Peter von Matt: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Eine Sibylle“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Eine Sibylle“ aus Rainer Maria Rilke: Der Neuen Gedichte anderer Teil. 

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Eine Sibylle

Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt.
Doch sie blieb und kam dieselbe Straße
täglich. Und man änderte die Maße,
und man zählte sie wie einen Wald

nach Jahrhunderten. Sie aber stand
jeden Abend auf derselben Stelle,
schwarz wie eine alte Citadelle
hoch und hohl und ausgebrannt;

von den Worten, die sich unbewacht
wider ihren Willen in ihr mehrten,
immerfort umschrieen und umflogen,
während die schon wieder heimgekehrten
dunkel unter ihren Augenbogen
saßen, fertig für die Nacht.

 

Wer spricht aus dem Mund der Dichter?

„Eine“ Sibylle? Wie viele gab es denn? Die Berichte schwanken. Gelegentlich ist von zehn die Rede. Andere reden von dreien. Vermutet wurde auch, es habe nur eine gegeben, die ruhelos umhergezogen sei und so zu verschiedenen Namen kam. Die berühmtesten kennen wir von den Bildern Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle: die Persische, die Erythräische, die Cumäische, die Libysche und die hinreißende Delphische, deren Schönheit alle Madonnen übertrifft. Hat Rilke sie zu einer Gestalt zusammengezogen?
Das Gedicht geht vom Alter aus. Die Sibylle lebt seit Jahrhunderten. Dies ist nur von einer überliefert, von der Cumäischen. Apollon war in sie verliebt, als sie noch aussah wie die Delphica. Jeden Wunsch werde er ihr erfüllen. Sie schöpfte eine Handvoll Staub: Ich will so viele Jahre leben, wie hier Körner sind. Aber sie vergaß, dazu auch die ewige Jugend zu verlangen. So wurde sie älter und älter, schrumpfte mit der Zeit, hing zuletzt, klein wie eine Zikade, in einer Flasche ganz hinten in ihrer Höhle bei Neapel. Dies hat einer der wichtigsten Dichtungen des 20. Jahrhunderts das Motto geliefert:

Die Sibylle habe ich nämlich in Cumae mit eigenen Augen gesehen. Sie hing in einer Flasche, und als die Knaben sie fragten: „Sibylle, was willst du“, antwortete sie: „Sterben will ich.“

So in T.S. Eliots Das wüste Land. Die Sibyllen vor Augen, denken die Dichter über sich selber nach.
Auch Rilke. Er schafft die Visionärin um in einer eigenen, mächtigen Vision. Wie eine Burgruine erscheint sie ihm, aus der am Abend die prophetischen Schreie tönen, wirr, schwirrend, bald vereinzelt, bald in Schwärmen. Um ganz sagen zu können, was ihn bedrängt, verdoppelt Rilke die Vision. Zur hohlen Citadelle kommen die Vögel hinzu, Wolken von Vögeln. Sie fahren aus den schwarzen Mauern, kreisen weithin und schlüpfen wieder ein. Das drängt sich, paart sich, vermehrt sich. Wo? „Unter ihren Augenbogen.“ Jetzt ist das Gemäuer wieder die Frau, und die Vögel sind die Orakelrede, die Dichtung.
Es geht hier nicht einfach um den alten Vergleich der Dichter mit Propheten und Sibyllen. Das Gedicht will mehr. Die Schlüsselstelle steckt im Auftakt zur letzten Strophe:

unbewacht, wider ihren Willen.

So entsteht die Dichtung in der Frau. Sie ist nicht Herrin ihres Gedichts. Die ältesten und die modernsten Theorien der Poesie begegnen sich hier. Einst, für den Sokrates in Platons „Ion“, war der Dichter das Sprachrohr eines Gottes. Dann kam der Triumphzug des bewußten, selbstregierten Subjekts, das als Künstler seine Kunst kommandiert. Für Rilke ist diese Vorstellung eingestürzt. Nicht erst mit dem Spätwerk, das in allen Dichtern nur noch den einen Orpheus hörte, das hinter „soviel Liedern“ von keiner Person mehr wußte.
Schon 1907, als „Eine Sibylle“ in Paris entstand, hatte sich Rilke vom herkömmlichen Begriff des Dichters verabschiedet. Er erfuhr sich als Medium unbekannter Mächte, ausgeliefert. Nicht anders erging es seinem Landsmann Kafka in Prag. Der setzte sich an den nächtlichen Tisch und wartete, bis das Schreiben über ihn kam wie ein Brand. Dann loderte er und vergaß die Zeit. Am Morgen las er staunend, was auf dem Papier stand. Die hohle Citadelle, aus der es tönt und ruft, ist die moderne Antwort auf Goethes Prometheus, der sich als Künstler trotzig neben den Schöpfergott stellte.
Wer also spricht aus dem Mund der Dichter? Man hat den Gott des Sokrates durch das Unbewußte ersetzt, durch eine Hyperaktivität der rechten Gehirnhälfte, durch Regressionsprozesse in den kindlichen Animismus, durch das Raunen der Diskurse. Das ist alles bedenkenswert und trifft doch die Sache nicht. Sicher ist nur eines: Die Worte aus der Citadelle reißen das Netz des unabsehbaren Geredes auf, in dem wir alle hängen, das Weltgewäsch. Freiheit also.

Peter von Mattaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00