– Zu Elisabeth Borchers’ Gedicht „chagall“ aus Elisabeth Borchers: Gedichte. –
ELISABETH BORCHERS
chagall
die geschichte der liebenden
ist ein fisch
die geschichte der liebenden
ist ein stier
es liegen
die sich lieben
als feuer vor der stadt
ein engel singt blau ihre nacht
noch sitzt die taube still
der wind speist das tieraug
mit nachtblauen blumen
zwischen kieme und horn
treibt heiteres geschick
doch die sich lieben
achten es nicht
und liegen ein feuer
rot vor der stadt
I
Es geschieht selten, aber es geschieht: daß Gedichte Wellen schlagen, Öffentlichkeit machen, ja die Öffentlichkeit aufbringen. So im Jahre 1960, und der Ort war das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Magisch singende summende wiegende Undinen-Verse erregten Empörung, Zorn, Protest – und auch Bewunderung, die Emotionen schlugen sich über Wochen nieder in den Ausgaben der Zeitung: eine Reaktion, „deren Ausmaß niemand erwarten konnte, der professionellen Umgang mit Gedichten hatte, und das heißt, der mit der Wirkungslosigkeit des Gedichte-Schreibens vertraut war“ (Becker, S. 105). „eia wasser regnet schlaf“, so begann es, und „eia regnet’s wasserschlaf“ endete es; und dazwischen wurde ein Toter zur Ruh gebracht, wurde ein Kind getröstet: „was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?“ Die Dichterin, deren Namen damals kaum jemand kannte, hieß Elisabeth Borchers und dieses todesschlaftrunkene Zauberlied war ihre Version des Shantys, der da fragt:
What shall we do wich the drunken sailor?
Denn sie – „hochbegabte Nachtigall“ – ist auch eine literarische Dichterin, eine die mit mancherlei Zitat- und Bildmaterial arbeitet und solche Versatzstücke den eigentlichen Elementen ihrer Lyrik beigibt. Einige dieser eigentlichen Elemente aber sind schon in diesem ersten Gedicht versammelt, und sie werden immer wiederkehren: Wasser, Abend, Gras, Schlaf… Wie in der Repetition des Gebete-Murmelns werden die Motive abgehandelt, abgewandelt – und sie assoziieren, was zu ihnen gehört als Begleiter oder als Widersacher: Erde und Wind, Nacht und Feuer – der Stoff, aus dem die Träume sind, die Märchen und die Kinderspiele. Formen der tieferen, der höheren Realität.
II
Elisabeth Borchers, geboren 1926 am Niederrhein, wo die Kinder im Martinszug singen („der mantel rot / steigt aus dem grab / das schwert wird sanft / für eine nacht / so singen / meine armen kinder“), und Frankreich ist nicht weit: auch in Frankreich hat Elisabeth Borchers gelebt, und es gibt Verse von ihr in der Sprache des nachbarlichen Landes. Ihr Hauptgeschäft ist das Verlagslektorat, bei Luchterhand erst, in der Insel dann, und sie hat, mit ihrem Namen auf dem Titelblatt oder eher noch ihn hinter anderen Namen versteckend, viele schöne Bücher herausgebracht. Selber auch Kinderbücher geschrieben und Hörspiele und Prosa (Eine glückliche Familie, 1970); und dazu drei schmale Bände mit Gedichten (der dritte von 1976 eine Auswahl aus den ersten beiden von 1961 und 1967, aber vermehrt um eine Abteilung „Neue Gedichte“). Die „chagall“ betitelten Verse gehören der frühesten Sammlung an – so sind sie denn auch, im Gegensatz zum späteren Brauch der Autorin, konsequent in der Kleinschreibung gehalten und entbehren des gliedernd-deutenden Satzzeichens. Was im Bereich der Lyrik durchaus nicht im gleichen Maße als geschmäcklerisch und Marotte abzutun ist wie anderwärts. Denn die Hilfsmale der Großschreibung und der Interpunktion dienen wohl dem schnelleren Erfassen der gemeinten Bedeutung in syntaktischen Zusammenhängen, indes hat Lyrik ihre eigenen Gesetze und will nicht schnell erfaßt sein und macht sich nicht deutlich durch Konrad Dudens Markierungen, sondern allein durch ihre Form.
III
Die Form: Drei Strophen in abnehmendem Umfang. Sieben Verse die erste, sechs die zweite, vier die dritte: Verknappung als Mittel der Steigerung. Die Verse selbst ungleich lang, von einer Hebung bis zu deren drei. Keine Reime (wie sie sich gelegentlich in den Liedern der Borchers finden), wohl aber Assonanzen, deren Vokalklang Worte einander suchen und finden läßt: fisch/stier/still/geschick/nicht; liegen/lieben; stadt/nacht.
Die Farben Rot und Blau und dann wieder Rot färben die Strophen: die erste nur indirekt („als feuer“); die zweite kennt das „blau“ und das „nachtblau“ (und „taube“ und „-aug“ klingen hinein); die dritte nennt das „rot“ und setzt zum Ende ein feuriges Zeichen.
Im Erzählton beginnt es, er wird durch die Feierlichkeit der sich wiederholenden Formel zum Ton der Verkündigung: „die geschichte der liebenden ist…“, „die geschichte der liebenden ist…“. Und biblische Bildsprache ist es, die die Verse insgesamt durchtönt.
Vergangenheit mündet in Gegenwart: Einst waren die Liebenden Fisch, und einst waren sie Stier; jetzt sind sie Feuer.
Feuer vor der Stadt.
So die Exposition. Die zweite Strophe ergänzt, malt das Ambiente, schmückt die Szene, läßt den Engel mitspielen und die Taube, den Wind und die Blumen und läßt all diese Wesen sich aufeinander beziehen: Heiterkeit ist ihr Element, das sie ausströmen zwischen den einander weit abgewandten Kopf-Enden von Fisch und Stier.
Die dritte Strophe greift zurück in den Anfang, gibt dem ganzen Gebild eine Ring-Struktur, und drei ihrer vier Verse sind aus den letzten drei Versen der ersten Strophe unmittelbar abgeleitet. Dazwischen drängt sich die Verweigerung des „heiteren geschicks“ durch die Liebenden: Sie „achten es nicht“. Denn sie scheinen nunmehr aufgegangen in der Absolutheit ihrer Liebe. Hieß es anfangs noch, sie liegen „als Feuer“ vor der Stadt, in der Rolle gewissermaßen des Feuers, so sind sie zum Ende das Feuer; und so ist es auch konsequent, daß nunmehr hart die Farbe genannt, wie eine Fackel in die Szene geworfen wird:
und liegen ein feuer
rot vor der stadt
IV
„chagall“: Die Überschrift ist kein Aperçu, es geht nicht darum, nach Chagalls Manier ein Panorama zu ersinnen, ein Szenario einzurichten. Das Bild ist authentisch, ein Farblitho aus dem Jahre 1954, und es hat das Format 51,5 mal 66,8 cm.
Der Untergang ist ein verwaschenes Lila. Davor übereinander geschichtet in drei Ebenen die großen Elementar-Wesen: Der Fisch (das Wasser); der Stier (die Erde; so war der Stier z.B. das Kuhbild des Vegetationsgottes Baal); die Liebenden (und ihrem Rot mag man das Feuer zuordnen). In das gleichfarbene Rot des Stierleibs hineingemalt: schachtelartig die Waben-Fassaden der Stadt-Häuser, vor ihnen aufragend eine Siegessäule. Der große Fisch, einem Wal nicht unähnlich, mit einem Sichelmond als Auge, und nach links aus dem Bild hinausschwimmend, läßt seine Schwanzflosse ausmünden in den Oberkörper einer Frau, deren Kopf – wir haben einen Chagall vor uns – um 180 Grad versetzt ist. Darunter, parallel nach rechts aus dem Bild hinausstrebend, das Haupt des Stiers, der somit einen Kontrapost zum Haupt des Fisches bildet: Kieme links und Horn rechts, und dazwischen das Spannungsfeld des „heiteren geschicks“. Am rechten Außenrand, in blauer Ausbuchtung unter dem Stierhaupt, eine zweite weibliche Gestalt, eine Taube im Arm, die „noch“ still sitzt – sie wird also aufflattern: an Tiervater Noah erinnernd (1. Mose 8); den Heiligen Geist assoziierend (Matth. 3, 16)?
Es tritt übrigens zu den solchermaßen aus den Bildfiguren abzuleitenden Elementen Wasser – Erde – Feuer auch das vierte, die Luft hinzu: der „wind“, das Haar der beiden Frauenköpfe läßt er wehen, und nachtblaue Blumen trägt er heran, ihre Farbe wird vom auf diese Weise „gespeisten“ Auge des Stiers reflektiert.
V
Die Elemente und Symbolwesen stehen zum einen für sich selbst. Zum andern sind sie ihrerseits Chiffren für biblische Botschaft. Der Fisch erinnert an das Abenteuer des Jonas, vor allem jedoch ist er Symbol des frühen Christentums (da man seinen griechischen Namen ἰχθνϛ auflösen konnte in die Anfangsbuchstaben einer griechischen Wortreihe, die deutsch lautet „Jesus Christus, Gottes Sohn, Heiland“). Stier und Engel sind die Symbolfiguren der Evangelisten Lukas und Matthäus. „wind“ mag erinnern an das πνενμα θεον, den Atem oder Odem Gottes, der des Menschen Leben ist. Und zwischen Engel und Windatem also die Taube, die den Heiligen Geist meint.
Ein Bild-Gedicht. Ein Gedicht-Bild. Elemente vorführend, die immer wieder in immer wechselnden Konfigurationen die Bilder Chagalls, die Gedichte Elisabeth Borchers’ bewegen. Archaische Chiffren, also Chiffren der Zeitlosigkeit. Traumsignale, Märchengesten, heilige Siglen. Träger von Sinn und Bedeutung, doch in ihrer Zuordnung nicht notwendig eine Geschichte bündig erzählend. Hier ist traumdeutlich versammelt, was des Menschen Leben bewegt und rahmt: die vier Elemente; und der Atem des Göttlichen; und der Flügelschlag des Friedens; die Blumen der Erde und der Engel der Verkündigung; die lebenzeugende Nacht, die Schlaf sein kann und Tod – dazu das Feuer, das wärmende und das vernichtende. Wenn Liebe, wie wir vom Apostel Paulus wissen, größer ist denn Glaube und Hoffnung, dann ist hier das liebebrennende Feuer wohl auch größer als die andern Elemente. Bedroht es, vor der Stadt, die Stadt? Bedrohen die Liebenden die Stadt? Weil die Liebe zweier Liebender auch eine ordnungsprengende Gewalt ist? Fragen. Sie zu stellen, wurde ein Bild gemalt. Sie weiterzufragen, ein Gedicht gemacht.
Dabei hat – „Dichter sind Könige und können einen Bastard legitimieren“ (Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf) – Elisabeth Borchers von der Autonomie ihrer Kunst gegenüber dem auslösenden Kunstwerk souverän Gebrauch gemacht. Sie hat anders weitergedacht, weitergedichtet, weitergefragt als der Maler. Der ja zwar das glühende Rot über die Hälfte fast des Bildes ausbreitete, ihm aber nirgends die Züge des Feuers einzeichnete. Und der, das wurde bisher verschwiegen, dem Litho einen Namen gab, und keinen willkürlichen. Es heißt „Die Bastille“. Damit ist ein konkreter Ort bezeichnet, und zugleich ist jene Siegessäule, die man auch anderwärts, z.B. in Berlin, hätte wiedererkennen können, präzis bestimmt.
So wie Chagall es gemalt hat, weisen freilich die Konturen des Bauwerks, weist der es tänzelnd krönende geflügelte Engel mit dem hoch erhobenen fackeltragenden Arm das Sujet nicht zwingend der „Place de la Bastille“ zu. Der Titel indes, so wie Chagall ihn dem Bild mitgegeben, weist diesem zwingend die „Place de la Bastille“ zu, jene Säule, deren mehrfach gestufte Basis der Maler zu einem einzigen steinernen Rondell vereinfacht (aber nicht entstellt) hat. Es handelt sich also um die „Julisäule“ von Alavoine und Duc, errichtet 1841 zur Erinnerung an die Opfer des Aufstandes vom Juli 1830 an eben jener Stelle, wo einst das am 14. Juli 1789 gestürmte Bastille-Gefängnis stand (das dann 1790 als Symbol verhaßter Zwingherrschaft geschleift wurde).
Hat Chagall in der Konfiguration der Elementarwesen, der Elementarfarben mit jenem Revolutionsmal etwas aussagen wollen über das Leben und Sterben und Handeln der Menschen? Hat er andeuten wollen, wie Liebe gedeiht im Schutz der von Gewalt befreienden Gewalt-Taten? Wie das Blau des Wassers, das Rot des Feuers, wie sich Stern und Blume und Engel und Taube als „ewige“ Zeichen und Gesten um die Zeitlichkeit des menschlichen Befreiungsaktes versammeln und ihn in ihren Schutz nehmen, mit ihm die Liebe der Liebenden?
Müßige Fragen. Der Maler hat sie nicht anders beantwortet als mit seinem Bild. Der Dichter hat andere gestellt.
VI
Die antike Poetik unterrichtete auch in der Kunst der ,descriptio‘, der Beschreibung etwa einer Gestalt von Kopf bis Fuß. Der Manierismus der frühen Neuzeit brillierte in einer den Wappenmalern abgeguckten Technik mit sogenannten ,blasons‘, zierlichen die weibliche Schönheit nachmalenden Versen. Bildbeschreibung: dergleichen verlangte die Schule von uns, damit wir uns übten im genauen Hinsehen und in der sprachlichen Übertragung des Gesehenen auf die entsprechende, eben wörtliche Weise.
Hier geht es um anderes. Wenn Conrad Ferdinand Meyer die himmelauffahrende Madonna Tizians, wenn Rilke den archaischen Torso Apollons ,beschreibt‘, und wenn Elisabeth Borchers Verse macht „Auf ein Bild von Klee namens Fischzauber“ (Gedichte, 1976, S. 94), dann ist nicht der wörtliche Nachvollzug malerischer Formen und Figurationen gemeint. Die gesetzmäßigen Grenzen der einen Kunstübung von der anderen zu sondern, hat uns ein für allemal Lessing gelehrt. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, den Gegenstand der einen Kunst zum Gegenstand auch der anderen zu wählen und ihn, den auf solche Weise verfremdeten, auf neue Weise vertraut, verstehbar, verstanden zu machen.
Wer ein Bild, ein gemaltes, in Worten nachvollziehen will, wird notwendigerweise einen Verlust in Kauf nehmen müssen. Es kann indes geschehen, daß ein solches Verfahren autonom wird und die Minderung der Anschaulichkeit in Mehrung der Anschauung umwandelt. „chagall“ ist ein Bild von Chagall von Elisabeth Borchers.
P. S.: Fritz Schönborn, der seine höchst merkwürdigen „Anweisungen zum Bestimmen von Stilblüten, poetischem Kraut und Unkraut“ zusammengefaßt hat unter dem Titel Deutsche Dichterflora, bucht auch das zarte „Wiesenborchers“ (das er weiter unter den Namen „Märchenhold, Traumkissen, Sanfterl“ kennt, S. 128f.). Die Beschreibung dieses Märchenkrautes ruft als Zeugen auch den Dichter Rainer Maria Rilke zur Hilfe: Schrieb doch dieser „einmal einer Freundin, die seltsamerweise nicht genannt sein will: ,Das Fragile des Wiesenborchers erinnert an bestimmte Soufflees. Ein kalter Anhauch läßt ihn erschauern und verwelken – wie es mit Gedichten geschieht, die nicht zum Verstehen geschrieben sind‘“. – Ich danke Dr. Katharina Schmidt, Baden-Baden, für ihre Hilfe bei der Verifizierung der Chagall-Vorlage und Dr. Joachim Nettelbeck für seine Hilfe bei der Verifizierung der Örtlichkeit.
1
Peter Wapnewski, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982
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