Peter Waterhouse: Die Nicht-Anschauung

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Waterhouse: Die Nicht-Anschauung

Waterhouse-Die Nicht-Anschauung

WEIDE

Hart- oder Weichholz?
Es ist leicht, irritierend,
Nicht kleinzellig, langlebig
Wie Eiche, gleicht das aus
Durch trotzige drahtige Zähheit
Sämtlicher Fasern.
Vom glatten Geäst
Prallt mein Beil ab;
Meine Handsäge sträubt sich
Vor dem trügenden Tod
Gegen den, trickreich, Weide sich wehrt.

Man nehme ein Zweiglein, das schlummert
Oder abbrach im Sturm,
Steck es in feuchte Erde
Und es wird ein Baum.
Lasse den Stamm, den gefallenen
Oder gefällten, liegen
Über den Bach hin,
Und er wird leben,
Sprießen aus hohlem
Verfaulendem Stumpf oder
Verwurzeln den verlorenen Arm.

Man hacke das trockene Kleinholz,
Zünde es an: es spuckt.

Michael Hamburger

Wer ist das Ich dieses Gedichts; gibt es ichlose Erkentnis? Zu Erkenntnis scheint es hier durch Berührung zu kommen und mit der Hand vielleicht. Die einleitende Frage in der ersten Zeile ist wie eine mit der Hand gestellte Frage, nicht eine Frage des Ichs. Wer wird die Antwort geben? Die Hand? Der Baum? Wird die Antwort eine Hand-plus-Baum-Antwort sein? Wird die Antwort eine Einheit von Hand und Baum sein? Wird die Antwort sein, daß es kein Oder gibt? Ist hier die eigentliche Frage die nach dem Oder und Zweierlei von hart und weich? Und lautet die leise Antwort: Es gibt kein Oder? Ist in dem Hart oder Weich auch das Hart des Holzes und das Weich der Hand und Haut? Ist das Oder ein Und?
‚Engrained‘ oder verkapselt in der nächsten Zeile erklingt das Ich, nicht das erkennende Ich, sondern das Ein-Ich. Es erklingt in dem Wort ‚light‘ – i oder I −, es versteckt sich in dem Wort leicht – ich (im deutschen Gedicht auch schon in dem Wort Weichholz – weich, ich). ‚Light‘ ist Ort der Vereinigung, das Gewicht des Holzes verbindet sich mit der Hand, die das Gewicht trägt. Das Wort leicht sagt ebensoviel über das Holz wie über die Hand, die das Holz hält. Auch die Bewegung, Erregung, Überraschung, die von der Leichtigkeit ausgelöst wird, ist zugleich ein Ereignis der Hand. Die Hand ist irritiert, ist in diesem Augenblick baumhaft, ist fast eine Weidenhand. Sobald aber das stärkere Ich aktiv wird, treten Baum und Gärtner auseinander, das Ich verliert beinahe seine Hände und hat an ihrer Stelle ein Beil und eine Handsäge. Liest man hier ganz genau oder übergenau, so findet man bei Beil und Säge den Zusatz ‚mein‘. Die Hand aber, die das Holz berührt hat und gehalten hat, der sogenannte Teil des menschlichen Körpers, ist nicht ‚mein‘, und die Hand und der Arm bilden keine Extremität, höchstens eine Intimität gemeinsam mit der Weide.
Extremität und ‚mein‘, das sind die Säge und das Beil. Ihnen legt sich der Baum nicht in die Hand, vor ihnen würde der Baum davonlaufen, könnte er so laufen wie alle Tiere oder fliegen. Das Geäst macht sich so glatt und unzugänglich, daß das Beil von dem Holz zurückspringt, zurückgewiesen wird. Der Baum kann nicht davonlaufen, er versucht das Beil zum Davonlaufen zu bringen. Und er versucht, die Handsäge zu verbieten. Jetzt ist ein ganz anderes Handgemenge ausgebrochen.
Welches Ich in der zweiten Strophe? Personenlos und anonym ist jede Zeile. Unpersönlich wird ein Zweiglein der Weide gepflückt, wieder in die Hand genommen und dann in die feuchte Erde gesteckt, wo daraus ein Baum wächst, im Grunde sofort, fast blitzschnell, wenn man es nicht in menschlichen Zeitmaßen ausdrückt. Sofort ist da ein Baum. Ein kleiner, ein großer?
Noch weniger menschliche Aktivität in der nächsten Zeile: Man lasse den Stamm, ob er gefällt worden ist oder gefallen, liegen. Was wird aus diesem Liegenlassen? „Leave it sprawling – and it lives on.“ Also aus ‚leave‘ wird ‚live‘. Man lasse ihn liegen – und er wird leben. Das Liegenlassen, die loslassende Hand ist wie der Beginn von Leben.
Und am Ende des Gedichts, wenn das Holz tot ist? Da ist der Gärtner ganz einverstanden mit dem Baum, mit ihm verbunden, sogar wieder mit der Hand verbunden, die das trockene Holz klein hackt und dann anzündet: Das brennende Holz beginnt zu spucken, und der Gärtner schätzt die Vehemenz, die Verachtung. Das Gedicht selbst endet vehement, verbindet sich im letzten Wort mit dem Baum, tut das, was der Baum tut: dasselbe Geräusch. …

Peter Waterhouse, Aus: Paris 1276

 

 

 

Eine essayistische Annäherung an den großen Lyriker

− Peter Waterhouse denkt nach Abschluss seiner Übersetzung und umfassenden Edition ausgewählter Texte Michael Hamburgers über die zentralen Motive in dessen Werk nach. −

Peter Waterhouse hat sich über Jahre hinweg eingehend und wohl am umfassendsten mit dem Werk des mittlerweile 81-jährigen englischen Lyrikers deutscher Abstammung auseinander gesetzt. In sieben Bänden hat Waterhouse seine Lesart der Grundidee in Michael Hamburgers Werk präsentiert. Der Topos des Gärtners kann als zentrale Metapher verstanden werden: Das Nachdenken über das Werden und Vergehen von Pflanzen und Tieren ist ein Nachdenken über den Menschen und das gesellschaftliche Sein, über sein Bemühen, jeglicher Macht zu entrinnen; es ist das Erkennen der Grausamkeit im Kreislauf der Natur.

„Es gibt in Hamburgers Gedichten eine Untrennbarkeit, die dem Augensinn fast entgegen steht: Sehen scheint eine Grenze zu ziehen, Sehen klassifiziert, trennt Eigenes und Anderes, ist wie eine Umzingelung. Sehen vielleicht ein Gefängnis.“ (Zitat aus dem Buch)

Folio Verlag, Ankündigung, 2005

 

Sprache hat das letzte Wort

− Peter Waterhouse denkt Michael Hamburger deutsch weiter. −

Wie kein anderer hat sich hierzulande der österreichische Lyriker und Essayist Peter Waterhouse für den englischen Lyriker (und Essayisten) Michael Hamburger eingesetzt. Inzwischen sind unter der Regie des Übersetzers acht Bände mit Hamburgers Werken im Folio Verlag erschienen, darunter Traumgedichte, Baumgedichte und Todesgedichte. Nicht zuletzt wurde dort auch Hamburgers immer noch äußerst nützliche Studie über die moderne Lyrik unter dem Titel Wahrheit und Poesie wiederaufgelegt. Die Edition ist unspektakulär geblieben, etwas für Kritiker und die wenigen Lyrikliebhaber unserer Landstriche; aber man kann sie als den Boden einer anderen Wahrnehmung ansehen, Humus für ein anderes Sehen.
Nicht zu Unrecht ist hier die gärtnerische Metaphorik angebracht: kaum ein heutiger Dichter, der sich so nah den Pflanzen und Tieren fühlte, den Kreaturen überhaupt. Viele Gedichte Hamburgers sind Bulletins aus seinem wilden Garten, Verfallschroniken, Hoffnungsschimmer oder Erinnerungen an Wurzelwerk und Saatgut, die über nationale Grenzen hinweg ihren Weg in die Erde von Suffolk fanden. Aber Hamburger beschwört nicht, wie es vielleicht Wilhelm Lehmann getan hätte, einen magischen Naturzusammenhang, und nur selten erzählt er Bruchstücke einer Geschichte. Peter Waterhouse, der in diesem neuen Band mit Hamburgers Gedichten seine eigenen poetologischen Reflexionen vorlegt, wie sie sich an den Texten des Engländers entzünden, spricht gleich im Titel von einer negativen Position: Nichtanschauung. Dabei spürt er den unsichtbaren, kaum hörbaren Wortketten, den unterirdischen Suggestionen der Sprache nach, sozusagen ihren etymologischen Hexenringen. Es geht ihm aber nicht um Etymologie, sondern um das un- und vorbewußte Aufnehmen von Sprache, und für ein solches Bewußtwerden scheint die Lyrik eines Autors besonders geeignet, der in seine Sprache nicht als Muttersprache hineinwuchs. Hamburger war neun Jahre alt, als er 1933 mit seinen jüdischen Eltern nach Großbritannien emigrierte, wo er mit der Zeit zu einem bekannten Übersetzer und Lyriker heranreifte. Aber das „Zwischen den Sprachen“ (so auch der Titel einer Essaysammlung) blieb sein Standort, an dem es keinen Stand gab. Sein Interpret Waterhouse, selbst zwischen den oder vielmehr mit zwei Sprachen aufgewachsen, kann dies besser als andere nachvollziehen. Kann jemand, der in einer Sprache lebt, etwa solche Sprünge machen wie den von „blossom“ (Blüte) zu „Entblößung“ oder „loss“ (Verlust)? Um den Wintereisenhut in Hamburgers gleichnamigem Gedicht entdeckt er ein ganzes akustisches Feld, das eine Zeit des Davor, aber auch ein Zustand des „Ver-„ prägt, sozusagen ein Leben im Präfix.
Waterhouse begreift Hamburgers Poesie als Schule einer Wahrnehmung, für die wir noch keinen Begriff haben. Sie beginnt mit einem Verlust, einem Abwerfen von Kategorien, einer Entblößung. Ohne daß dieses Wort fällt, bewegt sich Waterhouse mit seinen Interpretationen in einer mystischen Welt. Die Verhältnisse von Ich und Welt, von Subjekt, Objekt und Wahrnehmung sind Ichvergessenheiten nah, wie sie Meister Eckhart gepredigt hat. Annäherungen heißt immer auch, neue Worte zu erfinden, die das Andersartige ausdrücken sollen.
Das war nicht nur Heideggers Problem, es ist auch für Waterhouse eines. In Hamburgers Gedicht „Untrennbar“, das zu den „Todesgedichten“ gehört, macht er ein Sehen aus, das nicht mehr als einzelner Blick gilt, sondern in dem das ganze Feld sieht, denn Sehen sei Gesehenwerden. So kommen wir zum Traum, der vielleicht ein solches Feld ist, ein „Raum aus Seh“. Manchmal hat man den Eindruck, daß sich der Text-Waterhouse verselbständigt, fortgetragen vom Schwung der eigenen Entdeckungen, denen gegenüber die lyrischen Texte bescheiden bei sich bleiben, bei alltäglichen Beobachtungen und schmerzhaften Erfahrungen. Aber das soll ja vorkommen, wenn englische Gedichte deutsch weitergedacht werden. Man wird bei der Lektüre jedenfalls aufmerksamer gegenüber der eigenen Sprache, ihrem unbewußten Wurzel- und ihrem schillernden Laubwerk.
Auf sehr problematisches Terrain wagt sich Waterhouse, nicht anders als Hamburger, wenn er dessen Gedicht über Eichmann einer ebensolchen Wahrnehmungsprobe unterzieht. 1964 hatte Hamburger zur Zeit des Jerusalemer Eichmann-Prozesses ein langes Gedicht geschrieben, in dem er die Gefangennahme und Verurteilung des Massenmörders ablehnte. „In einer kalten Jahreszeit“ rief damals Empörung bei Lesern und Kritikern hervor, doch Waterhouse lädt uns ein, tiefer in das Gedicht zu schauen. Es ist eine Aussage der Alternativlosigkeit, wie er schreibt, eine Meditation über die Sprache, die diese Massenmorde ermöglichte und rechtfertigte, die einen „Schutzwall“ bildete gegenüber aller Menschlichkeit. Eichmann und sein Apparat ermordeten auch Hamburgers Großmutter, die der Familie nicht in die Emigration gefolgt war.
In seinen späten Gedichten ist der Tod immer präsent, und das Gespräch mit den Toten gehört geradezu zur „Muse des Alters“, wie ein Gedicht lautet. Der Wirklichkeit wird nach und nach ihre Haut abgezogen, ein Vorgang, mit dem der Mensch sich auf den Tod vorbereitet. Er ist auch bekannt als Vergessen: „Ich fing an, Amnesia, dich zu lieben.“ So sind viele Gedichte, wie präzis auch immer sie Naturphänomene, Blumen, Kräuter oder Bäume einfangen, Texte zum Verlernen dessen, was wir einst alles so gelernt haben; das Ende aller Kategorien ist in Sicht.

Elmar Schenkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.7.2006

Deutsch-englische Freundschaft

− Der Dichter und Übersetzer Peter Waterhouse überträgt seit langem die Gedichte Michael Hamburgers ins Deutsche – und entwickelt nun eine Poetik daraus. −

Die ersten Gedichte von Michael Hamburger, übersetzt von Peter Waterhouse, erschienen 1994 im österreichischen Folio Verlag. Fünf weitere Bände mit Gedichten plus ein Band Wahrheit und Poesie mit Essays Hamburgers zur modernen Poesie folgten seitdem. Waterhouse, selbst Dichter, hat in diesen zehn Jahren nicht nur die Poesie des Engländers deutscher Herkunft übersetzt, sondern seine Gedichte auch in verdeutlichende Zusammenhänge gebracht. Abgerundet wird die Werkausgabe jetzt mit einem siebten Band, in dem Waterhouse seine Erfahrungen mit dem dichterischen Werk Hamburgers summiert. Indem er über dessen Poesie und über seine übersetzerische Tätigkeit schreibt, entsteht nebenbei eine eigene Poetik des österreichischen Dichters und Essayisten.
Im Titel des jüngsten Bandes, Die Nicht-Anschauung, irritiert zunächst die Negation, sie erklärt sich aber schnell aus dem Inhalt. Waterhouse beschäftigt sich vor allem mit dem Aspekt des Sehens, der für Hamburgers Gedichte grundlegend ist, eine „Art von vergessendem Sehen, das seine Freude nicht wie Humboldt aus dem Erkennen und Wissen erfährt, sondern im Nichterkennen die Dinge sein lässt, fast amorph“. Namen und Worte stellen sich erst im Vergessen ein, nicht, wie man meinen möchte, durch die Erinnerung. Der Ballon dieser rückwärts gewandten Betrachtung ist an den Ballast von Fakten, Daten, Bildern, Geschehnissen gebunden; er ist mit diesen Dingen fest verknüpft. Der Begriff Erinnerung bezieht sich nicht nur auf das private Gedächtnis einer einzelnen Person, sondern gewissermaßen auf den historischen Hergang von Kultur und Sprache. Das schwerelose Aufsteigen und Schweben der Dinge geschieht durch Vergessen, Erinnerung zeigt lediglich einen Mangel an.
So wird auch der Titel verständlich, es gibt in den Gedichten von Hamburger keinen Moment der Anschauung. Kein wie auch immer vom Menschen katalogisiertes, bewertetes, in benennende Worte geschiedenes Sehen. Es gibt nur ein „Schauen ins Unklassifizierte, Ungeschiedene, Unbekannte. Schauen wie ohne Begriff, ohne Vorbild.“ Dieses Sehen lässt die Dinge in einer – fast möchte man sagen: humanen – Gleichheit agieren, die der Mensch nicht kennt. Erst in dieser Ausgewogenheit entsteht die eigentliche Bewegung, beginnt ein ungehemmter Fluss und ein permanenter, unblockierter Austausch. Die Welt ähnelt, so Waterhouse, in ihrer Art einem langsamen, unentwegt ablaufenden Traum. Sie befindet sich in einem sogenannten „Vorzustand“ oder „Vorgebiet“, noch unterhalb oder außerhalb von Sprache. Die Gussform des Wortes liegt unfertig im Rohzustand, da noch nichts eindeutig getrennt, herausgehoben und fixiert, also festgelegt werden kann. Der erste ins deutsche übersetzte Gedichtband Hamburgers trug deshalb auch den Titel Die Erde in ihrem langen langsamen Traum.

Dem Traumzustand genähert
Die Nicht-Anschauung verbindet sich mit einem gewissen Maß an Demut im Sinn von Hingebung, einer Haltung, die die Zivilisation immer weniger kennt. Der menschlichen Kultur obliegt zunehmend der tätige Zugriff und die einwirkende Veränderung. Deshalb wird die Geschichte der Zivilisation immer mehr mit jenem Besitz angefüllt, den der zielgerichtete, messende, wertende Blick angeschleppt hat, ohne dass man diesen Ballast wieder loswird.
Das poetische, sich dem Traumzustand nähernde Sehen ist kein passives Befinden. Dieses Sehen, eben weil es kein obligates ist, setzt Waterhouse einer aktiven Handlung gleich, man erreicht diesen Zustand allein durch fortwährendes Loslassen, Ent-Binden. Es ist praktisch ein visueller Lauf gegen die übliche Sehrichtung. Als müsste man einen Keller voller Begriffe, Bilder, Zusammenhänge, Verkettungen und Wertungen entrümpeln, müsste den verinnerlichten Staudamm beiseite schieben, der den ungehinderten Fluss, der außen geschieht, im Inneren nicht widerspiegeln kann.
Mit diesem enthemmten Wahrnehmen verändert sich schließlich auch die Sprache selbst. Sie wird ebenfalls wandelbarer, fließender und biegsamer. Die haarfeinen Übergänge und Veränderungen, die Sprechen in poetisches Sprechen übergleiten lässt, bemerkt ein Übersetzer in seiner Arbeit am einzelnen Wort besonders, zumal wenn es noch einer ist, der eine ähnliche bilinguale Biographie zwischen englischer und deutscher Sprache wie der Autor aufweist und prädestiniert für Zwischenräume und -klänge ist.
So macht Waterhouse Nuancen im Denken Hamburgers sichtbar, wenn er mit dem Wort Sehen nicht das Wort Beobachten, sondern das Wort Achtgeben assoziiert, das statt des Bewachens etwas Gebendes, vielleicht auch Fürsorgliches anspricht. In „Indivisible“, einem Gedichttitel, drückt sich „Untrennbarkeit aus, aber in dem Wort ist auch die Unsichtbarkeit zu vernehmen, ‚invisible‘“. Mit diesen Überlegungen verdeutlicht Waterhouse, dass für Hamburger das Sehen, die Sehkraft, vision, sich stets in gefährlicher Nähe zum Trennenden, zur Teilung, division, befindet. Ein solches Sehen beseitigt ein vorhandenes Gleichgewicht.
Hinterfragt wird in Waterhouses Analyse auch der Begriff der Wahrheit, der in diesem poetischen Kontext kontraproduktiv zum Wort Wirklichkeit gesetzt wird, ja „geradezu die Blockade vor der Wirklichkeit“ ist. Denn die Wahrheit ist wie das Sehen vorherbestimmt. Sie unterliegt einem moralischen Impetus, der sich als Maß verschieden reguliert. Nur so lässt sich begreifen, warum die Sprache eines Adolf Eichmann „eine unübersetzbare Sprache, eine Sprache der Identität“ ist, die „nicht an die Realität rühren kann und keine Verbindung zum anderen aufnehmen“. Nur so wird vorstellbar, warum ein Mörder „mit Worten unerreichbar in seinem Wortgefängnis“ bleibt, wie Michael Hamburger in seinem Gedicht „In einer kalten Jahreszeit“ schreibt. Biografischer Hintergrund ist, dass Hamburgers Großmutter in einem deutschen Konzentrationslager umkam; die Familie kennt bis heute nicht die genauen Todesumstände.

Cornelia Jentzsch, Frankfurter Rundschau, 30.11.2005

Die klassische Frage,

wie ein visuelles Bild in ein sprachliches umzusetzen sei, hat bei Vertretern der mittleren Generation der deutschsprachigen Lyriker eine ungeahnte Wiederbelebung erfahren. Einer der renommiertesten Vertreter, der Wiener Lyriker Peter Waterhouse, gibt in seinem „Versuch über die Dichtung von Michael Hamburger“ eine scheinbar paradoxe Antwort: durch „die Nicht-Anschauung“. Die vier Essays, subtile Beispiele von close reading, die Waterhouse’ viele Jahre währende Übersetzung der Lyrik von Michael Hamburger begleiten, führen höchst anschaulich in die Tradition der abendländischen Poesie, von Sappho über Keats und Hölderlin bis zu Celan. Übersetzen versteht Waterhouse als eine „Art und Weise, die Unwahrheiten zu finden“. Eine nicht ganz unwichtige Aussage, definiert er doch Lyrik wie folgt: „Gedichte bezeichnen unwahre Punkte oder vielleicht ganze Bereiche von Unwahrheit.“ Wichtigstes Medium dieses Bereiches ist der Klang der Worte – die repräsentative Auswahl von Gedichten, die auf der beigelegten CD zu hören sind, werden von Hamburger selbst gelesen.

Erich Klein, Falter, 28.9.2005

Sachbuch

Ein seltener Fall: Dass sich ein Lyriker so hingebungsvoll dem Werk eines anderen zeitgenössischen Dichters widmet. Sieben Bände Michael Hamburgers hat der 1956 in Berlin geborene, in Deutschland und Österreich aufgewachsene und heute in England lebende Autor Peter Waterhouse seit 1994 für den Folio Verlag ins Deutsche übertragen. In diesem Band nun zieht er die poetische Summe seiner Übersetzungsarbeit. Ein faszinierender Gang durch den Wort-Kosmos Hamburgers, mit vielen eigenwilligen Beobachtungen zur „nicht-akkusativischen Welt“ dieses großen europäischen Dichters – die allerdings viel auch über den Autor und Übersetzer Peter Waterhouse selber verraten, einen sanften Sezierer, ein Genie des spröden Eigensinns.

Die Zeit, 11.8.2005

Zwischensprachlich

− Versuch über Michael Hamburger. −

Zum Abschluss und als Ergänzung der mehrbändigen Übersetzung von Michael Hamburgers Dichtung hat Peter Waterhouse ein sehr lesenswertes Essaybuch zusammengestellt, das einige wesentliche Aspekte im Werk des Lyrikers überdenkt. Waterhouse konzentriert sich zunächst auf klangliche und etymologische Beobachtungen, die die Struktur der Gedichte von innen heraus, quasi aus ihren kleinsten Elementen, erhellen. Durch dieses Verfahren gelingt es ihm, pointiert auf die unaufdringliche Modernität von Hamburgers Lyrik hinzuweisen. Sehen und Nicht-Anschauung, Namengebung und Vergessen, Wahrheit und Traum sind keine eindeutigen Gegensätze, sondern Koordinaten, zwischen denen sich die Wechselbeziehungen der Vorläufigkeit und Offenheit abspielen. Hamburger und Waterhouse verbindet sowohl die Zweisprachigkeit als auch ihre Tätigkeit als Übersetzer, und die Essays profitieren von dieser Erfahrung: Denn der heikle Bereich zwischen den Sprachen, in dem Bedeutungen verloren gehen oder zu neuem Sinn umgewandelt werden können, sensibilisiert für die genannten Unbestimmtheiten. Die Übertragung von einer Sprache in die andere wiederholt im Grunde, was Hamburgers Texte oft verweigern, nämlich eine harmonische (Auf-)Lösung vermeintlicher Gegensätze mittels Worten. Sechzehn Gedichte, vor allem das lange „Vielzahl der Blicke, wechselndes Licht“, runden Waterhouse Essays ab und schliessen zudem ein paar Lücken, die seinerzeit auch die zwei umfänglichen Bände des Hanser-Verlags offen liessen. Auf der beiliegenden CD liest Michael Hamburger sonor und mit altersgefärbter Stimme. Dieses persönliche Dokument betont nochmals nachdrücklich die ernste Grösse des englischen Dichter, der in Peter Waterhouse, trotz dessen gelegentlichen Eigenwilligkeiten, einen adäquaten Übersetzer gefunden hat.

bcn, Neue Zürcher Zeitung, 29.6.2005

Mit dem Traum sehen

Wenn Peter Waterhouse seine Versuche über die Dichtung von Michael Hamburger herausgibt, so sind das Ergebnisse langjähriger Arbeit, Aufsätze und Reden. Die Ansprache zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Übersetzer an Michael Hamburger in Wien 1988, die Rede „Die Nicht-Anschauung“ zu dessen 80. Geburtstag 2004 in Schwalenberg. Beide sind Eckpunkte der Betrachtung.
Michael Hamburger und Peter Waterhouse sind beide Engländer – durch den Zweiten Weltkrieg, aber unter jeweils verschiedenen Voraussetzungen. Hamburger wurde am 22.3.1924 als deutscher Jude in Berlin geboren und durch die Emigration der Familie 1933 nach Großbritannien zum Englischen Dichter und Übersetzer. Waterhouse wurde am 24.3.1956 als Sohn eines englischen Geheimdienstoffiziers und einer österreichischen Mutter als Engländer in Berlin geboren. Er lebt heute als Lyriker und Übersetzer in Wien. Dieser Essayband soll nach zehn Jahren den Abschluss seiner Übersetzungsarbeit und Herausgabe von Hamburgers Gedichten bilden. Er hat dieses Buch überschrieben: Die Nicht-Anschauung. Das mag verwundern, denn Michael Hamburger bezeichnet sich selbst als gegenstandsbezogenen Dichter. Gegen-stand bedeutet eigentlich ein Gegenüberstehen von Subjekt und Objekt, dem Betrachter und dem Betrachteten.
Und schaut man sich die Titel der Waterhouse’schen Überstzungen der sieben Gedichtbände an, so fällt eine Mischung mit dem Traum auf. Die Erde in ihrem langen langsamen Traum (1994), Traumgedichte (1998), Baumgedichte (1997), Todesgedichte (1996), Das Überleben der Erde (1999), In einer kalten Jahreszeit (2000), Aus einem Tagebuch der Nicht-Ereignisse (2001). Es vermischt sich das Konkrete mit dem Traum. Wobei in Hamburgers Traumgedichten die Träume konkret sind.
In der Laudatio tritt Michael Hamburger hervor als jemand, der von sich selbst zurücktritt. „Der nächste und schwierige Schritt ist, deine Person zu vertreiben. Verlege sie. Verliere sie. Vergesse sie.“ In seinem englischen Essay zitiert Waterhouse Hugo von Hofmannsthal von 1903: „Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Innerstes hinabsteigen; draußen sind wir zu finden, draußen.“ Zur Unterstreichung des Gesagten: „Wie der Wesenslose Regenbogen spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen unser Selbst nicht: Von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.“
Das Innere verbindet sich mit dem Äußeren. Diesem Phänomen geht Peter Waterhouse nach und entdeckt in einem Essay Gustav Landauers Skepsis und Mystik von 1903 das Motto einer Schrift von 1276: „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Subjekt, das erkennt, und dem Objekt, das erkannt wird.“ Das Erkennen ist also ein Prozess des Verbindens, des Schmelzens der Gegensätze, des Eins-Werdens. In seinem Vortrag zum 80. Geburtstag sagt Waterhouse: „Der ganze Traumraum ist sehende Substanz, kein visueller Raum“, ein Raum aus Sehen. „Der Baum in einem Traum ist kein sichtbares, schaubares Objekt, sondern eine Art von Leuchtstoff … und selbst ein Auge oder augenhaft. Der Traum schaut und er ist ein Schauraum.“
Hamburger sagt aus seiner eigenen Kindheit, dass er oft nicht wusste, ob er wachte oder träumte, und der Vater sich wunderte, dass er „zu jeder Wiedergabe des Geschehenen mit Stift oder Pinsel ganz unfähig blieb.“
Und das, obwohl er sich schon früh mit Naturdingen umgab und sie liebte. Waterhouse arbeitet hier etwas heraus, was man nennen könnte ‚das vergessende Sehen‘, das nicht wiedererkennt und nicht zum Wissen führt, sondern zum Lassen. Folgt man dem Spiel Waterhousens mit den englischen Wörtern: „eye, I, die, light“ („Das Auge, das Ich, das Sterben, das Licht“) aus dem Gedicht „Indivisible/Untrennbar“, kann man den Eindruck gewinnen, dass das äußere Auge hineinstirbt in das innere Auge, um eins zu werden mit ihm. Er fragt: „Was ist ein Auge? Wird in diesen Gedichten vielleicht alles zu Augen?“, und er lässt die Augen mit dem Licht verschmelzen. „Nichts ist einsam in der Welt, und alles kommt sich entgegen.“ (Clemens Brentano) Als gäbe es in der Welt nur Verwandtes, Zusammengehörendes, sich Gleichendes. Das Auge ist in diesem Fall kein trennendes, sondern das Auge trifft auf Sehendes. Sehen ist ein Gesehen-Werden. Das Sehen kein Scheidendes, sondern entscheidend.

Das Buch enthält Gedichte von Michael Hamburger und eine Audio-CD mit von ihm selbst gesprochenen englischen Gedichten. Die deutschen Übersetzungen liest Iain Galbraith, ein schottischer Germanist und Freund Hamburgers.

Brigitte Espenlaub, Die Drei, Juli 2006

 

 

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Peter Waterhouse

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Waterhouse“.

Peter Waterhouse liest beim Tanz um das goldene Nilpferd am 10.3.2012 im Klagenfurter Ensemble.

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