Peter Waterhouse: Kieselsteinplan. Für die unsichtbare Universität

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Waterhouse: Kieselsteinplan. Für die unsichtbare Universität

Waterhouse/Zechner-Kieselsteinplan. Für die unsichtbare Universität

OFFENE STADT

Ebenso die Stadt grenzt an eine Stille, an die Toten,
aaaaaan
das Zu-Erinnernde, sie erwacht in der Morgenstunde
und fragt danach, wo sie ist und wie gekommen, und
aaaaadie
Antwort hier sind die ebenen Felder oder ferneren
Punkte oder Stadtrandkanäle; du bist hier bei uns, wir
sind bei dir, du bist nicht bei dir, wir sind manchmal
aaaaaun-
sichtbar, du bist nicht unsichtbar, Linien verbinden uns
miteinander, Worte, Vergessen, Augenmaß, Bücher,
Stimmen, topographische Karten, Schnee, Jahreszeiten
und der Wind. Dieses Frühlicht ist nicht festzuhalten,
auch die Bäume nicht, auch die größere Schnellstraße
nicht. Du kommst dir nicht entgegen, ich komme dir ent-
gegen, man müßte sagen: fremdsprachlich. Nicht mich
übersetze, übersetz dich.

 

 

 

Das Wohnhaus, die offene Stadt und das Licht –

in WATERHOUSE’ Texten erhalten die Dinge des Alltags Transparenz.

Peter Waterhouse, 1956 in Berlin geboren und in Wien lebend, hat sich durch seine bisherigen Gedichtbände einen bedeutenden Namen gemacht. „menz“ (1984) und „passim“ (1986) haben in die gängige Auffassung von Lyrik (was immer die sei) entschieden eingegriffen. Auch als Prosaist, Dramatiker und Übersetzer ist er hervorgetreten, hat dem deutschlesenden Publikum u.a. Andrea Zanzotto und Biagio Marin erschlossen. In die neugegründete Edition Galrev zu Ost-Berlin, die durchaus viel Stallgeruch hat (was kein Mief ist!), bringt er sozusagen internationale Allüre mit ein. Ob sein Buch das wahrmachen kann?
Zunächst lehrt es die biederen Ostdeutschen, die 128 Seiten für ein einziges Gedichtbuch übrig haben, eine westliche Verwertungspraxis: man kommt auch mit einem Achtel Text aus. Damit das ein Buch ergibt, läßt man hier halt jede zweite Seite leer. Und die Textseite enthält manchmal nur einen Satz, etwa den nicht eben geistreichen Slogan „Europäer aller Länder, vereinigt Euch!“ Hier und da erscheint auf der Leerseite ein schwarzfiguriges, zumeist etwas hingekleckstes Zeichen. „Zeichnungen von Johanes Zechner“ belehrt uns der Umschlag, „Auszüge aus dem geteilten Ornament“, teilt das Impressum mit. Eine ganz große Hilfe dürfte so ein Beinahe-Nepp-Buch für den neugegründeten Verlag kaum sein, auch wenn es einige gewohnt intensive und faszinierende Texte darin gibt.
Waterhouse will die Wörter aus ihrer Verweisfunktion gelöst haben, das (poetische) Sprechen findet sich nicht der Wirklichkeit gegenüber. Sein zweiter Text beginnt: „Gestern, sekundenlang, ging ich den Wirklichkeitsweg. Wo führt der entlang? Und ist meine Stimme nicht hier ganz nah?“ Charakteristisch für Peter Waterhouse sind die Fragefiguren, sie setzen Subjekte voraus (oder auch ein): „Jedes Wort ist lebendig, weltlich, wie es keiner noch gesagt hat. Nimm das Wort, geh den Weg, dieser ruft: wer ist zu mir gekommen?“ Eine poetische Prosa, die – inzwischen – durchaus an Handke gemahnt („Das Spiel vom Fragen“).
Der Text „Offene Stadt“ versucht, die Stadt als Subjekt zu begreifen und dabei die expressionistischen Mythisierungstendenzen zu vermeiden: „…sie erwacht in der Morgenstunde und fragt danach, wo sie ist und wie gekommen, und die Antwort hierauf sind die ebenen Felder oder ferneren Punkte oder Stadtrandkanäle; du bist hier bei uns, wir sind bei dir, du bist nicht unsichtbar, Linien verbinden uns miteinander, Worte, Vergessen, Augenmaß, Bücher, Stimmen, topographische Karten, Schnee, Jahreszeiten und der Wind.“
Am Schluß dieses Textes, der sich, wie manche andere, als Prosagedicht charakterisieren läßt, steht die etwas heikle, zentrale poetologische Forderung, die auch Kafka schon ausgesprochen hat (vgl. „Von den Gleichnissen“): „Nicht mich übersetze, übersetze dich.“ Darin besteht Waterhouse auf der wörtlichen Geltung seiner Texte, die ‚vollzogen‘ sein wollen, jedenfalls nicht ‚verständlich‘ gemacht, sowie auf der Aufforderung an den Leser, „hinüberzugehen“, wie Kafka sagte, sich zu übersetzen, in den Text überzusetzen.
Solche Theoreme sind der neueren Texttheorie verpflichtet und nicht schadlos aus diesem Zusammenhang zu lösen. Den verläßt Waterhouse, wo er auf Einzelwörter zurückgeht und deren Bedeutungsumkreis zu entwerfen (zu stiften?) versucht, ohne die erprobten Mittel des Spiels, des Witzes, der plötzlichen Wendungen mitzunehmen. Der Text „Licht“ arbeitet dieses Aufklärungstheorem einmal mehr durch, gekonnt und eigentümlich wie immer, aber doch ohne irgendwelche neue Einsicht (schon Kleist nannte den wendigen Schreiber in seinem Aufklärungs-Lustspiel vom zerbrochnen Krug „Licht“). Waterhouse formuliert das kantische Aufklärungstheorem um: „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Sichtbarkeit“ heißt es nun.
Im folgenden Text steigert Waterhouse die ‚positive‘ Rede bis hin zum prophetischen (‘substantiellen‘) Sprechen Peter Handkes (das freilich viele ästhetisch gesetzte Kautelen kennt). Ein Warnung vor Aufklärung leitet ihn ein: „Helligkeit kann nur bedeuten: bleib uneinsichtig.“ Der Text weiß sich als „Übergang“ und scheint das Sprechen aus dem Spiel des Signifikaten erlösen zu wollen (wenn man so will: ein poetologischer Widerruf). Sache und Wort vertreten einander (dies und jenes „heißt“), doch werden die Bedeutungen in einen ursprünglichen Zusammenhang gesetzt, der jedes Spiel und jede Beliebigkeit ausschießt. Da heißt es. „die Kälte nur heißt: kalt, unerträglich; die Liebe nur heißt: sei mir nah, ich umarme dich; die Nähe nur heißt: ich hebe mich selbst empor; die Landschaft heißt: Gegenwart, in welcher wir wir sind; ich heißt: ich; du heißt: du; Musik: Musik; ja: Ja; nein: Nein; und: Und. Uneinsichtig kann nur sein, wer in diesen strengen Kollaps nicht mit hineingeht. Ach, wenn ich sprechen könnte.“
Eine gewisse Auskunft für den, der Waterhouse nicht als Poeten der Eigentlichkeit lesen möchte (ich gehöre dazu), bietet die gewissermaßen zyklische Anordnung der Texte. Sie verschränken Sprach- und Weltgeschichte, Bildung des Subjekts und einer/seiner (Sprach-)Landschaft ineinander: „Ich war niemals ich. Das große laute Meer sagte nicht einwärtsgekehrter oder selbstloser Pfau. Ich streckte die Arme weit, weil die Stadt das gleiche tat. Das Land hatte silberne Tragflächen. Manche Worte der Sprachen waren gegenständlich. (…)“ Die Texte ‚erzählen‘ einen Spaziergang, etwa auf dem „Wirklichkeitsweg“, die Linien werden anfangs ausgesetzt, später folgen eher Momentaufnahmen. Etwas vom „Zwischenwetter“, vom „rhythmisierten Haus“, vom „Gehen“, von der „Landschaft“ und von der „Landschaft hinter ihr“.
Waterhouse mildert den prophetischen Ton auch durch einige Montagen, seien es ein Lexikon-Auszug oder Bemerkungen zu Theater-Aufführungen. Und widerspricht der Erwartung, auf ein adamitisches Sprechen, ein Nennen der Urnamen, aus zu sein: „haben Sie wirklich erwartet, beim Namen gerufen zu werden? Ihr Name ist nicht mein Name. Ich bin der bessere. Hören wir auf, uns zu messen, unsere Länder ineinanderzulegen wie unsere Hände.“ Gleichwohl wird der Leser sozusagen mit ‚Stimme von oben‘ angeredet (im Wechsel auch vom zivilen „Sie“ zum pastoralen „Du“ erkennbar): „Sei du besänftigt, es wird das beste gesagt.“ Dieses (volle) Sprechen begründet das lyrische Ich (= Peter Waterhouse) als ihm „aus der besten Welt“ zukommend: „Woher kommt zu mir dieser Erinnerungsfreund? Aus der besten Welt kommt er. Er sagt: du grenz an dich; du geh durch dich hindurch; du sie inmitten der Landschaft; du geht vorüber; du schwimm zu deiner Nebeninsel; du vertrau nicht deiner Ebene; du nimm mich wahr (…)“
Danach folgen im wesentlichen Texte, die das Verfehlen dieses Sprechens illustrieren sollen, die sich für Absagen hergeben, die geradezu im Stil des christlichen Laienspiels formuliert sind: „Dieses Herz geht anders. Ich glaube an deine wahre Welt nicht.“ Etwas intrikater, auch lustiger sind Sätze wie: „Ich bin eine Vollmitgliedschaft in Europa. Wir exportieren uns“ usw.
Mit den dann folgenden Seiten weiß ich kaum mehr Rat. Da folgen zusammenhanglose Zeilen, die sich kaum als surrealistisch oder sonst istisch charakterisieren lassen, Slogans wie der zitierte, eine Prager Villenbeschreibung, ein Text, der keinen Kalauer verschmäht, ein ärmliches Liebesgedicht. Vielleicht gibt es doch eine Muse? Nach Seite 43 trat sie wohl in den (hier) unverdienten Ruhestand.

Alexander von Bormann, Deutschlandfunk, 24.4.1991

Als ob einer spräche

− Peter Waterhouse: Kieselsteinplan. −

„Die Landschaft war so sicher und selbständig zusammengefügt, dass es zentimeterbreite Spalten in ihr gab, durch welche die Landschaft hinter ihr zu sehen war. Aber da war kein Geheimnis ausser den Bäumen, den Häusern, den Steinen, dem Tal.“ Um diesen Spalt bewegen sich die Kurztexte im Band „Kieselsteinplan“ des in Wien lebenden deutschen Dichters Peter Waterhouse, den Nahtstellen entlang, an denen die Sprache im einzelnen Wort sichtbar wird, gelöst aus dem Dunkel des selbstverständlichen Sprachgebrauchs: „Leg diesen Finger auf dieses Wort, jenen auf jenes.“ So gibt der gebremste Sprachfluss denn seine Kieselsteine preis, rund geschliffen im Bachbett der Wirklichkeit. „Die Bäume, die Felder, die Zäune sind unstillbar hinausgezeichnet aus der Vertrautheit.“
Ausserhalb des trüben Gewässers ihres vertrauten Sprachflusses stehen die Wörter als Fremdlinge nackt auf dem Papier. In schlichter Aneinanderreihung verlieren sie im wahrsten Sinn des Wortes ihre Bedeutung und werden zu formalen Elementen, aus denen sich – als wären es Bauklötze – unversehens ein neuer „Kieselsteinplan“ entwerfen lässt.
Und der Dichter? Er erscheint als Architekt, der seine Metaphern nicht in der Übertragung einer Bedeutung, sondern in der Konstruktion jenes schwerelosen Bauplans findet, den er mit seinen Wortbausteinen entwirft. Ein „vogelloser Flug“, um es mit einer Wendung aus dem früheren Gedichtband „passim“ (Rowohlt 1986) zu sagen, dessen Startplatz bei Gertrude Stein vermutet werden darf, „a rose is a rose is a rose“, oder auch nicht. Längst schon geht es nicht mehr um das Gesagte, sondern um das Sagen selbst. Nur zum Schein, als ob einer spräche, werden die Wörter hingestellt, mal so, mal so. „Ach, wenn ich sprechen könnte“ – ein verräterischer Seufzer. Denn tatsächlich tritt dieser Dichter immer wieder auf der Stelle.
Der Kieselsteinplan scheint ein Luftschloss zu sein, zurückbuchstabiert hinter den Sinn des Sprechens – gleichzeitig beschwören die Texte jedoch ihre Realität, so als wollten sie die Dinge in der gegenständlichsten Sprache der Welt, von allen Benennungen erlöst, wieder herbeisagen. „Ich gehe über das Wasser, auf dem See, über das Meer. (…) Ruhig spricht der Wind davon, dass über das Wasser keiner geht. Keiner geht: so ist der Wind da und über jedem Wort ein Rauschen zum Anspringen bringt. Über die Landstrasse fährt der in den Wagen gelangte Wirklichkeitsfahrer.“ Er er-fährt die Wirklichkeit im Fortbewegungsmittel der Poesie, einem Sprachwunder in biblischem Wortgewand, das daran erinnert, dass im Anfang das Wort gewesen sein soll. Diese Aura der Transzendenz umgibt die Texte vor allem dort, wo sie in ein seltsames Zwiegespräch münden zwischen einem Ich und einem Du: „Du kommst mir nicht entgegen, ich komme dir entgegen, man müsste sagen: fremdsprachlich. Nicht mich übersetze, übersetz dich.“ In diesem Gespräch sind die Rollen nicht festgelegt. Ich und Du wechseln die Positionen in einem Gestus am Rand der Kommunikation, irgendwo zwischen Selbstgespräch und Gebet.
Mehr geben die knappen Texte des kleinen Bandes nicht preis, und als Leser schwankt man zwischen Ratlosigkeit und plötzlichem Staunen über ungemein dichte, lyrische Prosastücke. Die editorische Sorgfalt entlarvt die einzelnen Texte durchaus in ihrem Zwiespalt: Jeder Text steht für sich, wie durch eine Glaswand von den anderen getrennt, dafür in stillem Dialog mit den unprätentiösen Graphiken Johanes Zechners, die in kompakter Schwärze oft kompromissloser wirken als die unentschiedene Spracharchitektur des Kieselsteinplans.

Sieglinde Geisel, Neue Zürcher Zeitung, 26./27.10.1991

Neben dem Tor war geschrieben Ausgang

des Menschen aus der selbstverschuldeten Sichtbarkeit. Im Gepäck heillose Worte, durchschreitet ein Sprecher jene von ihm beschriebene Pforte. Wer Sprache erfindet, bleibt schuldig, solange er spricht. Le juif errante, auch er irrt ziellos ewig auf EIGENEN Füßen. So bleibt das höchste zu Erreichende und der kleinste gemeinsame Nenner ein KIESELSTEINplan für eine UNSICHTBARE Universität:
Es schweigt um die eigene Achse, ein Geräusch, das Schreibende machen. Dieser auch lakonische Kommentar zur Poesie des Österreichers entstand aus einem Lesefehler. Der Satz, dem sich dieser Irrtum verdankt, heißt „es schwingt um die eigene Achse“ und steht in einem der ersten Gedichtbände von Waterhouse. Ein Kommentar allerdings, der auch graziös die Not beschreibt, die entsteht, wenn man der Dinge mächtig ist.
An der Kreuzung von Zeit und Ort und im tiefsten Blackout der Schnittstelle, ich sehe, in dieser Automobilsekunde, schreibt Waterhouse‘ Blickwinkel Dinge, die vor die Augen geraten – Haus, Landschaft, Stadt, Liebe, Helligkeit – in eine Sicht wie sie beinah nur Sprache wahrzunehmen vermag. Die Landschaft war so sicher und so selbständig zusammengefügt, daß es zentimeterbreite Spalten in ihr gab, durch welche die Landschaft hinter ihr zu sehen war. Aber da war kein Geheimnis außer den Bäumen, den Häusern, den Steinen, dem Tal. Sprache verhält sich, soweit und nicht weiter, wie die Klinge eines Messers. Jedes Schärfen, jedes Schleifen, welches die Klinge ihrem Gebrauch zurückführt, vermindert sie in gleichem Maß um sich selbst. Letztendlich verschwindet sie ins Nutzlose und Leere. Je mehr Sprache in das Wissen um sich eintaucht, mit sich parliert, desto unfaßbarer wird sie, gleichsam in sich selbst unverständlich geworden. Die Worte Ach, wenn ich sprechen könnte verbleiben als letzte. Antipoden zu jedem, vorangegangenen Satz des Autors. Beide Sätze stehen inmitten der Unsichtbarkeit, unfähig in ihr bis auf den Grund zu tauchen. So wie es nie einem Mathematiker gelingen wird, tatsächlich zwischen seine Zahlenreihen zu steigen. Nicht diese Schnellstraße zu überschreiten, begrenzt den Geher, sondern seine Schritte. (Und nebenbei: Mißlungene Literatur schrieb vermutlich an dieser Stelle über die Farbe des Schuhwerkes oder über therapeutische Mittel zur Schrittverlängerung.) Wie auch immer: die wahren Universitäten des Lebens sind unsichtbar. Wie auch der Begriff Universum letztendlich das einheitlich Ausgerichtete, das Ganze bedeutet. So wie versari, aus dem Lateinischen kommend, das sich „an einem Ort Hin- und Herwenden, aufhalten“ meint. Abgeleitet von vertere, dem sich „Wenden“ oder „Drehen“. Der Vers, lateinisch „Versus“, zieht Furchen oder Reihen. „Pro versa“ heißt die vorwärtsgewandte Redeweise, die schließlich zur Prosa wurde. Nur der Poesie Ursprung ist ein griechischer. „Poiesis“ das Machen, ist gleichzeitig das griechische Wort für Dichten. Und „Poietos“ bezeichnet nicht nur den Dichter, sondern auch den Schöpfer. Sprache; gehen; nicht wir gehen. Auf b folgt nicht b. Auch wenn wir sprechen, wir allein den Gedanken formen und den Gegenstand festlegen, zu dem wir reden, so folgt dennoch auf b nicht b, sondern c. Ungeschriebene Gesetze strukturieren selbst Sprache, entziehen sie dem Benutzer um einen feinen Kältestrahl. Denn Deine Nacht ist nur ein Augenblick der Nacht; nicht einmal ganz deine. Im Stimmlosen, Unsichtbaren liegen die Universitäten, die b auf b folgen zu lassen vermögen. Doch Unsichtbares wird nur dort überhaupt wahrgenommen, wo ihm Sichtbares beigegeben wird. Wo der Erzähler nichts sagte, war seine Sprache wirklicher als die lange Zeit zuvor. Seine Worte gerinnen nach einem göttlichen Plan, einem diabolischen Zufallsprinzip. Kieselsteinplan. Bedeutsamer Grundstoff in mancherlei Hinsicht. In der mineralogischen Ahnenreihe des Kiesels befinden sich außer Sand, Quarz, Bergkristall und Feuerstein Achate, Jaspise und Opale. Diese Genealogie gründet sich einzig und allein auf eine reaktionsträge Kohlenstoffverbindung. Graue, harte, aber spröde Kristalle mit metallischem Glanz, die zu beinahe einem Drittel am Aufbau der Erdkruste beteiligt sind und als zweithäufigstes Element Silicium die Erde bestimmen. Kreationen der Intelligenz wie Schach oder Go fanden ihren Ursprung im beiläufigen Spiel mit allerart und solchem Gestein. Wie auch schon Archimedes seine Kreise in die zerstäubten Kiesel von Syrakus zog. Zwischen dem Ich in Waterhouse‘ Texten, das die Fragen stellt und dem Ich, das sie beantwortet, verläuft jene Gasse, durch die Welt oder wie auch immer der Name sei, ein Filter findet. Wo ihre Wucht verspricht, gebändigt zu werden. Ein Schlupfloch, eine Übersicht, ein passieren en passant. Im Dualismus der Ufer verläuft der Spannungsbogen und das Prüffeld. Die Beschleunigung ist die einer Stromschnelle. Der große bedenkliche Zustand heißt: Ich. Endlich haben sie einen Namen für mich legt Waterhouse bereits in seinem ersten Gedichtband MENZ fest und geht damit auf die Bedingungen, die ihm gestellt werden, ein, indem er sie zu den seinen macht. Doch Poesie lebt nicht von verhinderten Kriegserklärungen. Als wir uns ausschlossen, begann unsere Liebe. (PASSIM) In solchen Sätzen implodiert die Sprache, sie kann nicht mehr in Frage gestellt werden. Ein Augenblick, der kurz genug ist, um schön zu sein.
Unruhig werden in Waterhouse’ Lyrik die Personen gewechselt, so wie die Gegenstände, über die verhandelt wird. Du kommst dir nicht entgegen, ich komme dir entgegen, man müßte sagen: fremdsprachlich. Nicht mich übersetze, übersetz dich. Es ist ein verzwicktes Lebendigsein. Du kannst dir nicht entgegenkommen, aus welchen Gründen auch immer. Sondern ich bin es, der die Bewegung mitbringt. Aber eine unverständliche, unübersetzbare. Nur von der Kinetik her erkennbare, nicht aber von ihren Gründen, vom Ziel, von den Bedingungen. Und dennoch: übersetz dich. Was heißen soll: widersetz dich. Gerade weil des Entgegenkommenden Verschlüsseltes einen Reiz besitzt, ein gesuchtes Geheimnis bergen könnte – laß dich nicht auf ein Anderes ein. Bleib bei dir. Bleib eigensinnig und deiner mächtig, einzig gerechtfertigte Form von Macht, weil an sich selbst und in den eigenen Händen. Übernimm die angebotene Bewegung, bring du die Richtung ein. Aber bedenke: DU kommst dir nicht entgegen, wirst nie auf dich zugehen. In allem bleibt ein Fremdes. Darum setze dich über alles hinweg, bisweilen auch über dich selbst.
Die höchstmögliche Schizophrenie bei klarem Verstand erreicht die Atomspaltung in ICH und DU und besänftigend in WIR. Du bist hier bei uns, wir sind bei Dir, du bist nicht bei dir, wir sind manchmal unsichtbar. Solche Worte werden nicht gesprochen, ohne sich dabei zu vergewissern: Ich bin im letzten Augenblick unzerstörbar – du komm aus deinen ersten Flüchtigkeiten hervor! Die Sprache dieses Satzes verwandelt das Labyrinth in die Gerade, den Irrweg in den Heimweg. Doch auch innerhalb dieser Beruhigung bleibt die Schizophrenie eine vorgespie(ge)lte. Denn mich, der ich im letzten Augenblick unzerstörbar bin, vermag nur noch mein eigenes, brachiales Du aus meinen ersten Flüchtigkeiten zu reißen.
Sollte man das Sichtbare, das Besagte als die gültige Aussage zur Verfügung und für Weiteres halten? Haben sie wirklich erwartet, beim Namen gerufen zu werden? Ein Name ist keine bündige Zusammenfassung von Vergangenheit, Zukunft, – geschweige Gegenwart desjenigen, das er benennt. Er ist nicht allein im Nachklang zu finden. Ein Name zieht eine Hütte, ein Haus, eine Architektur über einen Körper, eine wortgewandte. Man berühre jene Behausung, wollte man ins Innere. Auch ist es der Bewohner gewohnt, daß der Gast durch die Tür tritt, um ihn zu empfangen: Ihr Name ist nicht mein Name. Und deutlicher: Sei du besänftigt, es wird das beste gesagt. Im Namen der Namen. Und der Schiffe, die zueinander sprechen, der ungesehenen Wale und des unendlichen Meeres. Das große laute Meer sagt nicht von sich selbst: Ich bin das Meer. Also im Namen der Sprache. Rufen, gerufen werden, Sprache bewegen. Manche Worte der Sprache waren gegenständlich. Wen verwundert dies nach alledem. Und wiederum, unerlösbar, liegt ein Sog der Namen darüber. Sie kreisen um die Körper und Gegenstände mit gleicher Beharrlichkeit wie die Planeten um die Sonne in diesem System. In dieses Zwischenwetter hab ich mich gestellt, mit herzfreiem Gefühl, veränderlichem Sprechem. Sich fragend durch Wirkliches bewegen, ein ansonsten nicht ungehindertes Fortkommen. So wie Augen, Ohren, Mund und Nase tasten, heißt es, zu sprechen. Denk das weiter. Denk das weiter. Denk das weiter. Es ist spät. Es ist spät heißt: Die einzige Zahl ist zu hoch. Mach mit der wörtlichen Ziffer eine wörtliche Bewegung (PASSIM)
Oder anders: Wir stehen am Rand, und es gibt keine Ränder, so werden wir berührt. Und dieser Satz meint: Wir stehen in den Namen, und es gibt keine Namen. So werden wir berührt.

Darüber wird vogellos geflogen.

Dem Kieselsteinplan beigegeben sind Zeichnungen von Johanes Zechner, Auszüge aus dem Geteilten Ornament. Sie erscheinen als Fragmente von Momenten, gegossene Zeichenskulpturen, Bleikammern oder vegetative Notate. Noch in der Reduktion sind sie Kürzel, Hinterbliebene, fragmentarisierte Bilder. Ornament ist Verbrechen, schrieb seinerzeit Adolf Loos, mit jenem Zitat dem Ornament seinen Platz nicht nur in der Architektur der Moderne ein für allemal zuzuweisen. In Zechners Zeichnungen ist Ornament Gebrechen, stilisierte Greisenalter kurz vor der Rückführung ins Universale. Alle Ornamente haben sich tariert in die Spanne zwischen Zierrat und dem großen schwarzen Nichts. Die Optik siegt über die Pragmatik im Gerangel kultureller Entäußerungen. Kreativität schuf sich ein standhaftes, heraldisches Mal. Ein nature morte der Zeichen, durchläuft das Buch.

Diese Figur, Zeichner, ist noch nicht weit genug geworden, noch ist sie sich selbst gleich. Und denkt, Und denkt, Und denkt, und sie wird dunkler schöner, sie erlernt eine Sprache, wir warten. So wie der Zeichnende bewegt auch der Sprechende seine Figuren durch die Ebenen der Geduld, in denen sie reifen. Beide, Zeichnender und Sprechender, begegnen sich im Buch in gleicher Reduktion: der eine zurückgeführt in die Sprache, der andere ins Bild.

Cornelia Jentzsch,Wespennest, Nr. 85/1991

… Diese Mischung aus Kalauern – „Wo ist meine Wiederverschlußkappe“,

oben auf Seite 60, „nein, ich habe keine“, oben auf Seite 61, und sonstjarnisch −, von Platzvergeudung und durchaus nachsummens- und denkenswerter lyrischer Prosa und appetitlichen Tuschekleksen von Johanes Zechner wirft die Frage auf: Wer lektoriert in so einem Selbst- und Gemeinschaftsunternehmen, gibt Rat, sagt auch einmal „nein“, beharrt auf dem Unterschied zwischen „gut gedacht“ und „schlecht gemacht“, ein Problem das gerade im Experimentellen ständig auftaucht und nichts Ehrenrühriges hat. (Und ich sage dies wirklich nicht aus Regenwaldschutzgründen. Für ein gutes Gedicht und die Arbeit daran kann von mir aus allerhand fallen.) Waterhouse baut sein Landschaftshouse und sein Städtehouse und sein Menschenhouse in Wörterhouse:

Woher kommt zu mir dieser Erinnerungsfreund? Aus der besten Welt kommt er. Er sagt: du grenz an dich; du geh durch dich hindurch; du sei inmitten der Landschaft; du geht vorüber; du schwimm zu deiner Nebeninsel; du vertrau nicht deiner Ebene; du nimm mich  wahr; du dreh uns; du gib mir dein Diesseits; du mach mich dankbar; du hast einen Schatten, der immer bleibt, seid fruchtbar und vermehret euch; du wist dich nicht erinnern.

Kommune, 5/1991

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Alexander von Bormann: Warnung vor Aufklärung
Literatur und Kritik, Heft 253-254, 1991

 

 

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Peter Waterhouse

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Waterhouse“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Waterhouse

 

Peter Waterhouse liest beim Tanz um das goldene Nilpferd am 10.3.2012 im Klagenfurter Ensemble.

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