Philippe Forget: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Herkules in der Villa Borghese (1932)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Herkules in der Villa Borghese (1932)“. –

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Herkules in der Villa Borghese (1932)

Fremder Pflanzen fleischiges Umschlingen
Legt sich um den grauen Gott aus Stein
Mit der mächtigen Glieder stummem Ringen
Will er ewig wieder sich befreien.

Um das Haupt, im Schmerz zurückgebogen
Ist von goldnem Wespenflug ein Schweben:
Nester bauend im gebrochenen Auge
Steigt aus dem zerfallnen Leib das Leben.

 

Werden im Vergehen – Zu Marie Luise Kaschnitz

Geistiger Umgang mit Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) setzt nicht die Auseinandersetzung mit der frühen Lyrik voraus. Doch wer sich einmal mit diesen weitgehend auf Imitatio angelegten, inhaltlich oft etwas dünnlippigen Gedichten beschäftigt, kann nicht an dem kurzen Herkules-Gedicht vorbeilesen. Durch Vitalität der Form und gedrängte Aussage, nicht zuletzt durch den vollkommenen Zusammenfall von Form und Sinn worin die Dichterin von Anfang an die Hauptaufgabe des Lyrikers sah, stellt es eine bedeutende dichterische Leistung im Zusammenhang des lyrischen Jugendwerkes dar. Man kann dieses Gedicht zunächst als die dichterische Nachgestaltung eines ästhetischen Erlebnisses bezeichnen; als solches gewährt es auch wie kein anderes aus dieser Periode Einblick in Kaschnitz’ Weltbild und Bilderwelt, denn „jedes Erlebnis ist aus der Kontinuität des Lebens herausgehoben und ist zugleich auf das Ganze des eigenen Lebens bezogen“ (H.G. Gadamer).
Der erste Gedichtband der Dichterin ist bisher – nicht ganz zu Unrecht – von der Kritik übergangen worden. Das hielt sie dennoch nicht davon ab, Pauschalurteile über diese Schaffensperiode zu fällen und die frühe Kaschnitz einzig und allein der klassisch-romantischen Tradition zu verpflichten, wobei das Eigentliche dieser Dichtung, nämlich das stilistisch Zeitbezogene, völlig übersehen wurde.
Ihre damalige Einstellung hat Marie Luise Kaschnitz in dem 1955 erschienenen Erinnerungsband Engelsbrücke-Römische Betrachtungen als die Haltung eines ,wachen Schülers‘ gekennzeichnet. Damit wird zugleich die geistige Disponibilität, die Lern- und Aufnahmebereitschaft der angehenden Dichterin ausgedrückt und das Bekenntnis zu den Meistern wie Hölderlin und Goethe, aber auch zu den Großen der Jahrhundertwende wie Hofmannsthal, Rilke und vor allen Trakl und Stefan George. Gemeinsam ist den Genannten, daß sie vorübergehend eine Jugendstilperiode durchgemacht haben. So ist es nur zu verständlich, daß sich eine solche Tendenz auch im lyrischen Frühwerk der Kaschnitz nachweisen läßt, die in dieser typischen Atmosphäre der Jahrhundertwende herangewachsen ist, welche in den dreißiger Jahren – das vorliegende Gedicht entstand 1932 – eine deutliche Renaissance erlebte. Gerade in einer auf Hugo von Hofmannsthal gemünzten Bemerkung schrieb Marie Luise Kaschnitz 1974:

Es konnte mich das jugendstilisch Zeitbezogene aber nicht verdrießen, weil ich selbst in der Epoche steckte.

Diese These soll im folgenden an dem eingangs zitierten ausgeführt werden.
Der Kürze halber müssen wir auf eine umfassende Jugendstiltypologie verzichten; es seien deshalb hier nur die formal-geistigen Grundzüge angegeben, welche den allgemeinen Hintergrund dieser Stiltendenz darstellen. Als Umbruchs- und Übergangszeit förderte die Jahrhundertwende bei der Generation, die sie erlebte, ein durchaus ambivalentes Weltgefühl, das in den philosophischen Hauptströmungen der Zeit, der Lebensphilosophie und dem Monismus, einen fruchtbaren Nährboden fand. Jugendstil will dem Leben als Ganzem gerecht werden und erhebt einen Totalitätsanspruch, den er durch den Glauben an die organische Einheit alles Seienden legitimiert. So nimmt er die ihm eigene Spannung aus einer weit ausgreifenden Ambivalenz, die konsequent in einen vitalistischen Monismus (Robert Schmutzler) mündet. Strukturbestimmend sind daher Gegensatzpaare wie Steigen und Sinken, Vitalität und Passivität, Zerfall und Neubeginn, ahnungsvolle Nacht und dumpfe Pan-Stunde, Resignation und Euphorie. Während der Naturalismus auf unbegrenzte Thematik und Formenvielfalt bedacht war, trifft der Jugendstil eine Auswahl und stilisiert sie. Inhaltlich gesehen wird das Leben lediglich auf seine Gesetzmäßigkeit hin befragt, und alles Zufällige wird systematisch ausgeschaltet. Das formale Ergebnis ist dann eine straffe organische Tektonik, die das eindeutig Lineare bevorzugt. Schwungvolle Linien wie Schlangen oder Frauenhaare, florale Motive wie Lianen werden zu Standardbeispielen. Aus der Reaktion gegen den Historismus schließlich erklärt sich das neue optische Schema des literarischen Jugendstils: Es geht um eine zweidimensionale Flächenkunst; der physische Hintergrund wird aufgehoben, „alles ist nah und gleichmäßig nah“ (D. Jost). Auf diese Weise wird ein ahistorisches, das heißt auch überzeitliches Weltbild dargestellt, in dem die gesellschaftlich-soziale Wirklichkeit keinen Platz mehr einnimmt. Den Primat hat das Ornament, nicht das Sein, und das Faktische tritt hinter dem Mythischen zurück.
Verdrängung des physischen und Betonung des mythischen Hintergrundes bestimmen auch das Vorverständnis des vorliegenden Gedichtes. Primär geht es, wie bereits gesagt, um die Nachgestaltung eines Kunsterlebnisses, das sich schließlich als existenzielle Einsicht offenbart. Die Aufhebung des gegenständlichen Rahmens – der Park der Villa Borghese, der in der Zeit der ersten Romaufenthalte zur nächsten Umgebung der Dichterin gehörte – spart jeden Bezug aufs Alltägliche aus, fördert dadurch die Vorrangstellung des Mythos sowie die Verabsolutierung der gesamten Aussage.
Es geht hier nicht um ein Ding- oder Kunstgedicht im eigentlichen Sinn des Wortes. Nicht die Herkules-Statue an sich ist Thema des Gedichtes, sondern es werden Zerfallserscheinungen und vitale, Neues schaffende Kräfte miteinander konfrontiert; dabei ist das Gedicht übersichtlich gegliedert: Strukturell liegt ihm die Doppelbewegung der Zerfall-Neugeburt-Polarität und deren Aufhebung in der Aufwärtsbewegung des Lebens zugrunde. Auf das Hinfällig-Zerfallende der Statue antwortet das umfassende ,Umschlingen‘ der Pflanzen und ,Schweben‘ der Wespen, das metonymisch für die Bewegung des Lebens steht, wobei Herkules als vertikale Achse eine ordnende Funktion erfüllt. Bewegtheit läßt das Gedicht zweifach erkennen: Zunächst durch die Reduzierung des Optischen vom Ganzen auf das Besondere, nämlich auf das Haupt und schließlich das Auge des Herkules (2. Strophe). Parallel dazu entwickelt sich die existenzielle Erkenntnis: Auf die Feststellung des Andersseins der ,fremden‘ Pflanzen folgt die Einsicht in die wiederhergestellte Einheit alles Kreatürlichen, wobei das letzte Wort, gleichsam die Kadenz des Gedichtes, das Ganze in die eigentliche Dimension rückt. Lebendiges und Totes sind alles andere als unüberbrückbare Gegensätze, sie sind ständig aufeinander zu beziehen, weil beide auf eine ungebrochene ursprüngliche Einheit zurückzuführen sind. Auf der Grundlage dieser Wechselbeziehung erscheint der Entwicklungsprozess des Lebens als ein ,Werden im Vergehen‘.
So ist auch der Mensch in dieser Szenerie durch die interpretierende Subjektivität der Dichterin mittelbar präsent. Die Themenwahl macht das deutlich: Steht doch Herkules als mythische Gestalt stellvertretend für das Streben und Erwarten des Menschen schlechthin; deshalb wird er auch verabsolutiert und hyperbolisch ,der Gott‘ genannt, statt Halbgott, was der mythologischen Wahrheit näher käme. Im Zusammenhang mit den ersten zwei Versen wird so eine unerwartete Fallhöhe geschaffen, die die spürbare Betroffenheit der Beobachtenden zugleich auslöst und erklärt. Wider Erwarten wird nicht der mächtige Gott selbstherrlich gepriesen, sondern kreatürliche Kräfte sind im Begriff, ihn zu bezwingen. Allein von der Wirkung her ist diese Stelle mit dem Einsatz des Gedichtes ,Archaischer Torso Apollos‘ von R.M. Rilke zu vergleichen:

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt
darin die Augenäpfel reiften

Das erste Verspaar enthält nicht nur These und Antithese, die ihm innewohnende Musikalität erweitert und vertieft die Aussage und führt unmittelbar zum innersten Anliegen des Gedichtes: Die verschlungenen f- und sch-Assonanzen des ersten Verses verweisen auf die unauflösliche Einheit der Pflanzen- und Tierwelt, indem sie durch die überwiegenden Zischlaute die Vorstellung von Schlangen erwecken, die sich zischend um den grauen Gott herumwinden. Solche Lautverschränkung ist typisch für die Lautmalerei des Jugendstils (sie entspricht ja auch der Tektonik der Wellenlinie in der bildenden Kunst); ihre Wirkung liegt dann, daß Optisches ins Verbale umgesetzt wird daß Pflanzliches animalisch reagiert, weil es animalisch wird. Dieser Prozeß setzt ein und kulminiert zugleich in dem Adjektiv ,fleischig‘, das die Seinsweise der Pflanzen ausdrückt und in dem alle aufgewiesenen Zischlaute zusammenfallen. Dadurch werden die eingangs beschriebenen Pflanzen zur Metapher der ursprünglichen Einheit alles Seienden.
Ähnliches ereignet sich im nächsten Verspaar bei der Darstellung des stummen Ringens des Gottes: Mit der den vierten Vers durchziehenden w- und i-Assonanz wird dem Kampf des Herkules klangmäßig Dauer verliehen, der sich in der Wortsequenz ,,Will er ewig wieder… als vergebliches Bemühen offenbart. Noch deutlicher wird die unaufhaltsame Aufwärtsbewegung des Lebens in der zweiten Strophe dargestellt. Wichtig ist dabei zunächst das aufhellende Farbenpaar: Auf das Grau der ersten Strophe (der ,graue‘ Gott aus Stein) antwortet nun das Gold (von goldnem Wespenflug) und die dieser Farbe eigene Fruchtbarkeitssymbolik. Mit der plötzlichen Hinwendung zum Kopf, wobei die Analogie zum bildnerischen Jugendstil deutlich wird aber auch zu den Augenhöhlen, wird die Antithetik stärker. Da wird Herkules nur noch in seiner schwindenden Kraft dargestellt und auf einen Zustand hin fixiert, während auf sein Dasein lediglich durch drei zustandsbeschreibende Partizipien verwiesen wird (zurückgebogen, ,gebrochen‘, ,zerfallen‘); dagegen ist der Wespenflug um ihm herum einseitig auf Dynamik hin angelegt, was die substantivierten Verben ,Schweben‘ und ,Leben‘ anzeigen ( es ist wohl mehr als Zufall, daß letzteres eben die dynamische Form des substantivierten Verbums annimmt). Am wirksamsten offenbart sich die Antithese zwischen beiden Bereichen im dritten Vers, wo ein handlungsintensives und ein zustandsbeschreibendes Partizipium aneinanderrückt: „Nester bauend‘ im ,gebrochenen‘ Auge“. Bei einer so konsequenten Formgebung, die die vorliegende Interpretation nur annähernd beschreiben kann, fällt schließlich noch auf, daß die Hinfälligkeit des grauen Gottes durch den einzigen unreinen Reim des Gedichtes (gebogen / Auge) klangmäßig erfahrbar gemacht wird. Demgegenüber bricht die Vitalität des sich selbst zeugenden Lebens („Nester bauend“) im Emporsteigen des Wespenschwarms durch, wobei allerdings Herkules nach dem Gesetz des Werdens im Vergehen schließlich nicht bezwungen, sondern in die Vitalsphäre der strotzenden Natur mit einbezogen wird.
Es gehört ferner zum Selbstverständnis des Jugendstils, daß das Kunstwerk zugleich als in sich geschlossenes Sinngebilde verstanden sein will und den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt:

Als in sich ruhend und sich selbst genügend ist das Kunstwerk aller faktischen Verflechtung mit der Welt enthoben und steht außerhalb der in der Welt sonst gültigen Ursache- und Wirkungszusammenhänge (A. Schlinkmann).

Dies geschieht im vorliegenden Gedicht durch Aussparung jeglicher Art von Konjunktionen und damit auch jeder kausalen Perspektive sowie durch Beschränkung auf das Präsens, deren Zeitform die Allzeitlichkeit ist, so daß nicht Gegenwart als Zeit zum Ausdruck kommt, sondern als überzeitliche Vergegenwärtigung. Weil das gesamte Geschehen dem Raster der Zeitlichkeit auf diese Weise enthoben ist, wird das einmalige Kunsterlebnis zu einer Einsicht, die die Totalitäten umfaßt und daher für alle gilt.
Dieser formal-geistige Grundsatz, den der Jugendstil zum obersten Stilprinzip erhoben hatte, verweist aber zugleich auf dessen Unzulänglichkeit. Die ausgesparte perspektivische Tiefe entspricht zwar dem Primat der Fläche, des Ornaments, sie verhindert aber auch weiterführende Erkenntnisse und wird letzten Endes der hintergründigen Wirklichkeit nicht gerecht. So ist die stärkere Berücksichtigung des Formalen bei der Interpretation letztlich nicht auf die Willkür des Hermeneuten zurückzuführen, sondern primär durch das im Gedicht enthaltene Weltgefühl bedingt, das auf das einzige Sinnzentrum des Werdens im Vergehen oder, allgemeiner formuliert, auf die Dimension des Vitalistischen festzulegen ist.
Das vorliegende Gedicht ist auf jeden Fall ein Kunstgedicht nur daß der Begriff hier so zu verstehen ist, daß ein stilisiertes: sortiertes, kunst-voll arrangiertes Leben zur Sprache gebracht wird. So läßt gerade ein solches Gedicht die Abkehr der Dichterin von ihrem lyrischen Jugendœuvre deutlich erkennen eine Haltung, die allen Künstlern des Jugendstils gemeinsam ist, die sich nicht mit einer seichten l’Art-pour-l’Art-Gesinnung zufrieden gaben, sondern stets bemüht waren, der vielfältigen Wirklichkeit die wesensmässige Form (Kaschnitz) abzugewinnen, welche sich ihnen immer wieder entzogen hatte. Über dreißig Jahre nach den selbstbewußt aufgestellten Gesetzmäßigkeiten des Herkules-Gedichtes heißt es:

Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig Richtige
Geschweige denn von der Liebe
Versuche. Gesuche, mißlungen
Ungenaue Beschreibung.

Philippe Forget, Park, Heft 4, Juli 1977

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00