einmal. Der Mann im Gedicht verspürt es körperhaft, wenn er so dasteht mit dem eigenartigen Fund. Dann trägt er ihn zurück. Für die nächsten hundert Jahre.
Peter von Matt, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008
Schreibe einen Kommentar