GOLDMEDAILLE
Die Nacht rempelt ihre Sterne an
Es regnet Sand und Watte
Es ist so heiß
doch die Stille webt Seufzer
und den Ruhm des Sommers
Fast von überall
werden Hitzeverbrechen gemeldet
Menschengewitter die die Throne stürzen werden
und ein großes Licht
im Westen
und im Osten
zärtlich wie der Regenbogen
Es ist Mittag
Alle Glocken
antworten
Mittag
Ein dumpfes Warten
wie ein großes Tier
Holt seine Glieder aus allen Ecken
es schiebt seine Stachel vor
es sind die Schatten und die Sonnenstrahlen
Der Himmel fällt uns auf den kopf
Man wartet auf den Wind
Der heute blau sein muß
wie eine Fahne
Die vorliegende Übersetzung der frühen Gedichte Philippe Soupaults folgt dem 1975 beim Pariser Verlag Grasset herausgekommenen Sammelband Poèmes et poésie, der Gedichte aus über drei Jahrzehnten versammelt. Neben Unveröffentlichtem sind darin insgesamt zwölf zwischen 1917 und 1949 bei verschiedenen französischen, algerischen und holländischen Verlagen erschienene Einzelbände aufgenommen.
Um dem Titel dieser Reihe, Frühe Texte der Moderne, gerecht zu werden, habe ich für diesen Band nur solche Gedichte ausgewählt, die bis Ende der zwanziger Jahre, das heißt in der surrealistischen Zeit des Autors entstanden sind. Lediglich in dem bereits für eine frühere Veröffentlichung geplanten, jedoch erst im Sammelband Poésies complètes 1917–1937 (Paris, GLM 1937) von 1957 erschienenen Zyklus „Chansons“ finden sich einige wenige Gedichte, zwei oder drei, aus späterer Zeit, deren genaues Entstehungsdatum sich heute nicht mehr ausmachen läßt – auch nicht mit Hilfe des Autors – und die ich deshalb zwar in diesen Band mitaufgenommen, bei der Datierung jedoch nicht berücksichtigt habe. (Überhaupt sind Datierungen bei Soupault immer etwas fragwürdig, da er sich später in keiner Weise um seine literarischen Hervorbringungen und ihre Entstehungsdaten gekümmert hat. Daher eine gewisse Zufälligkeit bei der Gedichtdatierung sowie die nicht auszuschließende Möglichkeit, daß irgendwann noch das eine oder andere unveröffentlichte frühe Gedicht auftauchen kann.)
Die Gesamtheit der hier übersetzten Gedichte – von den zwei oder drei Texten aus „Chansons“ abgesehen – entstand jedenfalls zwischen 1917 und 1930, zumal Soupault nach seinem Austritt oder Rauswurf aus der surrealistischen Gruppe nur noch gelegentlich ein Gedicht schrieb, da er nun, als Sonder-Berichterstatter in der ganzen Welt zu Hause, das tat, wovon er in seinen Gedichten immer geträumt hatte: reisen. Die Titel der bis 1937 in Frankreich erschienenen, jedoch früher entstandenen Gedichtbände lauten: Aquarium (Paris, Birault 1917), Rose des Vents (Paris, Au Sans Pareil 1920), Westwego (Paris, Librairie Six 1922), Georgia (Paris, Editions des Cahirs Libres 1926). Ferner liegen dieser Übersetzung zugrunde: „Epitaphes“, eine Folge bereits 1919 entstandener fiktiver Grabinschriften auf die engsten Freunde sowie die Gedichtzyklen „Chansons“ (1921–1957) und „Bulles Billes Boules“ (1920–1950), die 1957 in den Band Poésies complètes aufgenommen wurden. Die später geschriebenen Gedichte (mit Ausnahme der bereits erwähnten zwei oder drei Chansons) wie etwa „Etapes de l’enfer“ (1952–1954) und „Sang Joie tempete“ (1954–1957), um hier nur die Vorkriegsgedichte aufzuzählen, wurden nicht in diesen Band aufgenommen.
„Er ist wie seine Dichtung, äußerst klug, ein wenig zurückhaltend, liebenswürdig und weltoffen.“ So äußerte sich Anfang der fünfziger Jahre André Breton in einem Interview über seinen Freund und Mitbegründer der surrealistischen Bewegung, Philippe Soupault, der im Gegensatz zu vielen anderen Surrealisten hier in Deutschland immer noch ein Unbekannter geblieben ist, obgleich er, zusammen mit Breton, den ersten surrealistischen Text überhaupt, nämlich „Die magnetischen Felder“ geschrieben hat.
Geboren wurde Soupault am 2. August 1897, auf den Tag genau siebzehn Jahre vor der offiziellen Kriegserklärung zwischen Frankreich und Deutschland. Der Geburtsort war Chaville, ein hübscher Villenvorort an der Bahnlinie zwischen Paris und Versailles, der in den französischlernenden Ostprovinzen Frankreichs, dem Elsaß also, durch die dort ansässige Sprachlehrerfamilie Dupont zu einem Begriff geworden ist. Die Soupaults waren zwar Pariser, doch sie besaßen ein Landhaus in Chaville, wo sie den Sommer verbrachten, und so kam Philippe zu einem Geburtsort, den er heute noch als exotisch empfindet.
Bis zum Abitur durchlief er ordnungsgemäß alle Schulen, denn er gehörte einer großbürgerlichen Familie an, die auf Ordnung hielt und über die er als Dreißigjähriger in einer Kurzbiographie mit dem Titel Histoire d’un blanc (Geschichte eines Weißen) etwas despektierlich schrieb:
Meine Großeltern mütterlicherseits entstammten dem Bürgertum aus der Zeit Louis-Philippes und des Second Empires, reichgewordene Kaufleute, die, nachdem sie ein Vermögen erworben hatten, wollten, daß ihre Kinder Verwaltungsbeamte werden. Mein Großvater war Advokat beim Staatsrat. Meine Familie verkörpert jenen Typus des Bürgertums, der, wie es heißt, die Stärke Frankreichs ausmacht! Ich bringe dieser Klasse der Gesellschaft die größte Verachtung entgegen, und voller Freude wohne ich ihrer langsamen, nach meinem Geschmack allzu langsamen Auflösung bei. Dieses Bürgertum gibt vor, sich auf zwei Grundsätze zu stützen: die Religion und die guten Sitten. In Wirklichkeit respektiert es nur das Geld!
Als Vierzehnjähriger entdeckte er während eines Ferienaufenthalts in Deutschland die Welt der Literatur und der Dichtung. Er lernte die Ortschaften und Schloßruinen längs des Rheins kennen und fand hier die Landschaften und Personen aus den Märchen der Gebrüder Grimm wieder, die ihm einst sein deutsches Kindermädchen nahegebracht hatte. Später notierte er:
Unbewußt war ich für die Dichtung empfänglich geworden. Als ich nach Frankreich zurückkam, fühlte ich mich anders. Ich glaube, meine Angehörigen merkten gar nicht, daß ich nicht mehr derselbe war…
Ein Glück für ihn, daß seine Familie, zu der auch die Automobil-Renaults gehörten, von dieser Veränderung, dieser Hinwendung zur Poesie und zum Träumen, nichts ahnte, denn Schreiben und Literatur galt diesem Geldbürgertum als etwas Anstößiges. Es verstieß gegen seine elementaren Prinzipien und war fast so schlimm wie stehlen und arm sein.
Noch einmal wird der junge Philippe ins Ausland geschickt, drei Jahre später, im Sommer 1914. Diesmal ist es London, doch der Krieg unterbricht dieses Ferienabenteuer. Drei Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten ruft ihn ein Telegramm zurück. Das große Schlachten beginnt.
Nach dem Abitur muß er auf Beschluß des Familienrates Jura studieren. Ein halbes Jahr später wird er zur Artillerie eingezogen. Die Front bleibt ihm zwar erspart, nicht aber das Militärlazarett, in das er mit einer fiebrigen Infektion eingeliefert wird, weil er zusammen mit anderen Kameraden den Ärzten der Armee als Versuchskaninchen hatte dienen müssen. Hier entsteht schließlich sein erster Text. Ein Satz geht ihm im Kopf herum, ein Satz, den er nicht mehr los wird und der ein Geräusch macht wie ein Insekt. Von seinem Krankenbett aus sieht er Schnee fallen. Er nimmt einen Bleistift und schreibt den Satz auf. Und obgleich er im Gegensatz zu vielen Jugendlichen nie versucht hatte, Gedichte zu schreiben, ist es ein Gedicht geworden, in das die Einflüsse seiner Lektüre, Rimbaud, Apollinaire und Reverdy vor allem, eingegangen sind. Er gibt ihm den Titel „Abreise“ und schickt es Guillaume Apollinaire. Einige Wochen später, im März 1917, erscheint es in der avantgardistischen Zeitschrift SIC, deren Herausgeber, Pierre Albert-Birot, mit Apollinaire befreundet war. Gezeichnet ist es mit Philippe Verneuil, ein für die Familie ziemlich durchsichtiges Pseudonym, da Verneuil der Name seiner ersten Frau ist. Um eine Vorschrift der französischen Armee zu umgehen, derzufolge jeder Soldat verpflichtet ist, alles, was er zu veröffentlichen gedenkt, zuerst seinem Oberst vorzulegen, hatte er sich für ein Pseudonym entschieden, zumal er wußte, daß sein Oberst ein Erzkonservativer war.
Möglicherweise ist dieser Grund für das Pseudonym reine Erfindung, denn bereits im gleichen Jahr erscheint unter dem Titel Aquarium sein erster Gedichtband, zu dem ihn Apollinaire, der spiritus rector so vieler junger Poeten, ermuntert hatte. Pierre Reverdy bescheinigt dem schmalen Band „eine große Einfachheit im Ausdruck“, hält jedoch „eine noch größere Reinheit der Mittel“ für wünschenswert.
Den wesentlich älteren Apollinaire hat Philippe Soupault anläßlich einer Gedichtlesung zugunsten der Kriegsverwundeten kennengelernt. Durch ihn kommt er mit André Breton und Louis Aragon in Verbindung, die seine Freunde werden und mit denen er zwei Jahre später die Zeitschrift Littérature gründet.
Aber noch ist Krieg, Dada macht in Zürich Furore, die Zeit der von Tristan Tzara in Paris organisierten skandalträchtigen Manifestationen steht erst bevor. Damals stößt Breton auf ein Buch, das bei ihm und seinem Freund Soupault größtes Interesse, aber auch Betroffenheit auslöst. Es ist Der psychologische Automatismus, die Doktorarbeit des Arztes und Psychiaters Pierre Janet, bei dem Raymond Roussel zwanzig Jahre zuvor in psychiatrischer Behandlung gewesen war. Janet schlägt darin eine neue, experimentelle Behandlungsmethode vor, die er das „automatische Schreiben“ nennt, und Breton und Soupault beschließen, sich dieser Schreibtechnik für einen literarischen Text zu bedienen. Nachdem die ersten Ergebnisse ihrer Schreibübungen vorlagen, kamen die beiden Autoren überein, noch schneller, noch spontaner zu schreiben, sich überhaupt nicht mehr um erzählerische oder ästhetische Fragen zu kümmern. Als sie sich dann gegenseitig vorlasen, was sie zu Papier gebracht hatten, waren sie überrascht von dem ungewöhnlichen Aspekt der Bilder, von der Bizarrheit und dem Reichtum dieses Textes. Das so entstandene Prosastück, das sie Die magnetischen Felder nannten, war gerade wegen des konstant durchgehaltenen Gebrauchs der automatischen Schreibweise der erste surrealistische Text. Er erschien 1919 in der von ihnen gemeinsam mit Aragon herausgegebenen Zeitschrift Littérature.
Für Soupault bedeutete das automatische Schreiben jedoch nicht nur die Entdeckung eines neuen, unerforschten Universums, sondern er sah darin auch einen Weg, sich von überlieferten Traditionen freizumachen und zugleich den Mut wiederzufinden, Gedichte zu schreiben, „jedoch Gedichte, die ziemlich verschieden waren von denen, die wir zuvor geschrieben hatten“, wie er in einem Interview einmal sagte. Und in seinem „Essay über die Poesie“ schrieb er:
Was man hier festhalten muß, ist die Tatsache, daß es dank des Surrealismus jetzt möglich ist, der Poesie eine viel ehrlichere und weniger verworrene Definition zu geben als je zuvor und ihre Macht deutlicher erkennen zu lassen.
Wie sehr das Experiment des automatischen Schreibens gerade für Soupault eine kreative Methode war, um die Tradition zu überlisten, zeigt ein Vergleich zwischen dem 1917 begonnenen, jedoch erst 1922 erschienenen langen Gedicht „Westwego“, in dem der Einfluß Apollinaires, aber auch Reverdys noch unverkennbar ist, und dem Louis Aragon gewidmeten Gedicht „Eskalation“ aus seinem zweiten Band Windrose von 1920, dem vier Zeichnungen von Mare Chagall beigegeben waren.
WESTWEGO
Alle Städte der Welt
Oasen unserer verhungerten Verdrüsse
bieten unserem Gedächtnis
von Einzelgängern und Narren
und Seßhaften kühle Getränke
Städte der Kontinente
ihr seid Fahnen
Sterne auf die Erde gefallen
ohne so recht zu wissen warum
und die Mätressen der Dichter von jetzt…
Es ist ein Gedicht der Reisen, in dem sich die Erinnerung an gesehene Städte mit der Sehnsucht nach unbekannten, Abenteuerversprechenden Städten und Ländern vermischt, das aber durchaus noch in der Tradition der frühen Vorbilder steht. Nicht so das Gedicht aus dem zweiten Band, von dem Soupaults Biograph Henry-Jacques Dupuis meinte, „es sei im Ton so neu, so modern gewesen, daß es einer ganzen Generation von Dichtern die Feder gelöst“ habe.
ESKALATION
Es ist heiß im Ministerium
die Stenotypistin lächelt und zeigt ihre Brille
Man verlangt den Staatssekretär
alle Türen sind geschlossen
die Statue im Garten ist sogar unbeweglich
die Schreibmaschinen stottern
und das Telefon läutet ununterbrochen
Werde ich noch laufen können
der Bahnhof ist nicht weit
eine Straßenbahn kriecht bis Versailles
Man hat mir gesagt, es habe ganz in der Nähe
einen Unfall gegeben
ich werde also das Wiehern der Wolken nicht hören können
Der Eiffelturm schleudert seine Strahlen
bis zu den Sandwich-Inseln
Gutenberg 24-19
Hier ist der Bruch mit dem überkommenen, klassischen Formenkanon ganz eindeutig, und entsprechend war auch die Reaktion eines sowohl voreingenommenen als auch unvorbereiteten Publikums: sie war feindselig. Immerhin schien es zu jener Zeit geradezu geschmacklos, eine Vorstadtstraßenbahn, eine brillentragende Stenotypistin oder ein läutendes Telefon, banalste Dinge aus dem Alltag also, in die Poesie einzuführen. Doch Soupault, entschlossen, neue Wege zu gehen und mit der Tradition zu brechen, lag nichts daran, „schöne“ Gedichte zu fabrizieren. Wie seine Gefährten versuchte er sich früh schon, seit der Erfahrung der Magnetischen Felder, in poetischen Experimenten, die ihn schließlich dazu führten, die Dichtung nicht mehr als ein System in der Art Mallarmés anzusehen, sondern als eine Möglichkeit, dem Geist eine Freiheit zu gewähren, die er in seinen Augen bis dahin nicht gehabt hatte.
Mag auch manches von dem, was für den damaligen Leser schockierend oder befremdend war, etwa diese Mischung traditioneller Bilder mit Wörtern und Begriffen aus dem Bereich der modernen Technik, seine Kühnheit aufgrund unserer seit den zwanziger Jahren veränderten Lese- und Hörgewohnheiten verloren haben, so besteht doch kein Zweifel, daß die Gedichte Soupaults mit dazu beitrugen, uns für eine neue Sensibilität empfänglich zu machen. Da Poesie für Soupault zunächst einmal so etwas wie ein Befreiungsakt war, faszinierten ihn gerade unter diesem Aspekt die in Nord-Sud und SIC veröffentlichten Gedichte des damals noch in Zürich lebenden Dadaisten Tristan Tzara, der ihn, wie er fand, zugleich von seinen Einflüssen befreite.
Keiner der Dichter, die wir bewunderten, hätte es gewagt, die Syntax und das Vokabular so durcheinanderzuwerfen wie Tzara es tat.
Tristan Tzara hatte als einer der ersten begriffen, daß man Tabula rasa machen, sich gegen das Bestehende auflehnen müsse und mit einem „Feldzug zur Entwertung des Kunstwerks und der Poesie“ begonnen, der jedoch nach Ansicht Siepes „nicht so sehr eine Zerstörung der Kunst als vielmehr eine Zerstörung der Vorstellung meinte, welche das Publikum von ihr hatte“. Er verkündete, daß es wichtig und notwendig sei, Skandale heraufzubeschwören. Auf Einladung Picabias kam er nach Paris, wo er Dichter zu finden hoffte, mit denen er seine Aktionen starten könnte. Er sollte sich nicht getäuscht haben. Das Aufbegehren jener Dichter, die bei Kriegsende zwanzig Jahre alt waren, kann als der spektakuläre Ausdruck einer Generation angesehen werden, die es ablehnte, sich weiterhin von jenen führen zu lassen, die einen Krieg provoziert und besungen hatten, der vier Jahre gedauert und denjenigen, die an ihm teilgenommen, die Erinnerung an Schmutz und Blut hinterlassen hatten. Soupault erinnert sich:
Und die Literaten, chauvinistischer denn je, heizten das Klima noch an, die Bourgets, Bazins, Barres, um nur einige zu nennen… Wir waren angeekelt, empört über diese ,Literatur‘. Zum Glück hatten wir die Illuminationen und Eine Zeit in der Hölle, bei denen wir unsere Zuflucht fanden, sowie seit 1917 auch die Gesänge des Maldoror. Die Entdeckung Lautréamonts und seiner Gesänge des Maldoror hatte für uns eine große Bedeutung, und es ist unleugbar, daß dieser Text die Niederschrift der Magnetischen Felder ebenso oder vielleicht noch mehr beeinflußt hat als die Illuminationen.
Die von Tzara und seinen neuen Freunden organisierten Aktionen, deren Ziel es war, Skandale heraufzubeschwören, fanden einen Widerhall, den sich ihre Organisatoren nicht erhofft hatten. Es ist schwer, sich heute den Tumult vorzustellen, den Tzara bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Paris auslöste, als er seinem Publikum anstelle eines Gedichts einen Zeitungsartikel vorlas.
Ebenso waren öffentliche Publikumsbeschimpfungen an der Tagesordnung sowie Dada-Spektakel, die in der Regel nach dem gleichen Schema abliefen wie jenes, das zur berühmten Schlacht in der Salle Gaveau führte: Paul Eluard und Théodore Fraenkel zogen jeder einen Koffer auf die Bühne. Aus dem einen sprang Soupault im Bademantel, aus dem andern holte man rote Luftballons, deren Identität der „Zauberkünstler“ Soupault verkündete: „Clemenceau, Millerand, Jean Cocteau“. Darauf stieß Paul Eluard, mit einem riesigen Fleischermesser bewaffnet, wild in die Ballons hinein. Die Gummihaut Cocteaus fiel zu Boden und wurde wie Spucke zertreten. Dann tauchte Benjamin Peret im Saal auf, ging auf die Bühne und brüllte: „Es lebe Frankreich und die Pommes frites“. Das Publikum, rasch außer Rand und Band geraten, verhielt sich genauso, wie die Organisatoren gewollt hatten, es bombardierte die Akteure mit Tomaten, Eiern, Fleischstücken. Philippe Soupault, der bei der Auseinandersetzung mit dem Publikum von einem Beefsteak voll getroffen worden war, kletterte in eine Loge und beschimpfte die Zuschauer, forderte die Journalisten auf, zu einer Aussprache auf die Bühne zu kommen, falls sie keine Feiglinge seien.
Die Fortsetzung erzählt der Dichter so:
Am Tag nach dieser Manifestation beschimpften uns fast alle Zeitungen. Im Petit Matin, der auflagenstärksten Tageszeitung Frankreichs, prangerte mich ein Artikel auf der ersten Seite als ,potentiellen Mörder‘ an. Die Concierge des Hauses, in dem ich wohnte, ein entsetzlicher Drachen, ging sogleich aufs Polizeirevier, um zu melden, daß der Mörder (sic!) am Quai Bourbon Nummer 41 wohne. Der Kommissar, der in seinem Wörterbuch nachschlug, wies sie darauf hin, daß potentiell nichts weiter bedeute, als daß ich ein möglicher Mörder sei. Ein fettes Trinkgeld zu Neujahr beruhigte sie schließlich. Als ich ihr den Geldschein gab, erlaubte ich mir zu sagen: Mörder geben keine Trinkgelder!
Langsam aber trieb die aktionistische Hektik der Gruppe um Tristan Tzara ihrem Höhepunkt zu, die Provokationen nutzten sich ab, das Interesse an dem permanenten Zirkus erlosch allmählich. Die Freundschaft zwischen Tzara und Breton zerbrach, der Surrealismus, der mit den Magnetischen Feldern seinen Anfang genommen hatte, konstituierte sich als offizielle Bewegung. Seiner Intention nach war der Surrealismus – und André Breton hat das immer wieder betont – nicht eine neue literarische Richtung, sondern er wollte einen neuen Lebensstil, eine neue Erlebnisweise begründen, was die Schaffung neuer Verhältnisse, also die Revolution einschloß. Es ging darum, wie Soupault es ausdrückte, das Blei im Kopf zu schmelzen, um daraus surrealistisches Gold zu machen. Dieses Blei nun zum Schmelzen zu bringen, schreckte man vor keinem Skandal zurück, darin den Dadaisten durchaus gleich, wie der Verlauf des Banketts Saint-Pol-Roux bezeugt.
Die Surrealisten bewunderten und schätzten Saint-Pol-Roux und fanden sich Anfang Juli 1925 zu einem vom Mercure de France gegebenen Festessen zu Ehren des Dichters im Restaurant Clos des Lilas ein. Als die Frau des Verlegers sich im Verlaufe des Banketts zu der Aussage hinreißen ließ, „eine Französin könne, nie einen Deutschen heiraten“, war für die Surrealisten, die damals einen Deutschlandkult trieben, weil Deutschland für den von ihnen gehaßten und verachteten französischen Bürger der Erbfeind darstellte, das Maß voll. Breton stand gemessen auf und wies Madame Rachilde darauf hin, daß ihre Erklärung eine Beleidigung für seinen Freund Max Ernst sei, der immerhin zu diesem Essen geladen war. Plötzlich flog ein Stück Obst durch die Luft und traf eine der offiziellen Persönlichkeiten. Philippe Soupault schwang sich an den Kronleuchter und fegte mit seinen langen Beinen alle Teller, Gläser und Flaschen von den Tischen, während Michel Leiris „Es lebe Deutschland“ und „Nieder mit Frankreich“ rief. Die Schlägerei, die darauf folgte, setzte sich auf dem Boulevard Montparnasse fort, wo Michel Leiris beinahe von der Menge gelyncht worden wäre.
Die Presse griff diesen erneuten Fall einer Provokation auf. Die Rechtspresse ging so weit, einen totalen Boykott der Surrealisten zu fordern. Keine Zeitung, kein Verlag sollte etwas von ihnen veröffentlichen, zumindest so lange nicht, bis sie sich gesittetere Manieren angewöhnt hätten. Eine Aufforderung zum Berufsverbot, wenn man es genau nimmt, jenem Druckmittel, zu dem jene so gern greifen, die die Macht besitzen. Mit ihren Reaktionen unterstrich die Presse jedoch den revolutionären und revolutierenden Charakter dieser Manifestationen. Wie schon die Dadaisten wurden auch die Surrealisten als eine Gruppe gefährlicher Anarchisten verschrien. Doch der Fluch der bürgerlichen Gesellschaft, den die Presse zum Ausdruck brachte, entmutigte die jungen Dichter nicht. Im Gegenteil: die Angriffe gegen das patriotische Establishment werden immer heftiger. So heißt es in einem 1925 veröffentlichten Text unter anderem:
Wir greifen diese Gelegenheit beim Schopfe, um uns öffentlich von allein loszusagen, was, in Worten und Taten, französisch ist. Wir erklären, daß wir den Verrat und alles, was auf die eine oder andere Weise der Sicherheit des Staates schaden kann, viel eher mit der Poesie vereinbar finden, als den Verkauf großer Mengen Speck für eine Nation von Schweinen und Hunden.
Diese provokatorischen Äußerungen und Aktivitäten gehörten zu dem, was André Breton einmal das surrealistische Abenteuer in den verschiedensten Bereichen nannte, Abenteuer, die sowohl in der Sprache als auch auf der Straße stattfinden können. So forderte er bereits im Ersten Manifest der Surrealisten die praktische Anwendung der Poesie, ihre Umsetzung in die Praxis („pratiquer la poésie“), womit er die Poesie nicht nur als literarische Gattung versteht, sondern als ein Verhalten im täglichen Leben, als eine Lebensform.
Die Experimente mit der automatischen Schreibweise, denen sich die Surrealisten, vor allem aber die Autoren der ersten surrealistischen Texte damals hingaben, gingen zum Teil über den Akt des Schreibens hinaus und Soupault erinnert sich in seinen bereits zitierten Memoires de l’oubli:
Das Experiment des Schreibens schien mir noch zu begrenzt. Ich wollte die Poesie in Handlungen verwandeln. Da ich es für richtig gefunden hatte, daß man alles schreiben konnte, was einem durch den Kopf ging, wollte ich wissen, wie sich die andern, die Passanten, ,die Leute von der Straße‘ ausdrücken. Es scheint, daß ich die Passanten fragte: „Wissen Sie, wo Philippe Soupault wohnt?“ Manche zuckten nur die Schultern und gingen weiter, andere versuchten mir höflich Auskunft zu geben. Ein andermal wollte ich bei einer Concierge Orangen kaufen und bei einem Blumenhändler eine Wurst. Ich ging in eine Kneipe und schlug einem meiner Nachbarn vor, unsere Getränke zu tauschen, ein Glas Portwein gegen ein Viertel Vichy-Wasser, eine Picon-Grenadine gegen eine Zitronenlimonade. Elegant gekleidet lieh ich mir eines Abends die Mütze eines Bettlers und bettelte an seiner Stelle. Dann wieder öffnete ich, obgleich schönes Wetter herrschte, einen Regenschirm und bot einer Passantin an, sie nach Hause zu begleiten. Am 2. August, meinem Geburtstag, zündete ich in einer kleinen Grünanlage Zeitungen an und wärmte mir die Hände. An einem anderen Tag schwang ich einen Kerzenleuchter und bat einen strengen Greis um Feuer, damit ich meine Kerze anzünden könne. In Begleitung André Bretons ging ich in ein Farbengeschäft, um Vögel zu kaufen, exotische wenn möglich. Es waren unmotivierte Handlungen, die jedoch lebhafte und interessante Reaktionen hervorriefen… Meiner Meinung nach waren es gelebte Gedichte…
Es war die Zeit, in der Soupault mit einer solchen Begeisterung an allen Schlachten der Dadaisten und der Surrealisten teilnahm, daß sein Biograph Henry-Jacques Dupuy ihm ein ausgesprochenes Genie als Impresario des Skandals bescheinigte. Aber dann wird auch er dieses Treibens müde. Er sitzt wieder in den Pariser Straßencafés und gibt sich dem Fernweh hin, beschreibt träumend seine Fluchten in die Fremde, „ein Reisender ohne Gepäck…, der seine Reisen in die Imagination verlegt“, wie Hans T. Siepe schreibt. Diese Thematik des Reisens hatte Soupault bereits in die magnetischen Felder eingebracht, eine Thematik, die sich sowohl in den frühen Gedichten von 1917 als auch in den späteren, nach dem Bruch mit den Surrealisten entstandenen findet. Gerade diese Konstante des Themas jedoch trug ihm immer wieder den Vorwurf ein, Evasionsliteratur zu schreib en, sich der Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entziehen. 1928 urteilte Aragon abschätzig: „Philippe Soupault macht seit einer wachsenden Anzahl von Jahren Literatur mit dem Verb abreisen“ („partir“). Indirekt scheint Soupault diesen Vorwurf, den Problemen des Alltags durch die Literatur und die Dichtung zu entfliehen, zu bestätigen, wenn er in den Memoires de l’oubli bekennt:
Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht die Dichtung gekannt hätte; ich habe mein Leben der Dichtung gewidmet. Ich weiß, daß es eine Befreiung ist, daß ich mich dank ihrer löse, daß ich fliehe… Durch sie begegne ich einem Ich, das, und dessen bin ich sicher, aufrichtig, natürlich, ohne Hintergedanken ist…
André Breton äußerte sich damals – aber das war unmittelbar nach dem Bruch zwischen Soupault und der surrelistischen Gruppe – ähnlich, urteilte jedoch später, 1952, weitaus milder und auch gerechter über den früheren Mit-Autor und Freund:
Sein Beitrag zur surrealistischen Gruppe bestand in einem geschärften Sinn für das Moderne, das, was wir damals modern nannten, ohne uns zu verhehlen, was an diesem Begriff alles unbeständig war. Er brachte hier beneidenswerte, natürliche Anlagen mit. Vor allem aber schien er den ,poetischen Plunder‘, den Rimbaud nach seinem eigenen Eingeständnis nie auszuschalten vermocht hatte, überwunden zu haben. Ohne jeden Zweifel war er damals der einzige, dem es gelang, das Gedicht so zu belassen, wie es kam, es vor jeder Reue zu schützen. An jedem beliebigen Ort – in der Kneipe zum Beispiel, wo er rief: „Kellner, etwas zu schreiben“ – konnte er der Bitte um ein Gedicht nachkommen. Das Gedicht endete – ich möchte fast sagen, es fiel wie eine Katze auf die Pfoten – bei der ersten von außen kommenden Störung. Was bei einer solchen Methode oder Nicht-Methode herauskam, war von ziemlich unterschiedlichem Interesse, doch es hatte zumindest unter dem Blickwinkel der Ungezwungenheit und der Frische stets einen Wert.
Was Thomas M. Scheerer über Die magnetischen Felder sagt, nämlich, daß „man nicht den Fehler machen (sollte), in den Reisen und Spaziergängen, die die große thematische Einheit des Buches ausmachen, ein Fliehen vor der Welt zu sehen“, gilt im gleichen Maße auch von den Gedichten. Gerade für Soupault ist der Kontakt mit der Umwelt eine „ästhetische Konfrontation“.
Das Erlebnis der Stadtlandschaft ist eine weitere Konstante nicht nur bei Soupault, sondern bei allen Surrealisten, die daraus geradezu einen Kult machen. Für Soupault ist das Erleben der Stadt zunächst einmal eine visuelle Erfahrung, die keine Wertung erfährt durch ein wie auch immer geartetes Auswahlprinzip. Scheinbar zusammenhanglos stoßen in seinen Gedichten die verschiedensten Eindrücke aufeinander, wobei alles den gleichen Stellenwert hat, ein Schnupfen, ein Baum an einem Fluß, die Nacht, der Tag, die Angst vor einer Erkältung, der Wind oder das Reisefieber. Daß sie sich nicht gegen die Realien des Alltags sperrt und selbst Banales transportiert, macht den Reiz und den Zauber dieser Poesie aus. Die Abkehr von der Tradition ist bei Soupault viel eindeutiger und konsequenter als bei seinen surrealistischen Freunden Breton und Aragon. Ihre Lyrik zeichnet sich immer noch durch „tropische Üppigkeit“ beziehungsweise „bestechende Rhetorik“ aus, wie es Henry-Jacques Dupuy formuliert, während die Gedichte Soupaults aus den frühen zwanziger Jahren nüchtern, um nicht zu sagen prosaisch sind. Seine Sprache hat nichts Überhöhtes, sie ist nach dem patriotischen Pathos der Kriegsjahre bewußt um äußerste Einfachheit bemüht. Seine Gedichte sind schmucklos und unprätenziös, und „was der Bildungsbürger als geschmacklos verwirft“, war für ihn der Inbegriff des Modernen. Immer wieder greift Soupault in seinen Gedichten die etablierte Ordnung der Welt an, stellt sie auf den Kopf, überrascht durch inkongruent erscheinende Bilder. Oft genug ist die Logik in seinen Texten aufgehoben, denn Logik ist für ihn ein Kunstgriff, den es zu bekämpfen gilt, und in dem Essay über die Poesie äußert er sich:
Gelingt es einem, sich zu befreien, kommt man sehr rasch zu der Überzeugung, daß die Kontaktaufnahme mit der Welt sowie die Vorstellung von dieser Welt tatsächlich von Trieben beherrscht sind, die nicht von der Logik kontrolliert werden.
Es ist also nicht „die Intelligenz, die aufs Altenteil gesetzt wird“, wie Elisabeth Lenk vermutet, sondern die Logik. Erst in den späteren Gedichten schleicht sich ein feierlicherer Ton ein, mythisch-metaphysische Elemente, wie wir sie etwa in immer das Gleiche finden. Es ist der Zeitpunkt, wo die Gedichtproduktion etwas ins Stocken gerät, was sicherlich auch an den Produktionsbedingungen gelegen haben mag, falls stimmen sollte, was er einmal in einem Interview über seine Voraussetzungen für das Schreiben von Gedichten sagte:
Schiller zum Beispiel konnte nur schreiben, wenn er reife Äpfel in seiner Schublade hatte, bei mir hingegen ist es der Schnee, der mich in einen Ausnahmezustand versetzt. Ich vergesse nicht, daß mein allererstes Gedicht an einem Tag geschrieben wurde, an dem Schnee fiel. Sobald es zu schneien beginnt, halte ich es nicht mehr aus, dann überkommt mich die Lust, Gedichte zu schreiben. Auch wenn ich den Galopp eines Pferdes höre, empfinde ich einen poetischen Schwindel. Da beides, Schnee und Pferde, in Paris selten geworden sind, erklärt sich daraus vielleicht auch meine etwas spärliche Produktion.
Vielleicht liegt es aber auch daran, daß Philippe Soupault, den alle Äußerungen des Lebens und der Kunst viel zu stark interessieren, als daß er sich bei einer einzigen aufhalten könnte, bereits neue literarische Wege beschreitet. Was ihn jetzt fesselt, ist die Gattung des Romans, und so beginnt er mit dem, was in den Augen der orthodoxen Surrealisten um André Breton eine Sünde wider den heiligen Geist des Surrealismus ist: er schreibt Romane, eine, wie Walter Heist findet, im Charakter Soupaults begründete Folgerichtigkeit:
Wenn man sich Soupaults surrealistische Aktivität in jenen Jahren… heute, rückblickend, vor Augen führt, dann hat man… als vorherrschenden Eindruck den einer – man mißverstehe das Wort nicht – großen Gewissenhaftigkeit. Gewissenhaft exekutierte Soupault all die skandalträchtigen Aktionen, die die surrealistische Theorie verlangte, und gewissenhaft bannte er die surrealistische Sensibilität in seine von Exaktheit vibrierende Gedichte. Gewissenhaft ist es schließlich zu nennen, wenn sich Soupault gegen jeden Versuch wandte, einen automatisch gewonnenen Text nachträglich zu ändern – wozu Breton durchaus bereit war. Diese Gewissenhaftigkeit war es wohl auch, die den mit Worten, Bildern, Aktionen zum Bersten gefüllten Soupault schon früh dazu veranlaßte, sich nicht mit dem lyrischen Wort als Ausdrucksmittel zu begnügen, sondern sich auch der Geschehniswelt des Romans zuzuwenden.
Zwei und manchmal sogar drei Romane erschienen in den Jahren zwischen 1923 und 1929 in den verschiedensten Verlagen, Romane, von denen Kritiker meinen, sie seien neben denen René Crevels die einzigen gültigen Beweise des Surrealismus zu diesem Genre. Vor allem aber sind es Zeugnisse. Zwei dieser Romane liegen inzwischen in der Übersetzung von Ré Soupault, Philippes deutscher Frau, vor, nämlich Der Neger, der 1928 schon einmal in Deutschland erschienen war und zu dem Heinrich Mann ein Vorwort geschrieben hatte, und Die letzten Nächte von Paris.
1927 kam es zum Bruch zwischen Soupault und der surrealistischen Bewegung. Gründe dafür gab es mehrere. Einer davon war der, daß Breton, Aragon und Eluard den Surrealismus zur Politik, und zwar zur Kommunistischen Partei hin orientieren wollten, während eine andere Gruppe, Artaud, Vitrac und Soupault, diese Orientierung ablehnten und sich weigerten, den Surrealismus in den Dienst der kommunistischen Revolution zu stellen. Sie wurden kurzerhand aus der Gruppe ausgeschlossen. Außerdem warf man Soupault in der surrealistischen Zentrale vor, er veröffentliche zuviel, er schreibe Romane, was – ähnlich wie der Journalismus – gegen die Prinzipied des Surrealismus verstieß. Doch trotz des Ausschlusses und entgegen aller Gepflogenheiten des Surrealisten-Papstes ging die Freundschaft zwischen den bei den Gründern des Surrealismus nie in die Brüche und hielt bis zum Tod André Bretons.
In der Autobiographie Profils Perdus gibt uns Soupault seine Version von den Umständen, die diesen Bruch schließlich unvermeidlich machten.
Die Liebe zu einer Frau und zur Revolte um der Revolte willen haben mich von meinen Freundschaften entfernt. Ich dachte nicht daran, den unbestreitbaren und wachsenden Erfolg des Surrealismus auszubeuten. Der Erfolg verätzt wie Säure – oder korrumpiert. Nach sechs Jahren totaler Treue konnte ich die Atmosphäre des gegenseitigen Sich-Beweihräucherns nicht mehr atmen. Ich hatte keinerlei Ehrgeiz, weil ich zu stolz war… ich wollte von den literarischen, ästhetischen und politischen Zirkeln weg…
Nach dem Bruch mit den Surrealisten verschrieb sich Soupault ganz dem Journalismus; er verließ Paris und ging als Reporter für mehrere große Zeitschriften auf Reisen rund um die Welt. Das Leben, seine Abenteuer und seine Erfahrungen interessierten ihn mehr als die Literatur, womit er dem Bestreben, das die surrealistische Gruppe ursprünglich beseelte, treu blieb. Den Wunsch, Paris und Frankreich zu verlassen, hatte er schließlich bereits in seinen ersten Gedichten zum Ausdruck gebracht.
Später baute er in Tunesien, das damals noch französisches Protektorat war, eine tunesische Rundfunkanstalt auf. 1940 löste ihn das Vichy-Regime von seinem Posten ab. Es folgte die Verhaftung durch die Vichy-Polizei und ein halbes Jahr Haft im Militärgefängnis, bis ihm im November 1942 schließlich die Flucht nach Algerien gelang. Von dort aus ging er erst nach Süd-, dann nach Nordamerika. Die Regierung Giraud-de-Gaule hatte ihn damit beauftragt, in Nord- und Südamerika die faschistische Havas-Agentur aufzulösen und die neue Presse-Agentur zu organisieren.
1945 kehrte er nach Paris zurück, wo er später Sendeleiter für die Auslandssendungen des französischen Rundfunks wurde. Über diese Heimkehr lesen wir in seinem Tagebuch Journal d’un phantome:
Mehrere Wochen hatte ich den Eindruck, ein Geist zu sein, Ich kenne jetzt die Eigenheiten der Geister. Geister sind Vertriebene, die lange von ihrer Wiederkehr geträumt haben. Man hat sie nicht vergessen, aber man hat sie ersetzt!
Seit 1977, als Philippe Soupault im Alter von 80 Jahren in Pension ging, arbeitet er an seinen Memoiren, schreibt neue Gedichte und unternimmt Vortragsreisen quer durch Europa.
Eugen Helmlé, Nachwort, September 1982
– Aus den Anfängen des Surrealismus. –
Die surrealistische Bewegung in Frankreich hat mit einer Freundschaft begonnen, der Freundschaft zwischen André Breton und Philippe Soupault, die einander 1917 kennenlernten. Zwei Jahre später schon veröffentlichten sie erste Teile einer in automatischer Schreibweise entstandenen Gemeinschaftsarbeit, der Magnetischen Felder, die Breton im Ersten Manifest des Surrealismus (1924) als das erste rein surrealistische Werk bezeichnet.
Obwohl die Schriftsteller um Breton ihrem literarischen Temperament nach sehr verschieden waren, hielten sie damals noch zusammen. Doch bald darauf kamen ernsthafte politische Meinungsverschiedenheiten auf, und die Gruppe lichtete sich; dabei verlor Breton auch die zwei Mitstreiter, die heute die letzten lebenden Zeugen der ersten surrealistischen Stunde sind: Philippe Soupault (geboren 1897) wurde 1927 ausgeschlossen, Michel Leiris (geboren 1901) sagte sich 1929 los.
Von Soupault sind während der letzten Jahre drei Romane in deutscher Übersetzung erschienen. Aus seinem lyrischem Werk, das an die zwei Dutzend Titel umfaßt, hat jetzt Eugen Helmlé eine Auswahl vorgelegt.
Soupault hatte bereits 1917 in der Zeitschrift SIC als Lyriker debütiert und im selben Jahr seinen ersten Gedichtband, Aquarium, herausgebracht, der Einflüsse von Rimbaud und Apollinaire verrät. Zu größerer Freiheit von Vorbildern ermutigte ihn das Gemeinschaftsexperiment in automatischem Schreiben: Wie er im Rückblick geäußert hat, hätten Breton und er danach Gedichte geschrieben, „die ziemlich verschieden waren von denen, die wir vorher geschrieben hatten“.
Der Titel von Soupaults Debüt-Gedicht lautet Départ (Abreise). Daraus klingt ebenso sehr die Aufbruchstimmung eines jungen Autors, der literarisches Neuland erobern möchte, wie die Neugier eines jungen Menschen, der fremde Länder und Kontinente sehen will (diese Neugier konnte Philippe Soupault später als Journalist und Rundfunkmann stillen). Sie war für seine Generation sehr zeittypisch und entsprang nicht zuletzt dem Schock, den der Erste Weltkrieg ihr versetzt hatte. Andere Länder, zumal England und Amerika, stellte man sich schöner und besser vor als Frankreich („Alle Städte der Welt/Oasen unserer verhungerten Verdrüsse“); hinzu kam ein unbestimmtes, aber heftiges Lebensgefühl von Modernität, das sich noch aus ungebrochener Bejahung neuzeitlicher Technik und großstädtischer Zivilisation speisen konnte.
Auch wenn Soupaults frühe Gedichte in den produktivsten Jahren des Surrealismus geschrieben worden sind – man sollte sich ihnen tunlichst ohne die Erwartung einer spezifisch surrealistischen Machart nähern. Soupaults Blick ist ganz nach außen, nicht nach innen gerichtet. Es ist ein Blick, den Wirklichkeitshunger und Reiselust schärfen („Ich spazierte einen Sommer lang durch London / mit brennenden Füßen und das Herz in den Augen“, heißt es in Westwego“; durch ihn entstehen Bildausschnitte und Momentaufnahmen, auf den das Alltägliche leuchtende Umrisse annehmen kann – mit solcher Leidenschaft wenden sich ihm Herz und Auge des Betrachters zu. Die bei manchen Surrealisten beliebte Doppelbelichtung braucht Soupault nicht zu bemühen, und wenn bei ihm einmal die Seinsordnung durcheinandergerät, wenn ein „Elefant in seiner Badewanne“ auftaucht, dann entspringt das eher einer Vorliebe für den Jokus von Jahrmarkt und Bilderbuch als dem Wunsch, geheime Zusammenhänge der Bedeutsamkeit herzustellen. Die Welt, wie sie der Lyriker Philippe Soupault sieht, ist so voller Überraschungen, daß sie keine Hinterwelt braucht.
Den schnörkellosen, bei aller Eindringlichkeit so kargen Duktus dieser Gedichte hat Eugen Helmlé, Übersetzer und Herausgeber schon der Magnetischen Felder, nicht angetastet. Möglichst kein Wort, keine Silbe mehr, als die Vorlage enthält, scheint der Leitsatz für seine Arbeit gewesen zu sein. Es ist der beste und einzig richtige, denn nur allzu leicht wird durch falsche Poetismen aus einem guten Lyriker in der Übersetzung ein mittelmäßiger Stimmungsdichter. Und mit seinem Nachwort, das durch eine biographische Zeittafel und eine umfassende Bibliographie ergänzt wird, tut Helmlé ein übriges, uns Philippe Soupault als das vorzustellen, was er ist: ein Autor, mit dem wir uns einlassen können.
AUS WÖRTERN FLIESST DIE KRAFT
Für Eugen Helmlé I
Du backtest seinerzeit Nußstückchen, Kuchen, Torte.
Es ging die Hefe auf, erfüllte ihren Zweck:
aus sieben Sachen wuchs das zarteste Gebäck.
Dem Tüllenmund entquoll aus Sahne eine Borte.
Es wechselte die Zeit. Du wechseltest die Orte.
Du wechseltest das Hand-, das ganze Werkbesteck.
Das Wechselgeld als Lohn ist nun Verrechnungsscheck.
Und was einst Hefe war, sind heutzutage Worte.
Was bleibt, ist immer gleich, ist nichts als das begehrte,
dem Leben teure Gut: das Einverleibenswerte,
ist das, was hungrig macht, das Haben und das Sein.
Aus Wörtern fließt die Kraft in üppiger Verschwendung,
aus jedem Adjektiv, aus jeder Verbenendung:
der Mensch, das ist gewiß, lebt nicht vom Brot allein.
GESEGNET SEI DER WEIN
Für Eugen Helmlé II
Es kam der schöne Tag, da hat es Geld geregnet.
So ist die schwere Zeit mit einemmal versunken.
Was willst du damit tun nach jahrelangem Unken?
Ich kaufe guten Wein, hat ER darauf entgegnet.
Der Rote aus Anjou dem Nuit-Saint-Georges begegnet,
es leuchtet der Bourgueuil, schlägt seine wilden Funken,
ein jeder hebt sein Glas, nachdem ER vorgetrunken,
ja, manche trinken nur, was Eugen schon gesegnet.
Gesegnet sei der Wein. Verdammt sei, wer da klagt.
Franzosen kennt ER wohl, bei denen ER auch probt,
und wo ER, fachgerecht, auch andre Weine lobt.
Man lädt IHN zu sich ein, ER ißt, ER trinkt, ER sagt:
Da geh ich gerne hin und regaliere mich,
die trinken allesamt den gleichen Wein wie ich.
DU WENDEST JEDES WORT
Für Eugen Helmlé III
Du bist der kleine Helm auf Deinem großen Haupt,
auf das sich niedersetzt der Jahre weißer Schnee.
Doch rötet sich das Blatt, entbindet die Idee:
Es ist Dein Silberwald noch lange nicht entlaubt.
Die Spracherwartung, horch, ist schließlich hoch geschraubt.
Du buchstabierst und schreibst ein zweites ABC
mit A und O und U, mit I, doch ohne E
und hast dem Wörterbuch die Häufigkeit geraubt.
Jarry, Queneau, Perec: Du wendest jedes Wort,
bevor es, ausgepicht, im Digitaltransport
von einem Ufer aus zum andern übersetzt.
Gehärtet, spröd und dicht: so wechselt es den Ort,
war festumrissen hier, ist ausgependelt dort
und scheint doch luftig, leicht, durchsichtig bis zuletzt.
Ludwig Harig
Philippe Soupault spricht über den Surrealismus.
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