ZUR SONNE ZUR FREIHEIT (EINE ETÜDE)
wenn du mein Freund durch diesen Vorhang trittst
ins Freie wie du meinst so täusch dich nicht
und denke nicht zu früh die Sache sei geritzt
was du für Sonne hältst das ist nur Lampenlicht
die Eichenbohlen dort auf die du zeigst sind schlicht
was du für Straße nimmst wenn du beim Gehen schwitzt
zwar stößt ein harter Strahl dir keck ins Angesicht
jedoch als Sonnenstrahl mein Freundchen ists ein Witz
du sitzt beschissen hinter dieser Bahn aus Stoff
aus deren Löchern dir doch schon die Hoffnung tropfte
wie dieser Schnaps den vorher hier ein andrer soff
und wütend als er es erkannt auf diesen Boden kotzte
begeben sich zeichnerisch und textlich an Grenzen, die das Moment des Absoluten bergen, die zu überschreiten, wie die Grenze des Lebens, die Rückkehr ausschließt. Der Angst aber, die diesen Grenzen anhaftet, begegnen sie mit Humor und Lakonie. Was also auf den ersten Blick wie ein Todesbuch daherkommen könnte, ist ein Canto General auf das Leben.
Gans Verlag, Klappentext, 2022
– Das Buch des Leipzigers hat Zeichner Petrus Akkordeon mehr als nur illustriert – und das ist nicht die einzige Überraschung! –
Wer in der heutigen Lyrikszene, zumindest in Deutschland, ernst genommen werden will, vermeidet zwei Dinge: Reime und Humor. Der im Chemnitzer Yorkgebiet aufgewachsene Jan Kuhlbrodt hat einen neuen Band mit Gedichten herausgegeben. Mit Reimen und Humor. Gut, nicht alle Verse haben Endreim. Und der Humor ist ein zurückhaltender, nicht schenkelklopfender. Kuhlbrodt ist etabliert genug, um sich solche luxuriösen Abweichungen vom Kanon leisten zu können.
Das heißt nicht, dass die Verse unbedingt leicht verständlich sind. Ein langer und zentral platzierter Abschnitt des Buches versammelt ähnlich strukturierte Achtzeiler. Die Inhalte scheinen alltäglich, die Aussagen, so überhaupt vorhanden, sind nicht einfach zu entschlüsseln. Dennoch erlauben Versmaß und Reim ein geschmeidiges Lesen, fast wie ein Singsang. Und wer erwartet schon von einem Instrumentalstück eine schnell zu schluckende Botschaft?
Die Art der Texte reicht vom knappen Aphorismus über klassische Sonette bis zu Kurzprosa über zwei Seiten. Jan Kuhlbrodt ist darin ein exakter Beobachter. Sein Sichtfeld aber ist eingeschränkt. Er hat Multiple Sklerose in fortgeschrittenem Stadium, ist auf den Rollstuhl angewiesen. Eine Reise mit der Mitteldeutschen Regiobahn zu einer Lesung in Chemnitz gerät zum Road Movie. Er kämpft bewundernswert gegen den Verfall, hat sich sogar Gitarren gekauft, um die Beweglichkeit der Hände zu trainieren.
Krankheit spielt in den Texten immer wieder eine zentrale Rolle, nicht nur MS. Ein Abschnitt nennt sich Coronaübungen. „Der Coronaphilosoph ist eine Art Trabbi mit Viertaktmotor“ schreibt der diplomierte Philosoph Kuhlbrodt.
Die Dichter aber üben sich in alten Formen.
Genau so handhabt er es tatsächlich. Der eigenartige Buchtitel mit dem unvollendeten Satz erklärt sich aus einem Zyklus von Gedichten, der über das Buch verteilt ist, erkennbar an der grauen Einfärbung des Papiers.
Das Land wird sterben, aber ich, ich werde leben
durch Straßen ziehn, die längst vergangen sind
vorbei an Männern; Mauern, dort Plakate kleben
die ich nur sehen kann, das Land jedoch ist blind
lautet das erste dieser Gedichte. Später kippt die Gewissheit, das Land zu überleben, zum Ende prophezeit er den Untergang beider.
Dass schon auf dem Titelblatt Petrus Akkordeon quasi als Ko-Autor genannt wird, hat gute Gründe. Er illustriert Kuhlbrodts Gedicht nicht nur, mit lakonischen, naiven und dennoch versponnenen Strichzeichnungen. Ein ganzer Teil des Buches von etwa 30 Seiten gehört ihm allein. Durch diese großzügige Ausstattung wird das Buch auch zum optischen Genuss.
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