II.
Wer ist denn noch am Leben
in der Straße von San Zuàn,
hinter diesen Mauern,
verloren in gefrorner Luft?
Es schlägt eine Glocke.
Ich bin gestorben.
II.
Heimkehr! Wort
meiner Zeit, da der Mensch
wie der Same
sein Feld braucht.
Man muss nicht gehen,
um heimzukehren.
Wer geht, der geht auf geradem Weg
und endlos
war der Gedichtband Poesie a Casarsa von 1942, geschrieben in der Sprache des Städtchens Casarsa im Friaul. Pasolinis Liebe galt einer von ihm nie gesprochenen Muttersprache, einer Sprache des Begehrens nach einer anderen, eigenen, vor allem nicht väterlichen und nicht faschistischen Herkunft. Das Friulanische, den Dialekt seiner Mutter Susanna, hat der kaum Zwanzigjährige zu einer Kunstsprache erhoben, die das mütterliche Idiom den symbolischen Formen Pascolis und d’Annunzios anverwandelte. Diese ihm immer schon verlorene, nur durch philologische Rekonstruktion zugängliche Sprache eines anderen Ich greift Pasolini über dreißig Jahre später noch einmal auf. In seiner letzten Buchveröffentlichung zu Lebzeiten La nuova gioventù von 1975 wiederholt er seine frühesten Gedichte und erhebt dabei ihre Sprache zur Sprache des Paradieses, zur Sprache des Eros der „bessern Jugent“, zur Sprache auch seines politischen Kampfes gegen den Übergang einer archaischen, agrarischen Ordnung in ein neues, globalisiertes System der Massenkultur. Die erste Übersetzung ins Deutsche macht die erstaunliche Struktur dieser Obsession sichtbar: Gedicht gegen Gedicht, cuárp dentro cuárp, leyp wider leyp.
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2009
Was bei der Vorstellung dieses Buches (setzt man den Gebrauch des friulanischen Dialekts und das Friaul als selbstverständlich voraus) am meisten zählt, ist eine, vielleicht sogar außergewöhnliche, technische Anomalie: die Wiederholung des Buches.
La meglio gioventù (1941–1953) und La nuova forma de ,La meglio gioventù‘ (1974) weisen fast zur Gänze die gleichen Titel, die gleichen Verse, die gleichen Reime auf, oft auch die gleichen Wörter. Ich glaube, daß hier von einem regelrechten literarischen Ereignis gesprochen werden kann.
Im Grunde ist die Wiederholung des Buches rein formaler Natur: metrisch, prosodisch, vielleicht mimetisch. In der Tat unterscheidet sich der vor zwanzig-dreißig Jahren entstandene Band La meglio gioventù von seiner Neufassung vor allem dadurch, daß darin zwei oder drei potentielle Bücher aufblitzen und flottieren. Sie können nicht zur Gänze ans Licht kommen und auch nicht klar erkannt werden, sind sie doch vom (oft ehrlich gelungenen) chan plor des Narzissmus überschwemmt: also vom Buch eines Ich, das sich in Manier neu erschafft und ,im Falsett‘ singt, wie Franco Fortini bemerkte. Diesem ,Ich‘ entsprechen falsche Objektivierungen in jungen bäuerlichen Subjekten. In einen solchen Teufelskreis hält die Obsession Einzug, von der, wie gesagt, die anderen möglichen Bücher dieser ersten friulanischen Phase aufgesogen wurden. Ein Buch der sozialen Revolte (?) und ein Buch der bäuerlich-epischen Repräsentation (Ramuz, Babel, was auch immer…).
Im zweiten, wiederholten Buch, La nuova forma de ,La meglio gioventù‘, habe ich dem Leser wohl um einiges weniger meiner Tränen zugemutet. In dreißig Jahren kann man sich schon ein wenig verändern. Abgesehen davon ist der Gegenstand des zweiten Buchs nicht selten das erste, in eigentlich ideologischem und fast analytischem Sinn. Die Obsession geht also weiter, auf die eine oder andere Weise. Der Wiederholungs-Wahnsinn, die Bestürzung, niemals das letzte und letztgültige, oder zumindest triftige Wort gesprochen zu haben in Bezug auf das einzige, was mir am Herzen liegt.
Nichtsdestotrotz erhebt „Die zweite Form“ eine objektive Wirklichkeit zum Inhalt: eine neue Praxis der Verhöhnung der Geschichte (die ich, nichtsahnend, in meinen fernen Lehrjahren ausübte) und, zur gleichen Zeit und in Widerspruch dazu, die Probleme der offiziellen und aktuellen Geschichte: wobei der Akzent auf den Untergang der bäuerlichen Welt und die darauffolgende Zertrümmerung (man gestatte mir dieses vage subkulturelle Zitat) des orphischen Eis gelegt wird. Die ewige Wiederkehr ist zu Ende: die Menschheit ist durchgedreht. Neue ,Dämonen‘ stützen dieses Phänomen und halten dabei immer noch dümmlich fest an einer Revolution der Armen.
Es bleibt das Buch, nicht jedoch das Wort. Recht behält der schlimmste Paulus, nicht der Ekklesiastes. Die Welt ist eine große graue Kirche, in der es nicht von Bedeutung ist, ob die Pflichten von der Edonè oder der Agàpe auferlegt werden. Die ganze Zukunft besteht in der Kodifikation der Entwicklung von Seiten des historischen Kompromisses. Das ist, schließlich, das Thema von „Dunckler Enthusiasmo“, der letzten Sektion des Buches bzw. des dritten Buchs: beinahe ein Anhang, der nichts mit dem übrigen zu tun hat…
Pier Paolo Pasolini in: La nuova gioventù, Garzanti, 1974
aus dem Italienischen von Theresia Prammer
– Pier Paolo Pasolinis friulanische Gedichte. –
Pier Paolo Pasolini hat Gedichte geschrieben, schon seit früher Kindheit, fast sein gesamtes Leben lang. 1941, mit Neunzehn, und in den folgenden Jahren verfasste er sie in der Regionalsprache der Region, in der er bei seiner Mutter aufgewachsen war, im Friaulischen, und transponierte damit einen vorwiegend oralen Dialekt aus dem Nordosten Italiens in Verse, als künstliche, durchwirkte Eigensprache.
Pasolini hat seine frühe Lyrik wiedergelesen, wiederholt und überschrieben, durchgestrichen: in Überarbeitungen und Variationen, in der die Sammlung der Gedichte aus den Jahren 1941 bis 1953, La meglio gioventù, die besser Jugent, eine zweite Form annimmt oder bekommt: Seconda forma de „La meglio gioventù“. Das Buch, in dem diese Verse stehen, ist „zweimal geschrieben“, „ge-“ oder „verlebt und wiederbelebt“, Körper gegen Körper [„chistu libri scrit dos voltis, / vivùt e rivivùt, cuùrp drenti un cuùrp“], so steht es noch vor der Widmung. Und er hat diesen Gedichten 1973/74 neue italo-friulanische Gedichte beigestellt.
Im Verlag Urs Engeler Editor, einem der interessantesten, der wichtigsten Verlage für Lyrik, für dichte Prosa, für Theorie und Praxis der Lektüre, Erscheinungsort etwa der récits Maurice Blanchots, der versförmigen fachsprachen-Enzyklopädie von Ulf Stolterfoht, und, gerade, von Ulrich Schlotmanns singulärem Männlichkeitsgewaltsprachenmassiv Die Freuden der Jagd, in diesem Verlag ist eine Auswahl der friulanischen Gedichte Pasolinis unter dem Titel der späten Sammlung, Tetro entusiasmo / Dunckler Enthusiasmo, nun erschienen. Es ist ein unwahrscheinliches Buch, ein, wie noch jedes Buch von Urs Engeler, schönes Buch, dezent gesetzt aus der Garamond, links der Text aus den 40er Jahren, auf der ungeraden Seite rechts gegenüber jener aus den 70ern. Wo nur einer von beiden existiert, bleibt die andere Seite frei. Links und oben jeweils die deutsche Übertragung, darunter, rechts eingerückt und ungefähr zwei bis drei Punkte kleiner, das Original.
Die Gedichte sind in ihren Überarbeitungen durch Pasolinis Leben, durch sein Werk, auch sein filmisches hindurchgegangen, aber es hat sich nicht merklich etwas abgelagert an ihnen, was sie nun als kinematographisch zu charakterisieren erlauben würde. In ihren Lenkungen und Fügungen, von Blicken und Stimmen, von Geräuschen und Tonalitäten, von Topoi und materiellen Orten weisen alle Gedichte, auch die frühen, Züge auf, die mit den optisch-akustischen Situationen der in ihrer zeitlichen Nähe entstehenden neorealistischen Filmen genauso kommunizieren wie mit dem Neorealismo der sozialen Mehrsprachigkeit von Dantes Vita nova und Comedia. Man kann in ihnen freilich finden, was Pasolinis Romane, theoretische Texte, Filme umtreibt, als Motive, auch als Strukturen: eine auf Realien stossende Mythopoetik; Leben, Sprechen und Heiligkeit der infamen Menschen („im Angesicht der Heiligkeit / dieser Menschen [der Arbeiter, der Jungen]“ heisst es in einem späten Gedicht); Freilegungen von Faschismuslinien – Züge, die sich auch zu seinem idiosynkratischen Kommunismus, einem „marxistischen Humanismus“ addieren. Aufgehen wollen die Gedichte in diesem Finden nur selten.
Die dem zweifachen Buch von der neuen Jugend vorausgehende doppelte Widmung macht aus ihm gleich eines für alle und keinen: Der „Quell von Wasser aus meinem Dorf / […] / Quell ländlicher Liebe“, wie er den Gedichten an Casarsa (Teil I. von La meglio gioventù) vorangestellt ist, wird in der Überarbeitung gleich mehrfach negiert, umgeschrieben zum „Quell von Wasser aus einem Dorf, nicht meinem / […] / Quell von Liebe für Niemanden“. Dieses Versagen und Versiegen setzt die Tonart für die Wiederholungen; Wendungen der Negation, des „keiner“ oder „Nicht“, „nissùn“ und „nuja“, strukturieren sie. Pasolinis poetische negative Dialektik entsteht freilich nur im Widerspiel, im Zusammenlesen dieser mitunter plakativen Konfrontation, die etwa eine Industrie-, eine Kloakenlandschaft des Gedichts eröffnet: Wo der „Maulbeerstrauch“ stand (Regen über Grenzen), sind „Neubauhäuser[ ] und Asphalt“ (Regen weit von allem); „Süsser Duft Polenta“ (Ins Dorf zurück) wird, auf der Gegenseite, „gelöscht von der Geschichte, / der verfluchten Geschichte, / die ich nicht will, sie ist nicht mein“. Skizzieren die frühen Gedichte – auch vor dem Hintergrund bukolischer, idyllischer Motive – oft noch eine ambivalente Bewegung des Zu-auf, wenn auch einen unverfügbaren Ort, werden in den Überarbeitungen Figuren des Rückzugs und Entzugs – auch durchaus jenes Gottes, vor allem aber des Menschlichen – prägend. – „Ach Kind, ich hab mein Herz / in einem weissen Weiler im Friaul.“ Demgegenüber: „Menschlichkeit kam Dir abhanden, / mir nur dieses Land.“ (Romancerillo).
Die Gedichte ringen 1973/74 mit der Möglichkeit einer politischen Eschatologie; sie stellen dabei immer noch Fragen eines gemeinen Kommunisten, Domande di un comunista comune, so der Titel eines Gedichts aus dem Duncklen Enthusiasmo. Es sind rhetorische Fragen in analytischen Gedichte, die auf die sprachliche Fassung des Sozialen, Politischen, der Geschichte zielen. Das Italienische, von Pasolini gefasst als Sprache der Bourgeoisie einerseits wie als technisiert-normalisierte Sprache anderseits, besitzt nach einem sprachtheoretischen Essay Pasolinis in Empirismo eretico, der die Sprachpolitiken & -poetiken vor allem der 50er Jahre kartographiert, eine „gewaltige Zentrifugalkraft“. Dieser zu entkommen ist Kern seiner Sprachpoetik der Schichtungen und Mischungen, deren Agent etwa die freie indirekte Rede ist, und nicht zuletzt der sprachpolitische Einsatz insbesondere auch seiner friulanischen Gedichte.
Christian Filips, ein junger Lyriker, übersetzt diese gleitend, nicht exakt: Er löst sich von den einfachen Kadenzen und Reimstrukturen, die das Friulanische Pasolini an die Hand gab, setzt schroff tonale und sprachgeschichtliche Differenzen, wo bei Pasolini mitunter keine sind, etwa zwischen früher Fassung und später Überarbeitung. Er stellt damit aber auch Sprachschichten in einem Gedichtzusammenhang aus, überakzentuiert sie, legt das Vor-und-Zurücklesen nahe. In der Selbstdarstellung des Übersetzers, die, am Ende des Buches, ganz gemäss der Dualpräsentation und Wiederholungsstruktur Pasolinis Autopresentazione dell’ autore folgt, fächert Filips, in zumindest nicht gänzlich absurder Unbescheidenheit Richtung und Repertoire seiner Übertragungen auf: „vokalgeleitetes Hochdeutsch, das mitunter vielleicht an Hofmannsthal oder Trakl erinnert und den hohen Ton des Decadentismo gemahnt“, „die flüchtige Mündlichkeit von Flüchen, Interjektionen, Ellipsen, Slang“, „die mystische Innigkeit des späten Mittelhochdeutsch“, der „bürgerliche Ton des unterschwellig sexualisierten Kunstlieds des 19. Jahrhunderts“, „eine soziologisch-marxistische Fachsprache“, das „prophetische Deutsch der Bibelübersetzung Martin Luthers“: Auch ein Sendbrief vom Dolmetschen. Man muss ihm darin nicht folgen, auch nicht seiner Bresche in die Gegenwart, die er für Pasolini als Propheten eines Ökonomisch-Sozialen, das da kommen mag, im Nachwort schlagen will, um seine grosse Leistung zu erkennen. Pasolinis friaulische Gedichte fallen, auch dies ein gefährlicher Topos, gewiss, aus der Zeit oder vielmehr den Zeiten: sie sind, gerade auch in Filips’ Übertragung, ein Archiv, in dem Längst- und jünger Vergangenes – Redeweisen, Lebensformen, Land & Sprache als Subjekt und Material der Geschichte – zusammenschiessen können. Die Atti impuri, die einem von Pasolinis ersten langen Prosatexten aus der friulanischen Zeit den Titel geben, sind nicht nur die unreinen, unkeuschen (homosexuellen) Handlungen, sie bezeichnen poetologisch eben auch die Sprachtaten und Sprechakte, aus denen sich dieses Archiv formiert.
Aus seinen Freibeuterschriften wissen wir, wie vehement Pier Paolo Pasolini sich gegen die Zerstörung der gewachsenen Kultur durch den Konsumismus engagiert hat. Sein Haß auf die Verleugnung der „alten kulturellen Modelle“ verdankte sich seiner Bindung an die ländliche Welt seiner Jugend. Pasolini war Regionalist – nicht nach Herkunft, aber in seinem Begehren. In Bologna geboren, sah er den kleinen friulanischen Ort Casarsa, aus dem seine Mutter stammte, als seine wahre Heimat an. So liebte er auch den Dialekt des Friaul und begann in ihm Gedichte zu schreiben – jene Poesie a Casarsa (Gedichte an Casarsa), die 1942 als erste Veröffentlichung des kaum Zwanzigjährigen erschienen. Es sind Gedichte, die den Zungenschlag des ländlichen Friaul mit Elementen der hermetischen Kunstlyrik verbanden.
Der Eingang schlägt Pasolinis Lebensthema an. „Fontana di aga dal me país“, heißt es da:
Quell vom Wasser aus meinem Dorf.
Ist kein frischer Wasser als in meinem Dorf.
Quell von ländlicher Liebe.
Zwar erschien das Bändchen solcher Bukolica im Selbstverlag, doch eine Besprechung des renommierten Kritikers Gianfranco Contini verschaffte ihm Resonanz. Pasolinis wechselvolle literarische Laufbahn war eröffnet.
Gegen Ende seines Lebens kam Pasolini noch einmal auf die Gedichte an Casarsa zurück. 1974 revidierte er sie, schrieb Stück um Stück neu, als Kontrafakturen der frühen Verse. Die Arbeit enstammte der Angst, nicht alles gesagt zu haben „über die einzige Sache der Welt, die mir am Herzen liegt“. Die neue Version „Seconda forma de ,La meglio gioventú‘ erscheint in der Fassung des Übersetzers Christian Filips, der ganze Passagen in einem altertümelnden Idiom wiedergibt, als „Der ,Bessern Jugent‘ zweite Form“. Hinzu tritt ein weiterer, dritter Part, Pasolinis „Tetro entusiasmo“. Oder, wiederum in Filips älterem Deutsch: „Dunckler Enthusiasmo“.
Dieser etwas pompöse Titel steht nun – anstatt eines schlichten „An Casarsa“ über dem gesamten Band. Doch sei’s drum. Das dreiteilige Unternehmen ergibt ein interessantes, vielschichtiges Gefüge. Die frühen Versionen der Gedichte an Casarsa leben ganz in der emphatisch gefeierten Bukolik. Die „seconda forma“ dagegen ist durchdrungen von Reflexion, von Skepsis und Zweifel. Der ursprüngliche Eingang wird ins Negative gewendet: „Fontana di aga di un país no me“, heißt es nun. Oder mit Filips:
Born von wasser aws eyn dorff, nit meyn.
Jst keyn wasser fawl als jn dem dorff.
Born von lieb zu keyn.
Das muß man zweimal lesen, wenn man es denn goutiert. So virtuos Filips sein Idiom handhabt – seinen Gebrauch vermag er nicht schlüssig zu begründen. Er selbst sagt im Nachwort:
Jede Übertragung eines Dialekts muss seine Landschaft zerstören.
Heikel gerät auch der Versuch, Pasolinis politische Radikalisierung im „Tetro entusiasmo“ nachzubilden:
die alten Antifas, das seyn: die wahren Faschisten…
das sind die Leader der Akkulturation, sie rühren
nicht nur an die Seele, sie saugen die Mitte ihr aus.
Filips archaisierende Manier darf für sich in Anspruch nehmen, die Fremdheit und Sperrigkeit von Pasolinis Texten anzudeuten. Unbefriedigend bleibt sie trotzdem. Man respektiert sein Bekenntnis, er habe aus persönlicher Obsession übersetzt, nämlich im Dienst einer politischen Vision. Filips glaubt, im Zeichen der heutigen Rezession habe eine Entwicklung begonnen, „die Pasolinis letzten Prophetien neue Geltung verschafft“. Ob aber ein artifizieller Archaismus der Welt aufhilft, darf man bezweifeln.
Harald Hartung, als: Dunkler Enthusiasmus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2010
– Friaulische Gedichte von Pier Paolo Pasolini. –
Pasolini war knapp zwanzig Jahre alt, als er im friaulischen Heimatdialekt seiner Mutter zu dichten begann. Die „Gedichte an Casarsa“ (1941–43) sind eine Hommage an Dorf und Landschaft, an die Archaik des ländlichen Lebens und an die Gestalt der Mutter, die alles Heimatliche verkörpert. Sie handeln aber auch vom Sohn – dem „Kind“, dem „schönen Knaben“ und Narziss –, der Sehnsucht und Selbstbespiegelung in orphische Verse bannt. Das geht nicht ohne Anrufung, nicht ohne den hymnischen Ton jugendlicher Ekstase, darin Gott und Stall, „Laubgeheimnis“ und „welke Rosen“ zueinanderfinden. Gleichwohl ist Pasolini von einem postromantisch-epigonalen Sound weit entfernt, da er den friaulischen Dialekt zu seiner „Paradiessprache“ macht. Der Dialekt bedeutet Unmittelbarkeit und Verfremdung, Volksnähe und Stilisierung zugleich.
Ende der ewigen Wiederkehr
Und sollte die Sprache der Utopie und der Antibürgerlichkeit bleiben. Zwar zieht Pasolini 1949 – nachdem er sechs Jahre als Lehrer in Casarsa tätig war – nach Rom, schreibt dort hochsprachlich-italienische Gedichte, neorealistische Romane, kritisch-polemische Essays und schliesslich Drehbücher, die seine einzigartige Karriere als Filmemacher begründen, doch der Dialekt begleitet ihn. 1974, ein Jahr vor seinem gewaltsamen Tod, nimmt er den frühen friaulischen Casarsa-Zyklus und die „Suite Furlana“ von 1944–49, zusammengefasst unter dem Titel „Die bessere Jugend“, wieder auf und schreibt sie gleichsam neu, indem er Gedicht für Gedicht, Strophe für Strophe variiert. Bei gleichbleibender Sonorität wechseln die Inhalte; was das Leben in der Zwischenzeit schrieb, findet schmerzlichen Eingang in die Verse. „Die ewige Wiederkehr ist an ihr Ende gekommen: Die Menschlichkeit hat sich aus dem Staub gemacht“, kommentiert Pasolini die „Zweite Form der ‚Besseren Jugend‘“.
Dieser Prozess des Fortschreibens bzw. Umschreibens lässt sich in einer schönen zweisprachigen Ausgabe des Urs-Engeler-Verlags nachvollziehen, die überdies den späten Zyklus „Dunckler Enthusiasmo“ enthält. Sie gewährt faszinierenden Einblick in die Werkstatt des Dialektdichters Pasolini – und in die des Nachdichters Christian Filips. Um es vorwegzunehmen: Filips ist der immens schwierigen Aufgabe, für das Friaulische einen deutschen Dialekt (aber welchen?) zu wählen, ausgewichen, indem er den Grossteil der Gedichte in ein „vokalgeleitetes Hochdeutsch“ übersetzt hat, „das mitunter vielleicht an Hofmannsthal oder Trakl erinnert und an den hohen Ton des Decadentismo gemahnt“, einen kleineren Teil aber „in die mystische Innigkeit eines späten Mittelhochdeutschs“ bzw. „in das prophetische Deutsch der Bibelübersetzung Martin Luthers“. Gewagt ist das allemal, schon weil dadurch die Einheitlichkeit des Pasolinischen Tones verloren geht. Zu fremdartig ist die mittelhochdeutsche Stilisierung, zu wenig verfremdet das Hochdeutsch. Vielleicht hätte es eines Pastiorschen Kunstdialekts bedurft, um dem Original gerecht zu werden. Filips’ zwitterhafte Lösung bleibt ein Angebot der Vorläufigkeit; dennoch ergreift man es gern, zumal es durchaus Reize zu entfalten vermag.
Man mache sich nichts vor: Pasolinis „dunckler Enthusiasmo“ liebt das Kryptisch-Hermetische, und dass er sich eines auch für Italienischsprachige fast unverständlichen Dialekts bedient, macht ihn noch dunkler. Doch folge man den liedhaften Intonationen, den „Kinderreimen“, den Tanzrhythmen und quasi-liturgischen Aufzählungen, und manches hellt sich auf. Oder konturiert sich durch spätere Varianten. Als Beispiel hier das erste Gedicht des Zyklus „Der Teufel mit der Mutter“ aus der „Suite Furlana“:
Mutter, wach auf, aber bitte
nicht schreien, still! Dein Sohn
ist schon wach, er hat in der Kammer
an den nackten Wänden Licht gemacht.
Er sieht den schwarzen Stuhl,
Kleider aus Wachs und Blut,
sieht die gekalkten Balken,
sieht die Mäuse im Klosett.
In der Fassung von 1974 heisst es:
Mutter, schlafe Deinen Schlaf,
der Niemandes Schlaf mehr ist,
träume! Dass Dein scheues Leben
ein Regen begleite im Jahr 74!
Ich bitte Dich, bleib in der Einbildung
des Schlafes, die Dich hält in dieser Welt:
suche nach der Stille wie ein Knabe
erschrocken vom Schritt meiner Füsse.
Unweigerlich wird man als Leser voyeuristischer Zeuge von Lebensprozessen. Eben noch pumpt der Sohn (im dritten Gedicht) einsam Wasser und „pisst in die Nacht unter Sternen“, rund dreissig Jahre später schweigt er, „weil er zum Sprechen nicht neue Wörter hat“. Entfremdung und soziales Malaise sind den späten Versen eingeschrieben („Mutter, die ehrlichen Leute sind nackt: / der Teufel flieht vor ihrem Blick, verjagt / vom jungen Christus und vom alten Paulus.“); die friaulische „Paradiessprache“, Symbol einer heilen Welt, dient nun (auch) dazu, Unheil und Unbehagen auszudrücken. Das bedeutet Reibung, Dissonanz, doch so weit abgemildert, dass schrille Verzweiflungstöne keine Chance haben. Immer noch wirkt die versöhnliche Kraft des mütterlichen Idioms – Sehnsuchtsmetapher angesichts von Todesahnungen.
Schlechte Realität, kindliche Träume
Im italo-friaulischen Zyklus „Dunckler Enthusiasmo“ (1973–74) ist manches direkter angesprochen: Italiens faschistische Vergangenheit, „Konformismen“, „falsches intellektuelles Gehabe“, Resignation. Dass das Räsonnement nicht zum ideologischen Diskurs gerät, dafür sorgt die bewegliche lyrische Mischsprache, die Christian Filips – im Gedicht „Sinn des Beweinens“ – folgendermassen wiedergegeben hat:
Han die trostes not? Not zu beweysen?
Was sagen sie das wieder sich vnd wieder?
Die wissen nit, wir wissen nit, die reychen,
die seyn die ersten, die sich frewn
amb wolstandt? Die Modelle des Fortschritts
waren Realität. Ist es vielleicht realistisch,
diese Realität anzunehmen? Ihre Probleme
zu unsern zu machen? (Grünanlage, Gesundheit,
Ausbildung, Altersvorsorge?) Wer hat uns
denn dieses Gemenge beschert? Wieso,
verdammt nochmal, zum Realisten werden
und beitragen zur Lösung dieser Probleme?
An der schlechten Realität einer konsumorientierten Massengesellschaft war Pier Paolo Pasolini nicht interessiert. Er erträumte sich – kindheitsbesessen – eine bessere Welt für sich und für alle. Seine sensiblen friaulischen Gedichte sind Beweise seiner lebenslänglichen Utopie.
Zu Pasolinis Gedichten siehe auch: Schreibheft, Zeitschrift für Literatur, Nr. 73, 2009
– Das ist der Herbst des Pier Paolo Pasolini: Neue Bücher und eine Ausstellung in Berlin würdigen den italienischen Universaldissidenten. –
Wie viele Auferstehungen hat er schon erlebt. Und wie viel mehr Tode ist er bereits zu Lebzeiten gestorben. 33 Prozesse musste er über sich ergehen lassen, wegen Blasphemie, Obszönität und Diffamierung. Gemeint war immer seine Homosexualität. Jedes Mal ging Pier Paolo Pasolini als ein anderer aus ihnen hervor: persönlich nicht unbedingt souveräner, nur desillusionierter, politisch nicht gelassener, nur verzweifelter – in seiner Kunst aber von einer Energie getrieben, die aus der schönheitstrunkenen Weltfeier seiner frühen Jahre einen zusehends apokalyptischen Furor entwickelte.
In diesem Herbst scheint ihm eine weitere Auferstehung bevorzustehen. Aber kann dieser Pasolini mehr sein als die schicke Projektionsfigur einer Sehnsucht, die bereits vom Wissen zehrt, dass eine Figur wie er unmöglich geworden ist? Die von keinem Funken Ironie illuminierte Radikalität, mit der er als Kulturkritiker und Dichter geradezu körperlich für seine Worte einstand, würde sich selbst auf der Stelle unmöglich machen. Pasolinis heiliges Pathos – eine Lachnummer. Sein romantischer Kommunismus – eine museale Angelegenheit.
Nicht minder gefährlich ist es, Pasolinis ungebrochene Bedeutung zu behaupten, wie es Christian Filips im Nachwort zu seiner virtuosen Übersetzung der „Friulanischen Gedichte“ unter dem Titel Dunckler Enthusiasmo versucht. Im Einbruch der Kapitalmärkte die Erfüllung von Pasolinis düsteren Prophezeiungen und in den Piratenparteien gewissermaßen die Erneuerung der kommunistischen Idee zu sehen, ist nicht nur voreilig, es geht auch an der alles neutralisierenden Organisation unserer medialen Öffentlichkeit vorbei. Theresia Prammer, die Herausgeberin des aktuellen „Schreibhefts“, tut jedenfalls gut daran, in Gestalten wie Christoph Schlingensief oder Elfriede Jelinek höchstens noch Schwundstufen eines Intellektuellen zu erkennen, wie Pasolini einer war.
Entscheidend aber ist, dass sich überhaupt eine neue Generation mit Pasolini auseinandersetzt, und sei es nur im Bewusstsein der Leerstelle, die er hinterlassen hat. Prammer ist 36 Jahre alt, Filips, selbst ein begabter Dichter, ist 27. Wie er auf Pasolinis friulanische Kunstsprache mit mittelhochdeutschen und lutherdeutschen Versen antwortet, ist eine überzeugende Möglichkeit, die Entfernung zur zeitgenössischen Hochsprache und ihren jargonhaften Verzerrungen auszumessen:
Neine, zitter niht, mîn son,
des loupes himel zittert
under die lîhten sunne,
die lacht ûf unser houpt.
Mit der Überschreibung von Pasolinis jugendlichen „Poesie a Casarsa“ in der zweiten Form der „Bessern Jugent“ (La meglio gioventù) macht Filips deutsche Leser zum ersten Mal mit diesem Dokument von Pasolinis spätem Pessimismus bekannt. Wo es in der ersten Fassung zum Beispiel heißt: „Von Sonntag auf Montag / krümmt sich kein Hälmchen / Gras in dieser Welt“, da steht in der zweiten:
Von Sonntag auf Montag
sind verwelkt
alle Gräser dieser Welt
Auch das Schreibheft veröffentlicht bisher nie auf Deutsch erschienene Texte. Neben Pasolini-Gedichten aus 25 Jahren ist am aufschlussreichsten der Essay von Walter Siti, dem Herausgeber der 2003 in zehn Bänden erschienenen italienischen Werkausgabe. Er stellt Pasolini nicht nur als durchaus karrierebewussten Autor vor, sondern auch als unfassbaren Schlamper, der mit Zitaten und Begriffen nur so um sich warf, ohne sich ihrer versichert zu haben. Und als intellektuellen Bulimiker, der jedes auch nur bruchstückhaft angelesene Buch sofort verarbeitete.
Die Entschuldigung dafür steht in „Who is me“, jenem großen, Allen Ginsberg Tribut zollenden Poem, das wie jeder von Pasolinis Texten die Überschreitung der Literatur durch die Literatur propagiert:
Es gibt keine Poesie außer der realen Tat.
– Der Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini bediente sich gerne des friulanischen Dialekts, um zu Dichten – der Sprache seiner Mutter. Nun hat der Verlag Urs Engeler eine Übersetzung dieser Gedichte vorgelegt. –
Als Pier Paolo Pasolini im Winter 1949, wegen seiner Homosexualität geächtet, aus dem friulanischen Casarsa nach Rom floh, hatte er sowohl Gedichte in friulanischer als auch in italienischer Sprache geschrieben – beides wohlgemerkt Sprachen, denn Pasolini war nicht bereit, die eine gegenüber der anderen als partikularen Dialekt abzuwerten. Sowohl das widerständige „Anti-Italienisch“ als auch das „erlesene“ Hochitalienisch blieben als Schichten in seinem weiteren Werk erhalten. Die Sammlung La meglio gioventù – „Die bessere Jugend“ – vereinte im Jahr 1954 den größten Teil der im Friulanischen geschriebenen Gedichte, darunter die „Poesie a Casarsa“, über die Pasolini später in seinem autobiographischen Gedicht „Gramscis Asche“ schrieb:
In dieser Stadt hab ich mein erstes Gedichtbändchen veröffentlicht,
mit dem damals konformistischen Titel Gedichte an Casarsa,
gewidmet, aus Konformismus, meinem Vater…
Große Feinde waren wir,
doch unsere Feindschaft war Teil des Schicksals, sie stand außerhalb von uns.
Und als Ausdruck unseres Hasses…
war dieses Buch im Dialekt von Friaul geschrieben!
Im Dialekt meiner Mutter!
Im Dialekt einer kleinen
Welt, die er nichts als verachten… konnte,
Und das wegen eines vorausgegangenen Widerspruchs…
Er hatte sich verliebt, wo dieser Dialekt gesprochen wurde.
Verliebt, in meine Mutter. …
Er wußte nicht, daß seine Herrin diese Liebe war,
die durch eine Kindfrau (meine Mutter!) …
all seine moralischen Gewißheiten zunichte machte,
Gewißheiten eines armseligen Mannes, der doch berufen war, der Herr zu sein.
So war dieser Dialekt
jetzt teuflisches Zeug.
Das Friulanische ist also – auch wenn es für Pasolini nie das mündliche Idiom war – Muttersprache im fundamentalen Sinn: eine Sprache der Liebe, mit der sich der junge Mann gegen das väterliche Gesetz, gegen die patriarchalische Linie und damit gegen die herrschende Macht auflehnt, die wiederum zu jener Zeit mit dem Faschismus verknüpft war. Nicht nur, weil der Vater ein faschistischer Offizier war, sondern weil, wie Pasolini es formulierte:
der Faschismus nicht zuließ, daß es in Italien Partikularismen und Idiome unkriegerischer Dickköpfe gab.
Noch einmal 20 Jahre später, kurz vor seinem Tod, nimmt Pasolini die frühen Gedichte wieder auf. Es entsteht der Band La nuova gioventù, eine Forschreibung der friulanischen Schicht in Variationen, Gegenversionen und Erweiterungen, in die wiederum andere Sprachformen eingehen. Diesen – wie Pasolini selbst sagt – eigenwilligen, wahrhaft literarischen Fall dokumentiert nun eine Übersetzung, in der beide Bücher einander gegenübergestellt werden. Seite um Seite kann der Leser die über den Zeitabstand miteinander korrespondierenden Versionen studieren. Oft wurde der resignative Ton der späten Gedichte hervorgehoben – so, wenn die unbeugsamen Gräser eines alten Verses im neuen verwelkt sind. Wer allerdings einem idyllischen frühen einen pessimistischen späten Pasolini gegenüberstellt, verkennt, dass auch die ursprüngliche Schicht schon gebrochen ist:
Die Glocken schlagen
unter anderem Himmel
und Wind und Bäume
murmeln
um Deinen Leib.
Doch keiner weiß mehr von Dir.
Du fehlst
der Welt
allein in Mutters Weinen.
Dieser wehe Ton erhält in der Antwortversion eine objektive Endgültigkeit:
Den Glocken, die läuten,
hört keiner mehr zu;
Luft und Bäume
sind nicht länger Werk der Einsamkeit.
Darum weint eine Mutter.
Was tot ist, stirbt aufs Neue.
Und diesmal
ringsumher
nichts, das wiederkehrt.
Der Klang der Glocken, der Klang der Worte schwingt durch Christian Filips’ so sorgsame wie plastische Übersetzung auch ins Deutsche herüber. Seine spektakulärste Maßnahme ist aber die Wiedergabe einiger Teile in einem künstlichen Altdeutsch, in das Mittelhochdeutsch und Lutherdeutsch einfließen. Das leuchtet dort ein, wo das Original in späteren Hinzufügungen unter dem Titel „Tetro entusiasmo“ zwischen Friulanisch und Italienisch wechselt; unklar bleibt allerdings, warum zum Beispiel die „Friulanische Suite“ hochdeutsch wiedergegeben, während etwa „La domènica uliva“, dem Sinn nach „Der Olivensonntag“, als „Der Sunntac Uliva“ in die archaisch stilisierte Kunstsprache überführt wird. Die historisierende Notation ließe sich etwa so sprechen:
Besturzet seh ich, muoter,
den wint, dër tunkel waet,
an tac dâ zweinzic jâr
mîn kristenlëben gêt.
In der späten Version lautet die Strophe:
Mit gelîchen ougen
diu im anvanc waren,
sëhe ich diu valsche
wîderkêr der wëlt.
Trotz der unklaren Zuordnungskriterien überzeugt an den altdeutschen Passagen neben dem fremd-vertrauten Klang auch der Versuch, die Verschriftlichung der Mundart durch die sperrige Notation kenntlich zu machen. Christian Filips hat damit ein spannendes, wohl überlegtes Experiment gewagt, das noch mehr beeindrucken würde, wenn er nicht im Nachwort die eigene Kongenialität selbst beschwören würde – hier wäre es angemessener gewesen, den Kommentar einem kundigen Dritten zu übertragen. Denn Übersetzen ist immer Dienen, wenn auch in eigenständiger Form. Und in diesem Sinn erweist der Band dem Verständnis des rebellischen Dichters durchaus einen großen Dienst.
– Im Dorf der Kindheit von Pier Paolo Pasolini trifft man 35 Jahre nach seinem Tod noch Leute, die ihn gekannt haben – manche wirken, als kämen sie direkt aus seinen Filmen. –
Der Bahnhof von Casarsa ist ein trister Ort. Das Gebäude duckt sich am Dorfrand unter dem Betonmonstrum einer Stelzenbrücke. An der Fassade bröckelt der Putz. Tagsüber steigen hier Pendler sowie Horden lärmender Jugendlicher ein und aus, die in Pordenone oder Udine eine weiterführende Schule besuchen. Nachts fahren Züge mit hoher Geschwindigkeit durch und stoßen einen schrillen Pfeifton aus, dann senkt sich über Casarsas Bahnhofsgelände erneut Stille und Finsternis.
In der Bar gegenüber den Gleisen, die bis Mitternacht geöffnet und deren Interieur reichlich Patina angesetzt hat, sitzt spätabends ein einsamer Mann. Er gibt sich als Pasolini-Kenner aus. Weil er im Dorf mit Schwierigkeiten rechnet, will er seinen Namen nicht nennen, läßt sich aber gerne auf ein drittes oder viertes gGlas Wein einladen. Er habe alle Bücher von Pier Paolo Pasolini gelesen, sagt der etwa 50-Jährige, dessen graue Haare im Nacken zu einem schütteren Pferdeschwanz gebunden sind. „In seinen Romanen beschreibt Pasolini eine unerfüllbare Sehnsucht“, erklärt der Mann, der selbst einem Pasolini-Roman entsprungen sein könnte. In Una vita violenta lasse der Dichter seine Figuren rastlos durch das Bahnhofsviertel von Rom streifen, immer wieder, obwohl sie doch, was sie suchen, niemals finden können. Pasolini sei ein Genie gewesen, der bedeutendste italienische Dichter des 20. Jahrhunderts. „Aber verkünde das mal hier im Dorf – es gibt nicht wenige, die meinen, Pasolini war ein Popsänger!“
„Wasser vom Brunnen meines Dorfes, es gibt kein frischeres Wasser als in meinem Dorf. Brunnen der ländlichen Liebe.“ So beginnen die Gedichte in Friulan, dem Dialekt der Bewohner des ländlichen Friaul – eine Liebeserklärung an das Dorf, in dem er aufwuchs. Casarsa war der Heimatort seiner Mutter Susanna Colussi. Sie hatte den in Casarsa stationierten Offizier Carlo Alberto Pasolini geheiratet, im März 1922 wurde Pier Paolo in Bologna, der Vaterstadt, geboren. „Jeden Sommer jedoch kamen wir nach Casarsa zurück, dem Dorf meiner Mutter“, erinnert sich dieser später. Da die Siedlung am Schnittpunkt mehrerer Eisenbahnlinien lag und die Dorfkinder in den Kriegsjahren wegen der Bombenangriffe nicht zur Schule konnten, unterrichtete Pier Paolo sie mit seiner Mutter in einer abgelegenen Scheune.
Wenn man sich heute im Land von Pasolinis frühen Jahren auf eine Spurensuche begibt, trifft man auf viele, die ihn noch persönlich gekannt haben. Aber sie alle zeichnen ein einseitiges, durch die rosa Brille gefärbtes Bild des berühmten Autors und Filmemachers. In ihren Erinnerungen erscheint Pasolini als ein beliebter junger Mann. Ein Multitalent, sensibel und doch kontaktfreudig, dessen schlummernde Größe bereits erahnbar war. Da ist etwa der alte Luigi, genannt Digion, Seniorchef in der Bar Agli Amici. Das Lokal im rustikalen Stil der 1970er Jahre befindet sich im Dorfzentrum direkt gegenüber der Casa Colussi, dem Elternhaus von Pier Paolos Mutter, wo Pasolini mit der Familie bis zu seinem Weggang nach Rom im Jahr 1950 gelebt hat. Heute ist dort das Centro Studi Pier Paolo Pasolini untergebracht. Digion ist ein Greis von 83 Jahren, mindestens 1,90 Meter groß und immer noch kerngesund. Die Bar hat er vor Jahren an seinen Sohn übergeben. Er ist in der Gegend als begnadeter Sänger bekannt. „Pasolini schrieb für jeden von uns Gedichte“, erzählt er. „Wir haben abends gemeinsam gesungen, oft spielten wir auch Theater. Pasolini war ein unglaublich intelligenter Mensch. Da er wußte, dass ich gern Musik höre, hat er mir sein Radio geliehen – ich konnte mir keines leisten.“
Seitdem hat sich in Casarsa einiges verändert. Der Krieg schlug Schneisen der Verwüstung. Die Lücken wurden in den Aufbaujahren eilig mit Beton geschlossen – nicht zum Vorteil des 7000-Einwohner-Ortes, der beim schweren Erdbeben im Jahr 1976 noch einmal große Schäden erlitt. Heute wird Casarsa von einer Durchgangsstraße zerschnitten. Neben den Kirchen ist die Kellerei der Winzergenossenschaft mit dem Charme einer Parkgarage das markanteste Gebäude des Ortes. Am Dorfrand breiten sich Kasernen eines Natostützpunktes aus. Es kommen wenige Touristen.
Kaum ein anderer italienischer Autor der Moderne wurde in so viele Sprachen übersetzt wie Pasolini. Deshalb finden Kulturinteressierte aus der ganzen Welt nach Casarsa. Im Centro Studi Pier Paolo Pasolini ist ein Faltblatt erhältlich, womit sie seinen Spuren folgen können. „Es war ein grünes, aber verbranntes Land, mit Sträuchern unter den Dämmen der Eisenbahn, deren Schwellen in der Sonne zu verbrennen schienen“, schrieb Paolo Pasolini 1957 über seine Heimat. So ist es bis heute gelieben. Die Via Aguzze, ein schmales Teersträsschen, zieht sich hinter dem Bahnhof ein Stück die Zuggleise entlang. Der Weg führt ins nahe Versutta, ein idyllisches Nest inmitten der Felder. Dort blieb die Scheune erhalten, in der Pasolini mit seiner Mutter vom Oktober 1944 bis nach Kriegsende als Lehrer tätig war. Nebenan versteckt sich die spätromantische Kirche Sant’ Antonio Abate. Wenn man Glück hat, trifft man dort auf Elio Ciol, der, wann immer möglich, mit seinem Fotoapparat unterwegs ist. Der 81-Jährige stammt aus Casarsa und gehörte zu Pasolinis Schülern. Ciol wurde später als Fotograf bekannt; für seine Bildbände über die Menschen und Landschaften des Friaul erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. „Pasolini war ein einfühlsamer Lehrer, der es verstand, unsere Neugier zu wecken.“ Auf dessen Homosexualität angesprochen, reagiert Ezio Ciol ausweichend. Er grummelt, dass ihm nie etwas aufgefallen sei, im Übrigen habe man damals andere Sorgen gehabt. „Es waren unruhige, gefährliche Zeiten. Es ging ums Überleben.“ Auch für Pasolini. Er war in die kommunistische Partei eingetreten und verteilte umstürzlerische Manifeste, womit er sich viele Feinde machte. Im Februar 1945 töteten Partisanen, die das Friaul an Jugoslawien angliedern wollten, seinen Bruder Giudalberto. 1949 wurde Pasolini verhaftet und wegen öffentlicher Unzucht sowie Verführung Minderjähriger angezeigt. Als Folge verlor er seine Lehrerstelle, wurde von der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Mit seiner Mutter, deren Ehe damals bereits zerrüttet war, floh er nach Rom.
Angela Felice sagt, Pasolinis Homosexualität sei in Casarsa immer noch ein gut gehütetes Geheimnis. Die Direktorin des Centro Studi Pier Paolo Pasolini findet es längst an der Zeit, dass man im Dorf eine Straße oder einen Platz nach ihm benennt. Aber das scheitere immer wieder an politischen Querelen. Die zierliche Frau blättert in vergilbten Zeitungen aus dem Jahr 1975. Auf Bildern ist der Leichnam Pasolinis am römischen Hafen Ostia zu sehen, zusammengeschlagen zu einem blutigen Fleischbrocken. „Das grauenhafte Verbrechen ist nie wirklich aufgeklärt worden“, sagt Angela Felice. Der Verurteilte Giuseppe Pelosi, ein 17-jähriger Stricher, habe sein Geständnis mehrmals widerrufen und vor einigen Jahren in einem Interview erklärt, dass er so lange geschwiegen hätte, weil man seine Familie bedrohte. Pasolini wurde zur Zeit des kalten Krieges ermordet, Neofaschisten und Rote Brigaden verübten Terroranschläge, Generäle bereiteten den Staatsstreich vor. „Es gab ein Interesse daran, den Mord als Zwischenfall in der Schwulenszene abzutun“, sagt Angela Felice. Auch jetzt kümmere die Suche nach den wahren Tätern in Casarsa niemanden. „Für die Leute hier ist Pasolini zum strahlenden Mythos geworden – doch der wahre Pasolini bleibt unbequem.“
Ganz zum Schluß ist er zurückgekehrt, und das Dorf seiner Jugendjahre hat ihn, den verlorenen Sohn, aufgenommen. Der Gärtner am Dorffriedhof zeigt dem Fremden das Grab gleich links vom Haupteingang, wo Pasolini neben seiner Mutter begraben liegt. Es ist mit frischen Blumen geschmückt. So sei es immer, sagt der Gärtner stolz. Auch Digion ist die Genugtuung deutlich anzusehen, dass Auswärtige wegen seines Jugendfreundes in das verschlafene Nest am Tagliamento finden. Dass Pasolini Casarsa einst fluchtartig verlassen hat, sein grauenvoller Tod – dazu fällt dem Alten wenig ein. Viel lieber erinnert er sich an das Gedicht, das ihm Pasolini vor 60 Jahren gewidmet hat. Es ist inzwischen vertont worden. Digion stellt sich breitbeinig hin und singt alle zehn Strophen. Mit tremolierender Stimme, wie eich echter Heldentenor.
Helmut Luther, Süddeutsche Zeitung, 28.10.2010
„Wir wissen eigentlich noch gar nicht, was eine Übersetzung sey“, schrieb der Romantiker Friedrich Schlegel im Jahr 1797 – und stolperte damit über ein Dilemma, das bis heute fortbesteht. Denn das Übersetzen von Poesie ist immer mit der Erfahrung eines Verlusts verbunden. Wer große Dichtungen aus ihrem Urtext in eine andere Sprache übertragen will, dem widerfährt unvermeidlich das prinzipielle Ungenügen des eigenen Tuns. In seinen Kritischen Fragmenten hat Schlegel bereits vor über zweihundert Jahren dieses literarische Defizit beschrieben:
Was in gewöhnlichen guten oder vortrefflichen Übersetzungen verloren geht, ist grade das Beste.
Was kann also der Übersetzer wirklich leisten? Ist er tatsächlich jener polyglotte Brückenbauer, der, überschaubare Textsegmente von einer Sprache in die andere transportiert? Oder ist er nicht vielmehr ein permanent Schiffbrüchiger, der das scheinbar sichere Gestade einer Sprache verlassen hat, ohne je das feste Ufer des gesuchten Eilands zu erreichen? Glaubt man dem Dichter Peter Waterhouse, dann geht es nicht darum, ein Gedicht aus einer Fremdsprache benutzbar zu machen für einen deutschen Leser. Es geht nicht um die Heimholung des Fremden ins Vertraute, sondern darum, diese Fremdheit als poetische Ressource zu erkennen:
Übersetzen: nicht ,aus dem Italienischen‘ ins ,Deutsche‘ übersetzen, sondern eine italienische Sprache oder eine fremde Sprache in der deutschen finden, das ungesprochene Deutsch vielleicht, das unbekannte, das vergessene. Das Deutsche wieder unbekannter machen.
Das Terrain des literarischen Übersetzers ist also nicht das Bekannte und Vertraute, sondern das Fremde und die Differenz. Jede gelungene Übersetzung, so schrieb Friedrich Schlegels Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt, trägt „eine gewisse Farbe der Fremdheit“ in sich. Eine Fremdheit, die nicht zu tilgen, sondern zu bewahren ist. Man kann noch weiter gehen und festhalten: Großen Übersetzungen ist paradoxerweise immer ein Scheitern eingeschrieben. Denn je ambitionierter sie einen poetischen Urtext in ihre Zielsprache überführen wollen, desto weiter entfernen sie sich von den Baugesetzen des Originals. Je virtuoser ein Übersetzer seine Fähigkeiten zur Nachdichtung entfaltet, desto stärker schiebt er sein eigenes sprachliches Zeichensystem über das des Urtextes.
Dennoch hat diese Arbeit nahe am Scheitern nichts von ihrer ästhetischen Faszination eingebüßt. Und auch wenn das Abenteuer der Übersetzung sich immer mit den Begrenzungen dieser Arbeit herumschlagen muss, gibt es doch immer wieder beglückende Versuche, Poesie und Übersetzung in ein symbiotisches Verhältnis zu bringen. Der slowenische Dichter und Übersetzer Ales Steger erprobt in seinem 2011 auf Deutsch publizierten Gedichtband Buch der Körper zum Beispiel eine Annäherungsbewegung an Wörter, die sich ihm beim Transport von der einen in die andere Sprache entziehen. Stegers Übersetzer, der Dichter Matthias Göritz, ist ihm auf diesem Weg in die „Verschlossenheit“ des sprachlichen Materials gefolgt:
Ich träume ein Wort, verliere es im Moment des Erwachens. Ich verstehe es nicht im Traum, das Wort in deiner Sprache. Du versuchst es zu erklären, wieder und wieder. Es geht nicht. Das Wort will nicht in meine Sprache. Du nimmst eine Flasche, zeigst den Korken. Du hörst nicht auf zu erklären. In einer Sprache ohne Worte, sagst du, in einer Sprache, träumerisch und stumm, sagst du, dass dieses Wort nicht zulässt, dass die eine Seite auf die andere wechselt, dass das Wort selber in sich so verschlossen ist, dass es nicht mal das Wort Undurchlässigkeit durchlässt, das meine, das deine, das Wort von irgendjemandem für den Übergang auf die andere Seite…
Die erhoffte „Durchlässigkeit“ des sprachlichen Materials stellt sich nicht ein, der Übersetzer sieht sich mit dem Opaken und der Verschlossenheit der einzelnen Wörter konfrontiert. Und doch versucht er, in einer neuerlichen Annäherungsbewegung dem Geist des Originals gerecht zu werden. Noch komplizierter wird es, wenn das literarische Original selbst aus heterogenen Sprachschichten gebaut ist.
Das ist der Fall bei den Gedichten des italienischen Erzketzers und literarischen und filmischen Freibeuters Pier Paolo Pasolini. Der junge Pasolini hat 1942, als gerade mal 20-Jähriger liedhafte Gedichte geschrieben – und zwar im friulanischen Dialekt. Seine Poesie a Casarsa, seine Gedichte an das Städtchen Casarsa im Friaul, hat er in den folgenden Jahren immer wieder neu bearbeitet. Dreißig Jahre später, als er mit seinen ebenso epochalen wie ungeheuer subversiven Filmen berühmt geworden war, hat er diese Gedichte mit einer genuin antikapitalistischen Idiomatik ergänzt, oder besser: übermalt. In diesen Gedichten kollidieren die unterschiedlichsten Stilregister: das Kunstliedhafte trifft auf das Gesellschaftskritische, das Volkslied auf den politischen Diskurs. Wer nun für diese unterschiedlichen Sprachgesten von Pasolinis Italienisch eine deutsche Entsprechung sucht, kann das nicht in einem homogenen Stil tun.
Der Übersetzer von Pasolinis Gedichten, der genialische Christian Filips, hat ein kühnes Verfahren gewählt. Er versucht die sprachliche Heterogenität Pasolinis seinerseits in eine deutsche Polylingualität zu transformieren. Bei der Übersetzung der Pasolini-Gedichte verwendet Filips die unterschiedlichsten Sprachregister: das Mittelhochdeutsche in der Tradition Mechthild von Magdeburgs, das Bibeldeutsch Luthers, das Volkslied und das Kunstlied – und nicht zuletzt die Rhetorik kommunistischer Agitation. Christian Filips, Jahrgang 1981, arbeitet seit vielen Jahren an musikalischen Dynamisierungsstrategien für die Poesie: Er ist nicht nur Dichter, Komponist und Übersetzer, sondern eine Art Sprachen -Regisseur, der nach Synergien sucht von musikalischen und poetischen Strukturen. 2009 hat er seine große Pasolini-Übersetzung im Verlag des Schweizer Lyrik-Editors Urs Engeler veröffentlicht. Gleich zu Beginn seiner Arbeit an der Pasolini-Übersetzung sah er sich einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber: Wie lässt sich ein Dialekt übersetzen, wie lässt sich in diesem Fall das Friulanische in ein angemessenes Deutsch bringen?
„Lässt sich das Friulanische übersetzen?“ So fragt Filips und kommt zu verblüffenden Antworten:
Eine Möglichkeit ist zu sagen: Es lässt sich NICHT übersetzen, es lässt sich NICHT übersetzen. Und diese Form von Übersetzung gibt es in dem Buch, glaube ich, auch wenn die Seiten weiß bleiben. Eine andere Form der Übersetzung ist: Es lässt sich mit sich selbst übersetzen. Das geschieht, wenn man einen Text im Original liest und ihn nicht versteht, aber ja doch was versteht, so viel versteht, wie man eben versteht.
Und dann gibt es die Möglichkeit, ihn zu übersetzen in Sprachstufen, die diese Fremdheit enthalten. Und die etwas zu tun haben mit dem sozialen Hof der Geschichtlichkeit dieses Textes. Und ich hab mich entschieden, einfach auf die Einheitlichkeit zu verzichten. Und jeweils zu schauen, welche literarische Tradition haben wir im Deutschen, in der deutschen Sprachgeschichte, die eine Entsprechung sein könnte zu dem Ansatz, den Pasolini wählt. Und natürlich geht immer sehr viel verloren. Aber es ging darum, auch zu zeigen, dass etwas verlorengeht.
Die Einheitlichkeit des Sprachstils aufzugeben – das ist eine Entscheidung, die im Fall der Poesie Pasolinis unausweichlich ist. Und schon die Reflexion über diesen eigentümlichen Dialekt, den Pasolini als Gedichtsprache nutzte – das Friulanische – wirft unmittelbar Fragen auf nach dem Verhältnis solch ehrwürdiger Kategorien wie „Vatersprache“ und „Muttersprache“. Christian Filips:
Die Muttersprache – das Friulanische war für Pasolini so eine Muttersprache, aber die Muttersprache nicht im landläufigen Sinn – als die Sprache, die man selber von der Mutter her spricht, sondern in diesem Fall als die Sprache, die die Mutter spricht, aber nicht er. Denn er, Pasolini, sprach von Beginn an die Vatersprache, die das Hochitalienische war. Und das Hochitalienische ist – 1942 – die Sprache der Faschisten, um es kurz zu sagen. So dass die Sprache des Vaters zugleich die Sprache des Faschismus ist, als ein Projekt der Vereinheitlichung der italienischen Dialekte. Und er hat sich nun befasst mit dem Dialekt, den seine Mutter sprach, bevor sie sich das Hochitalienische angeeignet hat. Und hat genau diesen Dialekt wie eine Kunstsprache gelernt. Es ist also kein Dialekt, den er selber gesprochen hätte, sondern es ist eine Art von Rekonstruktion. Also eine Muttersprache, die man noch nicht hat. Die man erst erwerben muss. Und die zugleich eine Nicht-Vatersprache ist.
Und so geht Christian Filips einen Weg zwischen den Sprachen – und er erzeugt mit großer Sensibilität eine poetische Sprachenmischung. Diese Sprachenmischung manifestiert sich bereits im Titel, den er seiner Gedichtauswahl Pier Paolo Pasolinis gegeben hat: Dunckler Enthusiasmo.
Der Titel des ganzen Buches
so Filips,
ist im Italienischen der Titel des letzten Zyklus, den er geschrieben hat: „Tetro entusiasmo“ – und dieser Titel ist ein Gemisch aus Friulanisch und Hochitalienisch. Er hat diesen Titel geschrieben als Kommentar – könnte man sagen – zu seinem eigenen Wiederholungsprojekt. Und „Tetro entusiasmo“ lese ich als diesen Kommentar. Dort vermischt er die Sprachen dann innerhalb eines Textes, dort finden dann die Umschläge nicht zwischen den Zeitstufen statt, sondern im Text selbst. Ich hab mich entschieden, diese Sprachstufe mit dem Lutherdeutschen zu übersetzen – in diesem letzten Zyklus. Warum? Er hat damals eine Kolumne geschrieben, die lettere lutherane, die Luther-Briefe, in denen er sich selbst als Ketzer der katholischen Kirche bezeichnet. Und in dieser Kolumne veröffentlichte er genau diesen Zyklus. Also abwechselnd Leitartikel, sehr klare politische Statements zur Abschaffung des Fernsehens, zum Verschwinden der Glühwürmchen, und zwischendurch kommen plötzlich diese friulanischen Gedichte. Dunckler Enthusiasmo: Ich wollte etwas Lutherisches, eine Art von Sprache, die zugleich die Sprache des Volkes ist, aber eines Volkes, das es so nicht mehr gibt – und auch eine Vatersprache. Also: Ein Diktat, dass eine Bibelübersetzung plötzlich ein Hochdeutsch etabliert,… die eine Sprache… dieses Deutsch eine Sprache des Volkes und eine Sprache der Schrift.
Wie artikuliert sich eine solche poetische Sprachenmischung, die das Individualistische des Dialekts mit politischer Entschlossenheit und poetischer Musikalität verbindet? Es klingt, so kann man sagen, wie ein zartes, einfaches Lied, eine fromme Litanei, in der über die letzten Dinge gesprochen und gesungen wird. Und Christian Filips hat dafür eine suggestive Form poetischer Übersetzung gefunden. Von den „Litaneien des schönen Knaben“ gibt es in seinem Buch jeweils zwei Varianten: die Version des jungen Pasolini aus dem Jahr 1942 und die Fassung, die der Dichter dreißig Jahre später noch einmal überarbeitet hat:
Heut ist ein Sonntag,
die Enkel sind morgen,
gestern, da kleiden
mich Seide und Liebe.
Heut ist ein Sonntag,
mit Schuhn an den Füßen
sprangen flink Kindlein
über die Wiesen.
Zähl meine Lenze,
heut zweiundfünftig,
es schläft mir im Auge
der spielende Teufel.
Läutet meine (?) Glocken,
lasst mich doch altern!
,Wir läuten, was siehst Du,
wachend im Traum‘?
Ich sehe die Sonne
unsterblicher Sommer,
ich sehe den Regen
von Niemand und Welt.
Ich sehe meinen Leib,
ohne Alter und Scham,
die Sonntage neu,
voraus und vertan.
,Heute, da kleiden
Dich Seide und Liebe,
Sohn was kümmerts Dich,
stirbt hier ein Fremder.
Alter (!), Dich kleiden
Liebe und Seide,
Du musst nicht wissen,
was Enkeln gefällt.
Enthusiasmus und Poesie – das kann, wenn beides gelingt, eine beglückende Symbiose eingehen.
(…)
– Versuch über Pier Paolo Pasolini. Fragment. –
1975 – das Jahr, in dem er ermordet wird – beschreibt Pier Paolo Pasolini ein ,letztes Dorf‘ und das heißt wohl, daß es immer noch sein ,erstes‘ ist, Casarsa im Friaul. Das letzte Dorf ist größer als Casarsa, es heißt Neapel. Pasolini kommt im Gennariello auf Neapel zu sprechen, einem ,pädagogischen Traktat‘, einer Folge von Lektionen, die wie Briefe geschrieben sind, gerichtet an einen fünfzehnjährigen Neapolitaner, der Gennariello heißt, ähnlich wie der Schutzheilige von Neapel, San Gennaro.
Der Traktat richtet sich deshalb an einen Neapolitaner, weil er an einen Dörfler gerichtet sein soll.
Neapel ist heute die letzte plebejische Metropole, das letzte große Dorf (und zudem auf Grund kultureller Traditionen nicht italienisch im engen Sinn).
Der fünfzehnjährige neapolitanische Dörfler wird als ein Schüler angesprochen, Pasolini spricht zu ihm als Lehrer, der einen Arbeitsplan hat, mit vielen Abschnitten. Doch die ersten Abschnitte enthalten noch keinen Stoff, sind nicht eigentlich Unterricht, vielmehr handeln sie von der Beziehung zwischen Schüler und Lehrer, genauer gesagt von der Beziehung zwischen du und ich – und zwar in dieser Reihenfolge: du und ich. Der Traktat beginnt damit, daß er über Beziehung nachdenkt, nicht über Erziehung. Was ist Beziehung? Wie anders ist sie als Erziehung? Beziehung beschreibt Pasolini im ersten Abschnitt seines Gennariello als einen Prozeß der ,körperlichen und geistigen Angleichung‘ – als etwas, das in Dörfern zu erfahren ist.
Wie sehen Situationen der Angleichung in Neapel aus? Pasolini erzählt von einer Begegnung auf der Straße, oder in einem Haus – in der Tageszeitung hieße die beschriebene Person wohl ,Taschendieb‘ –, doch im Zusammenhang mit Wissen, Lehre und Schule gibt es keinen Diebstahl; es gibt keinen Wissenschaftsdiebstahl, Wissen ist kein Eigentum (höchstens ein geistiges, wer es stiehlt, ihn beginnt es zu verwandeln).
Bei Neapolitanern habe ich immer das Gefühl, ihnen etwas beibringen zu können, weil sie ihrerseits wissen, daß sie mir durch ihr Zuhören einen Gefallen tun. Ein ganz ungezwungener Wissensaustausch also. Ich kann einem Neapolitaner unbekümmert sagen, was ich weiß, weil ich vor seinem Wissen einen tiefen, fast mythischen Respekt habe, der dennoch voller Heiterkeit und ungebrochener Zuneigung ist. Selbst Betrügereien sind mir eine Art Wissensaustausch. Einmal, während einer gefühlsgeladenen Episode mit einem Neapolitaner, merkte ich plötzlich, wie er mir langsam die Brieftasche herauszog. Ich habe es ihm gesagt – und wir haben uns danach noch mehr gemocht.
In der Beschreibung dieser Szene ist unter anderem gesagt, daß eine körperliche und geistige Angleichung, daß eine Beziehung nicht dasselbe ist wie Konformität. Der Austausch, das langsame Herausziehen der Geldbörse, verlangt Andersheit, verlangt, daß es einen Anderen gibt, der anders ist, abweicht. Das langsame Herausziehen der Geldbörse ist ein Akt des Respekts vor dem Anderen. Auch Pasolinis Reaktion ist Respekt:
… merkte ich plötzlich, wie er mir langsam die Brieftasche herauszog. Ich habe es ihm gesagt.
– Was hat er ihm gesagt?
Vielleicht: Ich bemerke, wie du mir die Brieftasche herausziehst. Ich bemerke, wie anders du bist. Diese Worte stellen eine Gleichung her – sie wehren sich nicht gegen das Andere, sie sind wehrlos und keine Waffe. Vielleicht entwaffnen sie beide Beteiligte. Es kommt nicht zu einer Korrektur, aber zu einer körperlichen, geistigen Nähe, Unmittelbarkeit. Wer Teil einer solchen Szene ist, könnte meinen, daß eine Besserungsanstalt – auch eine ,moralische‘ – das Gegenteil ist von einer Dorfstraße und einer Beziehung. Oder anders gedacht: Pasolinis einfache Antwort – ich bemerke, daß du mir… – ist das ganz Andere eines Attentats, jenes sich im damaligen Italien wiederholenden Geschehens. Sowohl die Hand, die nach der Geldbörse tastet, wie auch die Worte: ich bemerke, daß du mir…, sind ganz das Gegenteil jener Drahtzieher in der christdemokratischen Partei und anderswo (vermutlich auch in der NATO und im CIA), die Pasolini verantwortlich macht für die ,Strategie der Spannung‘ in den 70er Jahren, mitverantwortlich macht für die Bombenattentate im Mai 1972, im Mai 1974 und im August 1974.
„Ich bemerke, was du tust…“, es ist ein beinahe universaler Satz – gültig sowohl im Augenblick der Bedrohung und drohenden Gewalt als auch in der Liebe. „Ich bemerke, was du tust…“, ich – du, damit beginnt Pasolini seinen Traktat Gennariello, indem er die allerersten Abschnitte überschreibt mit den Überschriften „Mein Bild von Dir“, „Dein Bild von mir“, „Wie wir miteinander reden werden“.
Die ersten vier Abschnitte des 1975 begonnenen und nicht zu Ende gebrachten Traktats enthalten also keinen Unterrichtsstoff; enthalten gar nichts, sondern erzeugen den Beziehungsstoff, man könnte sagen: bauen das Dorf – vier Straßen durchs Dorf – ohne Drahtzieherei. Erster Teil und Bauabschnitt: Mein Bild von dir. Zweiter Teil: Dein Bild von mir. Dritter Teil: Weiteres über Deinen Lehrer. (Dieser Ausdruck: ,Dein Lehrer‘ stellt die Uneigentlichkeit des Lehrers dar: er ist nicht sein eigenes Eigentum, sondern ist der Lehrer jemandes anderen. Wer ,mein Lehrer‘ sagt, sagt es zu jemandem oder von jemandem, meint gerade nicht etwas eigenes, sondern anderes.) Vierter Teil: Wie wir miteinander reden werden.
In diesem vierten Abschnitt des Traktats schreibt Pasolini:
… gerade ihre Sprache ist der eigentliche Skandal. Denn jedesmal, wenn sie den Mund aufmachen, quellen – sei es aus Verlogenheit, aus Schuldgefühl, aus Angst oder Verschlagenheit – nichts als Lügen hervor. Ihre Sprache ist eine reine Lügensprache. Und während ihre Kultur eine stinkende Fäulnis aus hohler Rhetorik und Akademismus ist, die sich auf monströse Weise mit technologischem Vokabular vermischt, ist ihre Sprache eine fast wissenschaftlich beschreibbare Monstrosität. Man kann sich das einfach nicht anhören. Man muß sich ständig die Ohren zuhalten.
Heute müßte es die erste Pflicht der Intellektuellen sein, den Leuten beizubringen, sich nie wieder diese sprachlichen Monstrositäten der Christdemokraten anzuhören bzw. bei jedem ihrer Worte vor Abscheu und Empörung aufzuschreien. Mit anderen Worten: Die Pflicht der Intellektuellen wäre es, all die Lügen zu entlarven, die über Presse und vor allem Fernsehen den weitgehend toten Körper des heutigen Italien überschwemmen und vollends ersticken.
Statt dessen akzeptieren fast alle opponierenden Intellektuellen im Grunde das, was die christdemokratischen Machthaber auch akzeptieren. Offenbar sind sie überhaupt nicht schockiert von der Monstrosität der christdemokratischen Sprache.
Mein Traum, lieber Gennariello, wäre es, wenn wir beide, Lehrer und Schüler, miteinander neapolitanisch reden könnten. Leider kann ich es nicht. Ich werde daher wenigstens ein Italienisch sprechen, das nichts, aber auch gar nichts mit dem der Machthaber und der genauso machtvollen Oppositionellen zu tun hat.
Die Alternative zur monströsen und zur lügenden Sprache ist die neapolitanische Sprache, der Dialekt, das vom einen zum anderen und an den anderen gerichtete Wort, seine Unmittelbarkeit, seine Präsenz und physische Beschaffenheit. Miteinander Sprechen ist Dialekt-Sprechen. Miteinander gibt es nichts Monströses (und der Griff zur Geldbörse des Anderen ist nicht monsterhaft). Aber Miteinandersprechen verlangt nicht alleine nach Dialekt, sondern das Miteinander verlangt den Dialekt und die Sprache des Anderen. Oder anders gesagt: Dialekt, nicht bloß der neapolitanische Dialekt, sondern jeder Dialekt, ist die Sprache des Anderen. Das ist es offenbar, was die Sprache der Machthaber, der herrschenden Partei und der Oppositionellen zum Monstrum macht: daß sie nicht die Sprache des Anderen, darum ohne Miteinander ist, sondern immer die eigene ist, die, fast könnte man sagen, homoerotische Sprache ist. Monstrum des nur und immer zu sich selbst Sprechens.
Könnte man also sagen: Pasolinis frühe, im Dialekt von Casarsa geschriebene Gedichte sind Gedichte in der Sprache des Anderen? Sind Gedichte des Gesprächs, der Begegnung und des ,ich bemerke, was du tust…‘? Sind also gerade nicht eigene Gedichte und Monstren? Sind darum Gedichte und nicht-monströs, weil sie in der Sprache des Anderen und Ungleichen geschrieben sind? Sind Fremdsprache und Heterophonie, Heterodoxie? Und nicht Muttersprache, obgleich die Mutter von Pasolini den Dialekt von Casarsa als ihre Sprache sprach? Pasolini aber hat den Dialekt gelernt, im Alter von 18 oder 19 Jahren, und hat ihn studiert, in der von ihm und seinen Freunden gegründeten Academiuta de lenga furlana. Gehört von der Mutter, gelernt später, in Casarsa und den Dörfern, auf den Straßen und Wiesen, bei den Gehöften. Das erste Gedicht der 1942 veröffentlichten Sammlung Poesie a Casarsa ist eine Widmung – widmet sich. Ist gerichtet an, an wen?, an ein Gegenüber, an den Anderen.
DEDICA
Fontana di aga dal me país.
A no è aga pí fres-cia che tal me país.
Fontana di rustic amòur.
Toni und Sabine Kienlechner haben das Gedicht in die folgende deutsche Form übersetzt –
WIDMUNG
Wasser vom Brunnen in meinem Dorf
Nirgends ist frischer das Wasser
Brunnen ländlicher Liebe
Ich werde dies kleine Gedicht nun mit Überlegungen und Fragen strapazieren. Läßt es sich nämlich wirklich behaupten, daß das Friulanische und die in Casarsa gesprochene Variante dieser Sprache für Pasolini eine Fremdsprache war, wo er doch in diesem frühen Gedicht das Dorf, vermutlich das Dorf oder Städtchen Casarsa, als ,mein Dorf‘ anspricht? ,Mein Dorf‘, und das wohl gesagt in ,meinem Dialekt‘. Es heißt hier ,mein Dorf‘, nicht etwa ,fremdes Dorf‘. Aber da steht in Pasolinis Text, nicht wie im Deutschen das Wort ,Dorf‘, auch nicht das Wort ,paese‘, sondern país. Wie heimatlich ist ,país‘? Klingt es nicht so Spanisch wie Italienisch – klingt es nicht spanischer als Italienisch? Mein was also – mein Dorf? Gerade nicht ,mein Dorf‘. Stehen die Worte ,me‘ und ,país‘ in einer Spannung, unharmonisch? Umfasst hier das Wort ,me‘ auch das Andere, zeigt es gar keinen Besitz an, sondern eine Beziehung? So wie ,mein Lehrer‘ ein Anderer ist, so könnte auch ,mein Dorf‘ ein anderes sein, es heißt ja auch anders, nämlich nicht ,paese‘ wie ein Italiener, sondern país.
Ist also in diesem Gedicht der Andere und das Andere, das Heteronyme, anwesend? Sogar mehr Anderes als Eigenes anwesend? Und wenn da mehr Anderes als Eigenes ist, ist dann und darum das Gedicht weniger monströs und darum auch so winzig klein? Das Gedicht heißt „Widmung“ oder ist eine Widmung. Wem ist es gewidmet? Diese Frage muß man nicht unbedingt an das italienische oder lateinische Wort ,Dedica‘ richten, das einen anderen etymologischen Hintergrund, einen anderen sprachlichen Hintergrund hat als das deutsche Wort ,widmen‘, welches wenig mit der Sprache und mehr mit dem Heiraten zu tun hat und mit der Braut. Dedicare, betrachtet man es als lateinisches Wort, meint eine besondere Art von ,dicare‘, eine besondere Art zu sagen und zu sprechen, nämlich de-dicare, was im Deutschen soviel sein könnte wie: sprechen in betreff, sprechen in Hinsicht auf, sprechen rücksichtlich und in Beziehung zu. Dedica: das Gedicht spricht zu – nicht zu sich. Man hört fast: dedica a.
Wer oder was ist ,a‘? ,A‘ hört und sieht der Lesende häufig in diesem Gedicht, und ,a‘ hört man, glaube ich, sehr häufig in der lenga furlana, in der Sprache des Friaul. Man hört es im Titel der Gedichtsammlung und im Feuernamen des Städtchens Casarsa. Casarsa, sehr viel ,a‘, mehr ,a‘ als in Asche. Casarsa, Aschenmarkt, verbrannte Häuser. Poesie a Casarsa. Was bedeutet in diesem Titel die Präpostion ,a‘? A-Ca-Sar-Sa. Ist ,a‘ dasselbe wie im Namen Casarsa? Und bedeutet ,a‘ nicht soviel wie ,in‘? Sind Poesie a Casarsa Gedichte in Casarsa? Wer, wie ich, Hilfe braucht, schaut nach im Wörterbuch der italienischen und deutschen Sprache, auf der ersten Seite. Der ersten Eintragung zufolge ist ,a‘ gar kein Wort, sondern ein Buchstabe oder ein bloßer Laut. Vielleicht ein kleiner Schrei, ein offener Mund, vielleicht Ausdruck für Lust wie für Schmerz, wahrscheinlich einer der ersten Laute jedes Menschen – sicherlich der erste Vokal: zuerst sagen alle ,a‘ und nicht etwa das hoch kultivierte ,o‘ oder ,e‘ oder ,i‘.
In der zweiten Eintragung wird ,a‘ als Präposition aufgeführt, und da steht als erste Bedeutung und wie als der Beginn der italienischen Sprache: scrivere a un amico – einem oder an einen Freund schreiben. ,A‘ wie ,an‘, ,a‘ als Bewegung und Beziehung. Gedichte an Casarsa also? Wer ist Casarsa? Der Andere? Mein Casarsa: Du?
,A‘ bezeichnet auch den Ort, a casa, zu Hause, im Haus. A casa; a Casarsa. Dieses Haus ist ein verbranntes Haus: casa arsa. Warum sagt man im Deutschen ,zu Hause‘, wodurch weniger der Ort beschrieben ist als die Beziehung zu ihm, der Weg zu ihm? Ist in diesem ,zu‘ ein ,du‘ verborgen? Deutsch ,zu‘ – letzter Laut und Buchstabe des Alphabets. Italienisch ,a‘ – erster Laut und Buchstabe des Alphabets. ,A‘ sagt jeder Mensch als erstes im Leben und öffnet sich. ,Zu‘ enthält den letzten Buchstaben und kann auch einen Verschluß anzeigen. Das Fenster ist zu. Das Zutrauen ist ein verschlossener Zustand vielleicht. Das italienische ,a‘ kommt am Anfang. „Fontana di aga dal me país.“
Ließe sich der Vers „Fontana di aga dal me país“ übersetzen als „Soviel A und soviel Anfang in meinem Dorf’? Fons, die Quelle, das Quellwasser, der Ursprung, auch der Anfang. (Fonsdorf.)
Quelle des A in meinem Dorf. Es gibt kein frischeres A als das A meines Dorfs. Quelle der Beziehung, Quelle des Anderen. A, eine Art von Substanz, die vielleicht das Gegenteil des ,Ich‘ und des ,io‘ ist. Niemand sagt als erstes im Leben ,io‘, jeder sagt als erstes ,a‘ und macht sich auf zu etwas anderem als dem Ich.
„Fontana di aga dal me país“ – sind diese vielen ,a‘ lauter kleine Beziehungen, lauter lautende Andere? Auch Lockungen, kleine Lockrufe, versprechen sie Genüsse? In der dritten Zeile steht: „Fontana di rustic amòur“, Hier spricht und erscheint das ,a‘ im Wort ,Liebe‘, ,amòur‘. Ist in einem solchen ,a‘-Gedicht das Wort ,amòur‘ überhaupt vergleichbar dem Wort ,Liebe‘? – Wohl nicht. ,Amòur‘ ist vor allem ein A-Laut, aus A-Stoff.
Könnte es sein, daß das Friulanische, die in Casarsa und Versuta und in San Giovanni gesprochenen Varianten, ,diesseits des Tagliamento‘, besonders a-haltig sind, mehr Vitamin A enthalten als die Hochsprache?
La siala a clama l’unvièr
– quant ch’a cianta la siala
dut tal mont a è clar e fer.
Nico Naldini hat berichtet, in der Biographie Pier Paolo Pasolinis, daß das Gedicht mit dem Titel „Dedica“ „eines der ersten, im Sommer ’41 geschriebenen Gedichte“ gewesen ist. Es lag einem mit Juli 1941 datierten Brief bei, hatte den Titel „Acque di Casarsa“ und war in der italienischen Hochsprache geschrieben. Einige Tage später übersetzt Pasolini das kleine Gedicht in den Dialekt, ins Westfriulanische, ins Casarsa-Friulanische. Warum?
Es gibt auf die Frage verschiedene Antworten, ich möchte meine Antwort mit dem ,a‘ in Verbindung setzen. Zunächst gibt es die überraschte Antwort eines damaligen Freundes von Pasolini, Cesare Bortotto:
Er erzählte mir zum ersten Mal von seiner linguistischen Entdeckung der Mundart von Casarsa; mehrfach, fast im Geheimen, las er mir seine poetischen Versuche vor, die dann im Jahr darauf den Kern der Poesie a Casarsa bildeten. Mir erschien es wie Ketzerei, angesichts des krassen Unterschieds zwischen dem zentralen Friaulisch und dem in Casarsa, das so armselig und ungeschliffen war; außerdem war es ungewöhnlich, wie der gänzlich der italienischen Kultur verpflichtete Pier Paolo sich der kleinen mundartlichen Welt von Casarsa näherte.
Keine eindeutige Antwort, eine Antwort mit vielen verschiedenen Strömungen. Das Friulanische keine Sprache, sondern eine Mundart. Das Friulanische als eine ,linguistische Entdeckung‘. Was das wohl meinte – wenn man das Wort ,linguistisch‘ in viele Einzelheiten und Einsichten auflöste und die einzelne ,Entdeckung‘ zu Entdeckungen machte? Das Vorlesen fast im Geheimen? Was ist das Fast-Geheime? Die Ketzerei, die darin liegt, nicht das Stadt-Friulanische von Udine und Umgebung zu schreiben, sondern das Casarsa-Friulanische, in dem man schon Spuren des Venetischen und Venezianischen hört. Schließlich nennt Bortotto noch die italienische Kultur und Sprache Pasolinis. Pasolini spricht Italienisch. In der Pasolini-Familie sprechen alle miteinander Italienisch, offenbar nie das in Casarsa gesprochene Friulanisch. In dem mütterlichen Familienzweig, Colussi, Friulanisch Colus, wird das Venetische gesprochen, in Anwesenheit der Pasolinis aber immer das Italienische. Zu seltenen Anlässen sprach man in der Colussi-Familie weder das gewohnte Venetische, noch das Italienische, sondern Friulanisch. Nehmen wir an, daß Pasolini es bei diesen seltenen Anlässen ganz selten gehört hat.
Gehört hat er die Sprache auf den Straßen und in den Läden von Casarsa, in den Dörfern der Umgebung, durch welche er mit seinem Fahrrad gefahren ist, an den Wasserläufen und vielen Teichen. Naldini berichtet darüber:
Pier Paolo kann Friulanisch, weil er es bei den Bauern gelernt hat, aber noch spricht er es nicht aus Gewohnheit; es ist nur ein Kommunikationsmittel bei Begegnungen mit den Jungen am Tagliamento und auf den holzgezimmerten Dorftanzböden. Zu Hause mit den Verwandten spricht er teils Italienisch, teils Venetisch. Und Venetisch spricht er auch, denn es handelt sich um Jungen aus dem Kleinbürgertum, mit den Mitgliedern der Fußballmannschaft.
Naldini berichtet an dieser Stelle über den Sommer 1941, in dem auch die ersten friulanischen Gedichte entstehen. Das Friulanische ist zu dieser Zeit nicht Pasolinis Sprache – er hört es in der Familie fast nie, er übt es, vielleicht auf unsichere Weise, beim Fußballspielen, beim Baden im Fluß und in den Teichen, bei Begegnungen auf der Straße.
Cesare Bortotto berichtet auch, daß während des Vorlesens und Diskutierens über antifaschistische Aktivitäten gesprochen wurde, die aus Spanien bekannt geworden waren. Bortotto und Pasolini sprachen über die Franco-Gegner, die aus vielen Ländern nach Spanien gingen.
Was also bahnt sich einen Weg oder Ausdruck in Pasolinis friulanischen Gedichten – den nicht allzu vielen, die ihn aber sein Leben lang beschäftigen werden, bis zu einer Umschrift, die er 1974 publiziert? Dialektdichtung war während des Mussolini-Regimes aus politischen Gründen unerwünscht. Doch Pasolini veröffentlicht in einer Zeitschrift, deren erste Ausgabe 1942 als ,Tagesordnung des Kommandos der italienischen Faschistischen Jugend in Bologna‘ erscheint. Direktor der Zeitschrift mit dem Namen Setaccio ist Giovanni Falzone, den Naldini als jemanden beschreibt, „der die ,faschistische Ära‘ in Versen besang“. Vizeberater des Direktors ist Pasolini. Die Zeitschrift ist offizielles Organ der faschistischen Jugendorganisation Gil. In diesem Jahr 1942 erscheint, in einem kleinen Verlag in Bologna, Pasolinis erstes Buch, der Gedichtband Poesie a Casarsa. Im Jahr 1942 nimmt er auch Teil an zwei großen Treffen der faschistischen Jugend, eines in Florenz, eines in Weimar. Er trifft in Weimar auf junge Leute aus allen Teilen Europas, die vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt sind.
Über dieses Weimarer Treffen publiziert Pasolini in der dritten Nummer der neugegründeten Zeitschrift einen Bericht. Ich vermute, daß er nicht zum Programm der Zeitschrift paßt. Ich kenne den Text nicht. Naldini berichtet in der Biographie:
Als er aus Weimar zurückkam (…) trug er an seiner Studentenmütze einige Anstecknadeln mit dem Hakenkreuz, die ihm junge Deutsche geschenkt hatten.
Pasolini schreibt in einer militärischen Weltumgebung. Er selbst ist im Juli 1942 im Militärlager Porretta Terme, wo er an einer Ausbildung zum Reserveoffizier oder Reserveoffiziersanwärter teilnimmt (ich weiß nicht, worin sich die beiden Reserven unterscheiden). Pasolinis Vater Carlo Alberto, offenbar ein Anhänger des Faschismus von Anfang an, ist Hauptmann, dann Major der Infanterie und 1942 im Einsatz in Kenia, wo er in englische Kriegsgefangenschaft gerät.
Warum also übersetzt Pasolini das kurze in italienischer Sprache geschriebene Gedicht „Acque di Casarsa“ ins Casarsa-Friulanische? Ich habe auf die Frage keine richtige Antwort. Aber es ist augenscheinlich, daß die Übersetzung allerlei verändert in dem Gedicht. Vielleicht mehr Veränderung als Übersetzung.
Die Gründe für diese Veränderung möchte ich im Gedicht und in der Sprache suchen, nicht in der Weltumgebung. Vielleicht sind ja auch Welt und Sprache gar nicht zu unterscheiden und das ,a‘ ist nicht ein Sprachlaut, sondern ein Weltlaut. Weltumgebung des Vaters, der den Gebrauch des Dialekts ablehnt, verachtet. Der Militarismus des Vaters – doch dem Vater widmet Pasolini sein erstes Buch. Das friulanische Dialektgedicht vielleicht als etwas Antislawisches, Pro-Friulanisches. Das Gedicht als Dokument zur Unterstützung einer friulanischen Autonomie.
Pier Paolo Pasolinis Bruder, der sich der 1. Brigade Osoppo im östlichen Friaul, in den Colli Orientali hinter Udine, angeschlossen hat und in Konflikt gerät mit jugoslawischen antifaschistischen Partisanenverbänden, die Teile des Friaul besetzen möchten, bittet Pier Paolo in einem am 27. November 1944 geschriebenen, sehr langen Brief um Unterstützung:
Wir haben unter anderem eine neue Zeitung gegründet: Quelli del Tricolore, Du müßtest ein paar passende Artikel schreiben (…) mit einigen Gedichten, wenn’s geht, auf italienisch und friaulisch (mit Übersetzung), einigen Liedern auf bekannte Melodien, auch italienisch und friaulisch, etc. etc.
Soweit aus Nico Naldinis Pasolini-Biographie hervorgeht, hat Pasolini den Brief nicht beantwortet, auch keine italienischen und friulanischen Gedichte geschrieben und zur Publikation in der Zeitschrift an seinen Bruder geschickt.
Pasolinis Bruder Guido, der auf Seiten der italienischen Partisanen kämpft, wird am 12. Februar 1945 getötet, nicht in den Gefechten mit den übermächtigen deutschen Truppen, sondern, zusammen mit einigen Gefährten, von italienischen kommunistischen Partisanen. Zwei Jahre danach, 1947, wird Pasolini Mitglied der kommunistischen Partei Italiens. Später – als er schon ausgeschlossen war aus der Partei – schreibt Pasolini über seinen Bruder:
Ich glaube, es gibt keinen Kommunisten, der die Handlungsweise des Partisanen verurteilen könnte. Ich bin stolz auf ihn, auf seine Großmut, auf seine Leidenschaft, die mich dazu verpflichtet, den Weg weiterzuverfolgen, den ich gehe. Daß er so umgekommen ist, in einer komplizierten und dem Anschein nach schwer zu beurteilenden Situation, läßt mich keineswegs zögern. Es bestätigt mich nur in der Überzeugung, daß nichts einfach ist, nichts ohne Änderung und Leiden geschieht; und daß vor allem anderen der klare kritische Verstand zählt, der die Wörter und Konventionen zerstört.
Kriegszeit. Doch Pasolinis friulanische Gedichte sind keine Kriegsgedichte. Und die Kriegszeit ist nicht eine Kriegszeit. Es ist Schulzeit – Pasolini hat mit Freunden eine kleine Dorfschule gegründet, nachdem die Bahnlinie zu den Schulorten bombardiert worden, eine neue Schule zur Notwendigkeit geworden ist. Und es ist eine Akademiezeit – am 18. Februar 1945 gründet Pasolini die Academiuta di lenga furlana. Schulzeit, Pasolini beschreibt sie etwas später so:
Es (das Haus) war sehr klein, und wir paßten kaum hinein; aber oft wurde der Unterricht auf die Wiese verlegt, unter zwei riesige Pinien, die der Wind umstrich. Nun erscheint mir alles aus jener Zeit vollkommen, auch die Bombenangriffe (von meiner Gegenwart beschützt, fanden die Jungen das furchtbare Kreisen der Jagdbomber unterhaltsam, begeisterten sich geradezu über die Sturzflüge, die das Land an der Wurzel erschütterten; die Brücke, Madonna di Rosa und das sehr nahe Casarsa wurden andauernd getroffen, zerstört, geschleift von den Bomben, deren Rauchschwaden den Horizont verdunkelten). Nicht einmal die Erinnerung an die Bombengeschwader, die kaum mehr als einen Kilometer von uns entfernt vor unseren Augen gleich sechs Mal Casarsa bombardierten, ist mir unangenehm; wir sahen vor der Türe unserer poetischen Schule zu.
Die friulanischen Gedichte sind wohl auch kein unmittelbares statement gegen die faschistische Ideologie und Politik. Die ersten dieser Gedichte werden in Setaccio veröffentlicht, der Zeitschrift der faschistischen Jugendorganisation Gil.
Am 30. Oktober 1945 tritt Pasolini dem Verein für friaulische Autonomie bei. Darüber schreibt er:
Mit der Gründung dieser Region an den Grenzen zu Österreich und Jugoslawien würden die Grenzen gestärkt, nicht etwa geschwächt. Es ist ja in der Tat nicht zu übersehen, daß ein ethnisch und sprachlich stärkeres Friaul (wenn seine Würde anerkannt und praktisch bestätigt würde) sehr viel stabiler, friaulischer und somit italienischer wäre als ein anonymes, umherirrendes, von Venetien angegriffenes Friaul ohne Bewußtsein. (…) Nichts ist besser, als der schleichenden slawischen Ausbreitung eine selbstbewußte friaulische Region entgegenzusetzen.
Warum übersetzt Pasolini 1942 das kurze in italienischer Sprache geschriebene Gedicht „Acque di Casarsa“? – Vielleicht, um den Titel zu verändern. Aus „Acque di Casarsa“ wird im übersetzten Gedicht „Dedica“. Die Veränderung ist groß, eine vollkommene Veränderung. Liest man genau, so bleibt in dieser vollkommenen Veränderung etwas gleich, nämlich die Silben ,di‘ und ,ca‘. ,Acque di Casarsa‘, ,Acque di Ca‘ wird zu ,De di ca‘. Anders gesagt: ,di Ca‘ wird zu ,dica‘. Pasolini übersetzt ,di Ca‘ in ,dica‘. ,Dica‘, so wie es enthalten ist in ,Dedica‘, meint soviel wie sagen. Die Übersetzung, die der junge Pasolini hier versucht hat, von ihm selbst wohl unbemerkt, ist eine Übersetzung ins Sagen. Von ,di Casarsa‘ zu ,dedicare‘. Von den Feuerhäusern und der Asche zum Sagen, Sprechen.
Das Wort ,acqua‘ in der ersten Zeile des Gedichts kehrt in der Dialektübersetzung wieder, verändert. Aus ,acqua‘ ist ,aga‘ geworden. Was hat sich verändert? Anders ist, daß dieses ,aga‘ fast nur aus ,a‘ besteht – um es auszusprechen, braucht man den Mund und die Lippen nicht zu schließen: aga. Den Konsonanten kann man sprechen, ohne den Mund und das ,a‘ zu schließen. Um ,acqua‘ zu sagen, muß man den Mund kurz verschließen und eine Art von ,u‘, einen Anflug von ,u‘ in der Aussprache zulassen: acqua. ,Aga‘ hingegen ist fast reines ,a‘, rhythmisiert und angeschoben vom ,g‘. „Fontana di aga dal me país.“ Der ganze Vers spricht in a-Lauten. Was ist dieses ,a‘?
Die zweite Zeile des Gedichts beginnt mit diesem ,a‘, wie wenn ,a‘ die Hauptsache des Gedichts wäre: „A no è aga“. Nicht Wasser der Gegenstand des Gedichts, sondern ,a‘ – der Laut des Gedichts als sein Thema und seine Sache. Dieses ,a‘ am Beginn der Zeile ist eine Besonderheit des Friulanischen. Es ist ein zusätzlicher Artikel oder ein zusätzliches Partikel, welches vor ein Verbum in der dritten Person gesetzt wird – im vorliegenden Beispiel vor das Verbum ,è‘, vor das ,ist‘.
Pasolini berichtet in seinem zwischen Juni 1946 und Dezember 1947 geschriebenen „roten Heft“ über die Zeit, in der die ersten friulanischen Gedichte entstanden:
Ich erinnere mich an die ersten Februartage des Jahres 1943… ich machte mich daran, mein Casarsa wiederzuentdecken, in das nach den Farben des Winters das Grün zurückgekehrt war. Ich hegte in mir eine Unzahl zärtlicher Absichten, Gedanken an Freundschaften und an Alleinsein… ich entdeckte von neuem die vertrauten abendlichen Gerüche von Rauch, von Polenta und kalter Luft, den Tonfall der Sprache, ihre offenen Vokale, ihre Zischlaute, die an den geheimen, nicht in Worte faßbaren Sinn rührten, der sich in jener Welt verbarg.
Die offenen Vokale – sind es die, in die Pasolini seine ersten Gedichtversuche übersetzt – ,acqua‘ in ,aga‘ übersetzt, ,acqua‘ mit seinem geschlossenen Mittelteil übersetzt in ,aga‘, in das immer offen vokalische? Besitzt ,a‘ einen geheimen Sinn, einen in Worten nicht faßbaren?
Fontana di aga dal me país.
A no è aga pí fres-cia che tal me país.
Fontana di rustic amòur.
Das hochsprachliche Wort ,morto‘ wird im Friulanischen zu ,muàrt‘. Verliert es, so übersetzt, seinen Sinn und wird es zum Ausdruck eines anderen, eher nicht in Worten faßbaren Sinns? Wenn ,morto‘ morto bedeutet, tot, was bedeutet dann ,muàrt‘?
In dem Gedicht mit dem Titel „Il nini muàrt“ – das zweite Gedicht, das Pasolini sofort im Dialekt von Casarsa geschrieben hat (das erste ist anscheinend verlorengegangen) – beginnen drei der sechs Zeilen mit dem Artikel?, Partikel?, Laut?, geheimen Sinn?, mit der Wortlosigkeit und dem Buchstaben ,a‘ –
IL NINI MUÀRT
Sera imbarlumida, tal fossàl
a cres l’aga, na’ fèmina plena
a ciamina pal ciamp.
Jo ti recuardi, Narcís, ti vèvis il colòur
de la sera, quand li ciampanis
a súnin di muàrt.
„A súnin di muàrt“ – sagt der Vers dasselbe wie: „suonano di morte“, oder wie: „sie klingen nach Tod“? Oder liegt im ,a‘ ein anderer, abweichender Sinn? Liegt im ,a‘ Abweichung? Obgleich das Gedicht von vielerlei Verschiedenem und Unterscheidbarem zu sprechen scheint – von einer Frau, die schwanger ist, von den Feldern, vom Abendlicht, von Narziss, von den Glocken, von Erinnerung und vom Tod –, könnte es so sein, daß es, vielleicht insgeheim, von immer ein und demselben spricht, von etwas, in welchem Abend und Licht und Frau und Ungeborenes und Wege und Felder und Narziss und alle Farben und die Kirchglocken und die Klänge und der Tod und ein totes Kind und die Erinnerung ein und dasselbe sind oder wie Nuancen ein und desselben, wie Dialekte und Varianten desselben, fast Nuancen und Variationen von ,a‘. So wie in dem Gedicht ,ciamina‘ und ,ciamp‘ und ,ciampanis‘ einander gleichen oder einander gleich sind oder eins, so sind vielleicht auch die anderen im Gedicht, die Anderen, einander gleich. Oder anders gesagt: Die Oppositionen stehen zueinander in Beziehung, sind wie einander gewidmet, auf einander bezogen. Das Gedicht ist voll von Andersheit und Zugewandtheit, d.h. voll von Eros. Andersheit ist Attraktion.
Für den Band La nuova gioventù, Poesie friulane 1941–1974 hat Pasolini das Gedicht „Il nini muàrt“ ins Italienische übersetzt. Die ersten drei Zeilen, die im Friulanischen lauten:
Sera imbarlumida, tal fossàl
a cres l’aga, na fèmina plena
a ciamina pal ciamp
übersetzt Pasolini auf die folgende Weise:
Sera luminosa, nel fosso cresce l’acqua, una donna incinta cammina per il campo.
In der Übersetzung gibt es keine Verse, vermutlich hat sie Pasolini als Prosa verstanden. Er entpoetisiert seine Übersetzung. Warum? Vielleicht darum, weil sie die A-Laute verloren hat, den wortlosen Stoff, den Stoff, der keiner ist. ,Sera luminosa‘ ist die Übersetzung von ,sera imbarlumida‘. In der italienischen Übersetzung verliert also der schwach oder geheim schimmernde Abend die Silbe ,bar‘, die dem ,lum‘, dem ,lumida‘ voransteht. In der italienischen Version steht nur ,luminosa‘, ohne ,bar‘. Der Laut ,u‘ herrscht vor. Was ist ,bar‘? ,Imbarlumida‘ beschreibt wohl ein schwächeres Licht als das Wort ,luminosa‘. Und ,bar‘ bleibt unklar, enthält aber den a-Stoff.
Dieser Stoff ist auch im nächsten Satzteil bestimmend, im Friulanischen, in der Übersetzung aber nicht mehr dominant. Im Italienischen steht: ,nel fosso‘. Im Friulanischen: ,tal fossal‘. Dann Italienisch: ,cresce l’acqua‘. Friulanisch: ,a cres l’aga‘. Italienisch: ,una‘. Friulanisch: ,na‘. Italienisch: ,cammina per il campo‘. Friulanisch: ,a ciamina pal ciamp‘. Verglichen mit dem italienischen ,cammina‘ besitzt das Friulanische ein weiteres ,a‘: ,A ciamina‘. Wo es Italienisch ,per il‘ heißt, steht im Friulanischen: ,pal‘. Und Italienisch ,campo‘ verliert das ,o‘ und heißt ,ciamp‘.
Poesie a Casarsa heißt die frühe Sammlung von Dialektgedichten. Merkwürdigerweise habe ich in mehreren Übersetzungen gelesen, daß der Titel wiedergegeben wird als ,Gedichte aus Casarsa‘. Ist das ,a‘ nicht ein ganz anderer Stoff als die deutsche Präposition ,aus‘? Spricht der Titel nicht eine Hinwendung an, eine Beziehung, eine Widmung, einen Adressaten, einen Anderen? Poesie a Casarsa – Gedichte an Casarsa?
Im Gedicht vom Garten des Gasthauses, „L’ort da l’ostaria“, aus Pasolinis zweiter Folge von Dialektgedichten (1944–1949), gibt es wieder eine Reihe von überlegenswerten a-Erscheinungen, in einem ähnlichen Licht wie jenem am schimmernden Abend. Es ist da ein Pflug, der vom Mond unangestrahlt schwach schimmert. Die Mutter macht das Licht an, im Friulanischen mit jenem zusätzlichen, überschüssigen ,a‘: „La mari a impija la lus“. In der zweiten Strophe hat die Mutter ein zweites Licht gemacht, jenes über der Bocciabahn, und um das zu sagen, gebraucht das Gedicht einen ganzen cluster von a-Lauten. Der Pflug schimmert unter dem Mond und die Mutter hat Licht gemacht über dem Spiel mit den Bocciakugeln. Das, was die Mutter getan hat, lautet im Friulanischen so: „e la mari a à zà impijàt la lus“ – und auf den a-Lauten schweben lauter Betonungszeichen. Italienisch, in Pasolinis eigener Übersetzung: „ha gia acceso“. „A à zà impijàt.“ Die Bocciakugeln heißen oder lauten übrigens ,balis‘. Das italienische ,delle bocce‘ wird im Friulanischen zu ,da li balis‘. ,Da li balis‘ klingt wie reiner Überschuß, Pleonasmus, Tautologie.
Wenn ,a‘, wie im Titel Poesie a Casarsa, Beziehungsstoff ist, so zeigt es im Gedicht vom Gasthofgarten einen weiteren Gehalt. Pasolini übersetzt nämlich das Friulanische ,ai la luna‘ in der dritten Strophe in ,con la luna‘: mit dem Mond. Poesie a Casarsa sind vielleicht auch ,Gedichte mit Casarsa‘.
,Ai‘, das schon zu hören war in dem verspielten ,da li balis‘, ist in der dritten und letzten Strophe des Gedichts „L’ort da l’ostaria“ auch in zwei anderen Worten zu finden: in ,tredis ains‘ und in ,to cumpains‘, in den Kumpanen. Da li balis – tredis ains – ai la luna – to cumpains. Das Gedicht beginnt mit den Worten ,la mari‘ –
L’ORT DA L’OSTARIA
La mari a impija la lus
e il zovinút al cianta
cu la so vòus rúspia
muardínt un piersul crut.
La vuàrzina a tarlupa
sot la luna e la mari
a à zà impijàt la lus
sora il zòuc da li balis.
Pensa ch’i ti pensi,
ostèir di tredis àins,
intant che ai la luna
rivin i tò cumpàins.
Eine Zusammenführung beider ,a‘, des ,a‘ als Präposition und des zusätzlichen ,a‘ vor einem Verbum, findet sich am Ende des Gedichts ,Ciant da li ciampanis‘, des Lieds der Glocken:
al so país al torna di lontàn
Das erste ,al‘ ist eine Präposition – in sein Dorf –, das zweite ,al‘ verbindet sich mit dem Zeitwort ,torna‘ – er kehrt zurück.
„… tu, Friuli … a uno che la tua lingua schiava liberava…“ … Du, Friaul… zu einem, der deine Sprache entfesselte, befreite.
Pasolinis friulanische Sprache ist nicht seine Sprache. Sie ist ein Du. Sie ist fremd, neu, erlernt. Das Friulanische ist das Andere, Heteronyme, auch Heterosexuelle. Pasolinis Homosexualität, die er in Casarsa schließlich erkannt hat, ist wohl eine intensive Form von Heterosexualität, Beziehung und Gezogenheit zum Anderen, zum Du. Ein früher solcher Anderer und Geliebter war wohl das Friulanische. Es gibt nichts, das man bezeichnen könnte als ,mondo friulano di Pasolini‘. Die Welt und die Sprache Casarsas und des Friaul sind nicht seine. Pasolinis Sprache ist nicht ein Ausdruck des Eigenen – es existiert gar keine eigene Sprache. Die Sprache ist eine Form des Lernens des Anderen. Die Sprache ist eine Schule – darum die Gründungen der Dorfschule und der Academiuta – und sie ist eine Lehrerin.
Pasolinis Werke sind in fremden Dialekten geschrieben, mitgeschrieben, abgeschrieben oder in Form von Briefen, die den Anderen ansprechen. Die letzten sind die Lutherbriefe, unter denen sich der Gennariello befindet. Es steht darin nichts von einer eigenen Welt. Kein Reichtum, kein Besitz, nur Andersheit. Darum so viele Stadtränder in seinem Leben – die Zonen ohne Reichtum und Besitz. Am Stadtrand gibt es nur die Anderen – Rand und Andere. Vielleicht ist Pasolinis Homosexualität, nämlich seine intensive Heterosexualität, eine unserer vielen Reparaturarbeiten nach dem großen Krieg.
Giuseppe Zigaina hat erzählt, wie Pasolini die fremde Sprache gelernt hat:
Zum ersten Mal besuchte er mich in Capo di Sopra di Villa Vicentina, wo ich damals wohnte, im März 1948 (ich weiß noch, daß gerade die Knospen an den Weiden herauskamen, deshalb sage ich mit Gewißheit März). Gemeinsam fuhren wir mit dem Fahrrad noch einmal alle Wege meiner nächtlichen Streifzüge während der Verdunkelung im Krieg ab: die Dämme des Torre und des Isonzo. In den kleinen Ortschaften hielten wir an, und er näherte sich den Buben, um friaulisch mit ihnen zu sprechen. Wenn wir dann heimkamen, schrieb er sich alle Endungen etc. auf.
Aufschreiben wie ein Schüler. In den Litaneien vom schönen Kind schreibt Pasolini ein wieder anderes ,a‘. In einer der Strophen des Gedichts bittet das Kind Jesus darum, es nicht sterben zu lassen: „no fami murí“. In der darauf folgenden Strophe bittet das Kind: „ah fami murí“. ,Ah‘ wie ein Ausruf und wie ein ,ach‘, kein Wort, sondern ein Ausdruck des Körpers, ein Seufzen. Heute ist Sonntag, morgen der Tod:
Vuei a è Domènia,
doman a si mòur
Italienisch:
che mi lega a una terra
Friulanisch:
ch’a mi lea a na ciera
Zigaina aber spricht insbesondere von den Wortendungen. Pasolini könnte bei den Fahrradfahrten notiert und aufgeschrieben haben, daß die Endungen der Verben, wenn das Verbum in der ersten Person steht, nicht den italienischen o-Endungen gleichen – amo, vedo, cerco –, sondern die erste Person singular im Friulanischen aussieht wie eine zweite Person singular, wie die Du-Form. „I vuardi il soreli“ – das heißt nicht: du siehst die Sonne, guardi, sondern es heißt: ich sehe die Sonne. „I vuardi il me cuarp“ – ich sehe meinen Körper. „Di quant’ ch’i eri frut“ – ,eri‘ aber heißt nicht ,du warst‘, wie in der Hochsprache, sondern es heißt ,ich war‘. Ich-Sagen im Friulanischen ist beinahe so wie Du-Sagen, zum Anderen Sprechen.
Und wie lautet im Friulanischen der Satz : ,Du siehst‘? ,I vuarditu‘. Es klingt ein bißchen wie ,ich sehe du‘. Du siehst = ich sehe dich? Ich erinnere mich: mi ricordo. Friulanisch: recuardi. Ich glaubte: io credevo. Friulanisch: crodevi. Mi sedevo: mi sintavi. Vuardi und vuarditu – was sich für einen fremden Betrachter darstellt wie eine Vermengung von ,ich‘ und ,du‘, von ,ich sehe‘ und ,du siehst‘ und ,ich sehe dich‘, es könnte erinnern an den Beginn des 1975 verfaßten Gennariello-Traktats: Teil 1: Mein Bild von Dir; Teil 2: Dein Bild von mir; Teil 3: Weiteres über Deinen Lehrer; Teil 4: Wie wir miteinander reden werden. Io guardo. Tu guardi. Vuardi. Vuarditu.
Sprache, so wie Pasolini sie erlernt und schreibt, ist kein Eigenes. Sondern das Andere, der Andere – sie kommt zum Ausdruck im Brief, in der Anrede, in der Non-Konformität, heteronym, sagt immer ,du‘ und nicht ,ich‘, ist ein Schulhaus. Sie sagt nicht MEIN, sondern DEIN. Vielleicht ist sie ein wehrloses Medium, darum für den jungen Studenten des Friulanischen eine auffallend andere Sache als die Waffen und die bewaffneten Angriffe, die dann 1943 und 1944 gegen Casarsa, gegen das Friaul und Veneto gerichtet sind. Pasolinis Vater, Hauptmann der Infanterie, dann Major, lehnt das Friulanische ab, spricht es nicht, will nicht, daß es in der Familie gesprochen wird. Doch Pasolinis früher Gedichtband Poesie a Casarsa ist dem Vater gewidmet – spricht ihn Friulanisch an. Das erste Wort in diesem ersten Buch ist das Wort ,Dedica‘. Dedicare – sprechen und ein Du anrufen. Pasolinis Friaul ist ein Du.
(…)
Peter Waterhouse, Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Ricarda Gerosa: Pasolini traduttore
Die Übersetzung im friaulischen Werk von Pier Paolo Pasolini
– Ein Querschnitt. –
Er hatte Unrecht, und ich war nicht im Recht. Es gibt einen Unterschied, und er ist mir bewußt. Einen Widerstreit der Wesensarten, Poetiken, Intellekte und Engagements wie den unseren läßt die vergehende Zeit nicht trügerischer erscheinen als jede andere Unternehmung und Existenz in ihrem Licht. Sie verwandelt ihn in eine zunehmend opake Erinnerung; andere könnte sie hingegen kostbarer machen, vorausgesetzt, es gäbe jemanden, der darin Besseres zu lesen vermöchte als zwei einzelne Schicksale.
Wenn ich sage, daß er Unrecht hatte, meine ich nicht seine Dichtung, wenn sie wirklich Dichtung war. Dichtung hat weder Recht noch Unrecht, sondern Präsenz. Recht und Unrecht liegen allenfalls in den Antworten dessen, der an ihr teilhat. Ich spreche von etwas anderem als von Leidenschaft und Ideologie. Unter „Leidenschaft“ verstehe ich das Projekt, das wir für uns und für andere entwerfen. Unter „Ideologie“ die geistige Ordnung der Überzeugungen und Beweggründe. Ich glaube, daß das Projekt Pasolinis, nämlich die Projektion eines umfassenden Entwurfs seiner Person auf sich selbst und eines Entwurfs der anderen auf die anderen, abwegig und ohne Zukunft war; und daß sein intellektueller Ingrimm häufig von einer übermächtigen geistigen Verwirrung entweder verdunkelt oder eingedämmt wurde.
Wenn ich sage, daß ich nicht im Recht war, meine ich freilich nicht das, was ich an ihn und über ihn geschrieben haben mag. Ich meine, daß auch ich die Leidenschaft für das Projekt oder Bild nicht überwinden wollte und konnte, das ich für mich und andere entworfen habe und weiterhin entwerfe, und zwar um so ausgeprägter, ja, sogar mit einem privaten und ,idiotischen‘ Tenor, je stärker ich Unpersönlichkeit und Objektivität proklamierte. Obwohl ich glaube, daß ich in Bezug auf Pasolini nach den Maßstäben der Vernunft wirklich Recht hatte, weiß ich, daß ich vor dem goldenen Lebensbaum im Unrecht war. (…)
Ich bin überzeugt, daß eine kritische Wertung seines Werks sich nicht sofort von seinen ideologischen Aussagen distanzieren kann, sich aber sofort danach von ihnen distanzieren muß. Wahrscheinlich hat kein anderer italienischer Autor unseres Jahrhunderts in seinem Werk so viele Urteile über die Zeitgeschichte und die Gesellschaft, in der er lebte, angehäuft wie Pasolini, und keiner hat mit vergleichbarer Beharrlichkeit aus diesen Urteilen den Stoff für sein Schreiben gemacht. Doch tat er dies in Formen, die entschlüsselt werden wollen.
Dafür braucht es eine sprach- und stilanalytische Lektüre, die sich einen Weg durch die Masse ununterbrochener Feststellungen und Plädoyers bahnt und die radioaktiven Elemente darin identifiziert, um sodann das Ganze in ihrem Licht neu zu interpretieren. Fast immer „lobt ein jeder, ein jeder schneidet ab“, ich gehöre auch dazu, und nimmt sich mit nach Haus, was ihm am besten paßt. Auch ist man versucht, von den vielen Facetten des Autors zu künden – der autobiographische Fabulierer, der Lyriker, der Dramatiker, der Erzähler, der Cineast, der Polemiker und der Kritiker – und zu einer akzeptablen Synthese zu kommen. Doch damit ist man noch nicht zu den entscheidenden Tiefen hinabgestiegen, zu den widersprüchlichsten Verbindungen seines Schreibens in Versen, das, so wie es mir immer erschienen ist, in seiner Form nicht mehr oder nichts anderes sagt als das, was die selbstkritische Intelligenz ihres Autors sagen will. Diese wird durch den Antagonismus zwischen einem despotischen Willen zur Allmacht und dem verborgenen Wissen um die eigene Ohnmacht fast zum Delirium. Doch darüber kann ich hier nicht sprechen. (…)
Was bedeutet also der Titel, und worum geht es auf diesen Seiten?
An erster Stelle geht es um den, der sie geschrieben hat, sie sind ein Abschnitt einer gewöhnlichen Autobiographie. Von diesem Genre haben sie das Knechtische, die Widersprüche und die Willkür. Zweitens sind sie Dokumente kultureller, literarischer und politischer Geschehnisse, die von gewissem Interesse sein können, will man verstehen, was die Vorstellungen und Meinungen desjenigen beherrschte, der hier schreibend das Werk sowie seine persönlichen und geistigen Beziehungen zu Pasolini in den zwei Jahrzehnten vor seinem Tod wie in den zwei Jahrzehnten danach durchquert und damit wahrscheinlich auch die vieler anderer berührt.
Ausgewogenheit und Distanz waren mir unmöglich. Nicht nur, weil ich mich damals fast immer aus aktuellem Anlaß (Rezensionen, Briefe) extemporierend zu Wort gemeldet habe, sondern auch, weil sich jedes meiner Worte über Pasolini für lange Zeit sofort neben und gegen jene stellte, die er oder andere über ihn und uns schrieben.
Heute ist das nicht mehr so. Was sich bei jenen Anlässen in uns beiden regte, muß einem jungen Menschen von heute vollkommen unverständlich, ja fast an Wahnsinn grenzend erscheinen. Aber wir waren weder verrückt noch Fanatiker. Wir waren, etwa zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Herzen des Jahrhunderts, noch reich an etwas, das uns, wie Pasolini schrieb, zum Weinen brachte, wenn wir Rom, offene Stadt sahen. Tränen sind alles andere als ein gutes Urteilskriterium. Trotzdem würde ich gerne wissen, was einen Mann von dreißig Jahren, denn so alt war Pier Paolo damals, heute zum Weinen bringen könnte.
Auch würde ich einem oder zweien dieser jungen Menschen gerne sagen: Versucht, unsere Sprache zu verstehen, so wie man eine Fremdsprache lernt, denn sie ähnelt nur scheinbar derjenigen, die Ihr tagtäglich beim Sprechen oder Denken benutzt. Wenn Ihr meint, das lohne die Mühe nicht, schließt eilends unsere Bücher, macht Schluß mit der Zeit, die sie hervorbrachte, und viel Glück.
Diese Argumente galten jedenfalls nicht dem Schriftsteller und Dichter, auch nicht seiner und meiner Biographie, sondern unserem Leben, das heißt, dem Sinn unseres Daseins in der Welt, unseren Aufgaben, unseren Entscheidungen. Nicht seiner oder unserer Arbeit, nein, der Art und Weise, wie ein paar Jahrzehnte gelebt und vergeudet wurden. Das sage ich, obwohl ich damit ironische Bemerkungen derjenigen provozieren werde, die wissen, wie gering die Bedeutung der Ereignisse um intellektuelle und literarische Gruppierungen in Wirklichkeit ist. Und auch mit der ganzen Wut darüber, daß ich es nicht vermocht habe, energisch genug gegen die lächerliche und keineswegs unschuldige Überbetonung der Rollen vorzugehen, die die Macht – oder die Antimacht, nicht selten Komplizin der Ersteren – den Körperschaften der Kunst und Literatur zuschreibt.
Warum dann von „Recht“ und „Unrecht“ sprechen?
Eine Antwort steht in einer Entgegnung auf eine Kritik an Pasolini, die ich in den Quaderni Piacentini schrieb. In einem Leserbrief vom 20. Oktober 1964 war Pasolini vorgeworfen worfen, er halte sich für einen Dichter, „nicht aber für das was er ist, Signor Pasolini, der Autor von Gedichten, die wir bewundern.“
Diese Unterscheidung liegt am Ursprung. Entweder man liest die Werke (und auch das ganze bedeutungsvolle System, das wir das Leben eines Menschen oder vieler der aller Menschen nennen), wie man sie lesen muß, also als etwas, das einer endlosen Interpretationsarbeit bedarf – diese ewige Vorgeschichte eines Weltgerichts, das nicht stattfinden wird –, oder man akzeptiert die grobe, aber unabweisbare und notwendige Unterteilung in „Gattungen“. Nun gibt es unter den Zeichensystemen, die Pasolini uns hinterlassen hat, solche, auf die sich die Kategorien und Urteile des Wahr und Falsch, des Richtig und Unrichtig eher anwenden lassen als auf andere: es sind seine theoretischen und kritischen Schriften, die ideologischen, politischen, polemischen, journalistischen, brieflichen, stimmungsabhängigen Einwürfe. Um den Preis, verbohrt, kleinlich, taub, blind und schlimmer zu erscheinen, habe ich immer vertreten und vertrete weiterhin, daß diese Ordnung von Zeichen, diese Sprechweisen, den gängigen Verwechselungen von Biologie und Authentizität, Obskurantismus und Religion trotzend, nach logischen und ethischen Kriterien beurteilt werden können. Ich weiß, daß ich das tun kann, weil ich genau weiß, daß es ein anderes Zeichensystem gibt, eben das poetisch-literarische. Ein anderes Zeichensystem, das, wie ich schon sagte, in seiner „Anwesenheit“ erfahren werden muß, freilich im Wissen darum, daß es sich, wird es der kritischen Übersetzung unterworfen, die jeder Rezipient zwangsläufig unternimmt, in ein anderes Zeichensystem verwandelt, sich aber für jeden zukünftigen Gebrauch wieder zur ursprünglichen formalen Gestalt zusammenfügt. So leben wir.
Und so wie das juristische Gesetz nicht umhin kann, seine eigene „Inhumanität“ zu akzeptieren, müssen die ideologischen, politischen, philosophischen und kritischen Behauptungen großer oder kleiner Dichter, welche Irrtümer (und vielleicht Dummheiten) waren, beurteilt werden, ohne dem Trugschluß zu verfallen, sie würden durch und innerhalb des gesamten Werks und Lebens dieser Dichter „ausgeglichen“. In diesem Punkt konnte Pasolini nicht mit mir einer Meinung sein. Abstriche an der Legitimierung seines Vergnügens duldete er nicht, er tobte und beschuldigte alle des Moralismus und Intellektualismus. Gleichzeitig aber verzichtete er nicht darauf, einzugreifen, das sein zu wollen – und es zu sein –, was man damals einen „militanten Intellektuellen“ nannte, wie manche seiner Freunde und ich selbst auch. Und wenn er wegen seiner Urteile oder seiner praktischen und intellektuellen Verhaltensweisen in die Ecke gedrängt wurde, neigte er dazu, in Sophismen, in eine Dialektik des Apparates abzugleiten, die Unverantwortlichkeit des poetischen Numen zu beschwören.
Er wollte nie verlieren, denn er wußte sich verloren. Darum werde ich meinen entsetzten Respekt vor den Wahrheiten, die in seinen logischen und ideologischen Irrtümern aufblitzten, weiterhin gegenüber denen leugnen, die an seiner Himmelsstürmerei eine Verantwortungsfreiheit und eine eher vitalistische als poetische oder künstlerische Immunität verteidigen. Eine Immunität, die, wie ich ihm 1956 nicht frei von vermessenem Gerechtigkeitssinn schrieb, dem Leiden seines und meines Volkes Vorschub leistete. Also war Pasolini wirklich Signor Pasolini, der Autor von Gedichten, die wir bewundern. Er war nicht die Verkörperung des Dichters. Im Unterschied zur Heiligkeit ist die Dichtung niemals inhaerens ossibus, sie kommt immer vor oder nach dem Subjekt.
„Ich weiß, daß unsere Geschichte beendet ist“; „Unsere Geschichte ist niemals beendet“. Der Unterschied liegt allein in der Bedeutung dieses „unsere“. Für Pier Paolo war es seine und die Geschichte seiner Altersgenossen, ihr zentraler Ort war das Festhalten am ,Volk‘, der beständige Antifaschismus, der Kampf der Kommunisten in der Linken von 1945–1955. Diese Geschichte war tatsächlich beendet. In den Gedichten von Gramsci’s Asche hat er das Ende dieser pathetischen, symbolischen Bilder mit äußerster Präzision gesehen und beschrieben. Im Unterschied zu anderen, die kurz nach dem Krieg, also zwischen 1946 und 1950, von diesem „Ende“ gesprochen hatten (Tobino, Arpino, Carlo Levi, Cassola, Saba, Sereni, Bassani), thematisierte Pasolini es genau zu dem Zeitpunkt, als in Italien ein neuer Prozeß begann, dessen gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen schon bald das auslösen sollten, was Pasolini die „anthropologische Mutation“ nannte. Es stimmt zwar, daß die Dichtung sich seit mindestens zwei Jahrhunderten (vielleicht länger) vom Pathos des Verschwindenden, Vergehenden nährt, aber daß die italienische Gesellschaft (so wie sie sich für den darstellte, der zwischen 1935 und 1955 fünfzehn bis einundzwanzig Jahre alt gewesen war) sich ab 1956 rasend schnell und zusehends wandelte, steht außer Zweifel. In diesem Sinne sprechen Il pianto della scavatrice und Una polemica in versi (noch vor Gramsci’s Asche) von dem verhängnisvollen Übergang im Jahr 1956. Es stimmt, daß das Kreischen des Baggers beweint, „was stirbt // und neu beginnt“, und daß „in dieser Melancholie das Leben liegt“, aber von diesem Moment an wird Pasolini immer genauer wissen, daß er „eine Kraft der Vergangenheit“ ist, und daß er sich, vor allem nach Accattone, immer stärker darauf konzentrieren wird, die Zerfallsprozesse des historischen Wandels zu erforschen, um dann zehn Jahre später, wenngleich in widersprüchlicher Form, die „Kinder“ von 1967–1968 abzulehnen.
Ein bemerkenswerter Punkt. Heute ist vielen klar, was theoretisch seit mindestens drei Jahrzehnten klar war: Der Abschnitt des Lebens der Nation, der mit Pasolinis Leben und dem des Verfassers zusammenfiel, wurde vor und nach dem Konflikt der sogenannten Supermächte in einem aller Vorstellungskraft spottenden Ausmaß dem politischen und militärischen Willen der USA unterworfen. Im Einklang mit den Regierungsparteien, dem Unternehmertum und den Massenmedien haben die Oppositionsparteien einvernehmlich Schweigen über das Ausmaß dieser Unterwerfung bewahrt. Man entgegne mir nicht, daß es genügend Köpfe und Analysen gegeben habe, die schon damals über die Wahrheit aufklärten. Von Ereignissen in einem Zustand allumfassender Abhängigkeit zu berichten, ist etwas ganz anderes als dessen Auswirkungen wahrzunehmen. Für diese Erkenntnis waren der Fall Osteuropas und die Geschehnisse in der Welt und in Italien während der vergangenen zwei Jahre, 1991–1993, erforderlich.
Wenn man also verstehen will, wovon zwei dreißig- bis vierzigjährige italienische Intellektuelle und Schriftsteller in dem Jahrzehnt sprachen, das vom 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion bis zur „Protestbewegung“ der Jugend 1967–1970 reicht, muß man sich zwei komplexere Zeittendenzen vor Augen halten: eine, die in die Vergangenheit wies, war die nicht ausgeschöpfte Hinterlassenschaft des antifaschistischen Krieges und die Gründung einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, mithin eine enorme Anhäufung von Symbolen, die mit der Idee des Kommunismus und der Revolution zusammenhängen (sie sind heute unverständlich, werden aber bald wieder sichtbar sein). Die andere war die Übertragung dieser Vergangenheit auf eine Zukunft der internationalen und interkontinentalen Solidarität von Vietnam bis Lateinamerika.
Warum also „durch Pasolini hindurch“? Der Titel soll nicht nur auf eine schwierige Wegstrecke innerhalb oder entlang des Werks und des biographischen Trugbildes anspielen, aus der man wieder herauskommt wie nach einer ethischen oder ästhetischen oder esoterischen Expedition. Was mich betrifft, so sind es andere Freunde oder Autoren, die ich „durchquert“ zu haben hoffe, nicht er. Ich möchte diesem Verb jedoch noch eine andere und nicht zweitrangige Bedeutung geben: die eines wechselseitigen Hemmnisses, Widerspruchs, Hindernisses. Das Traversieren ist dennoch nicht im Sinne der Aversion, sondern als transversale Bewegung gemeint. (…)
Franco Fortini, 1993, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
– Die Weissagungen des P. P. P. –
Hört, hört! Jetzt hört mal alle, alle zu! Denn ein alter Prophet weilt wieder unter uns. Hat in duncklem Dialekt angestimmt einen Gesang im Jahr MCMLXXIV, genannt ihn „La recessione.“ Die Rezession? Aha. Der steigt hier also gleich mit einem Schlagwort ein. Sehr vertraut in unsern Tagen. Das heischt zwar den Akut, jedoch die Gegenwart so zu bemühen? Tut meist nicht gut. Und nun? Stellt in der Regel jemand Fragen: Hat er wenigstens ein paar klare Handlungsanweisungen in petto? Ansonsten ist – wie bei allen derart weltverbessernden Sagen – brutto wie netto. Und wir dürfen uns weiter plagen. Gabs in den letzten 35 Jahren denn nennenswerte Reaktion? Keine? Barrabas! Ein falscher! Dann aber leis dagegen doch: Und wenn hier einer sollte, der auf der Rechnung nicht stand, haben ein pochendes, zorniges, eigenes Recht? Tut sich da ein Verstehen auf, das vorher so nicht möglich war? Na, hören wir ihn an, mit liebender Kritik. So wie man denn möglichen Propheten stets möge begegnen. Sela.
Erlauben Sie als erste Frage: Wie bitte ist genau die Quellenlage? Was weiß man im Detail von den hier zu prüfenden Apokryphen?
1942 beginnt Pier Paolo Pasolini Gedichte im friulanischen Dialekt seiner Mutter zu schreiben. Eine Sprache, ganz vokal, akustisches Ereignis, aber nie von ihm selber gesprochen. Eine Sprache, die ihm nur Schriftkörper ist, philologisch rekonstruierter Mutterleib, der Traum von einer unschuldigen Sprache. Der Traum von einer Sprache nämlich, die vor allem eines ist: nicht die Sprache des Vaters, nicht das bürgerliche Hochitalienisch des Faschismus.
1974 greift Pasolini diese frühen Gedichte wieder auf. Wiederholt sie Stück für Stück, teils mehrfach, und erhebt sie dabei zur Sprache seines politischen Kampfes gegen den Übergang einer archaischen, agrarischen Ordnung in ein neues, globalisiertes System der Massenkultur. So entstehen zweierlei Bücher: La meglio gioventù und La nuova gioventù, die „Besser“ und die „Newe Jugent.“
Und es entsteht zugleich ein drittes Buch, das den Grund für die Wiederholung verhandelt: Tetro Entusiasmo. Der „dunckle Enthusiasmo“, ein italo-friulanisches Pasticcio, als Kommentar. Hastige Gedichte, teils auch nur Skizzen, stets äußerlich bezogen aufs Tagesgeschehen, im Sprachkörper aber spannt sich geschichtlicher Raum aus: Der Dialekt steht hart gefügt gegen politischen Jargon, funktional, technisiert und rein kommunikativ. Eine Struktur gewordene Klage wider den „Untergang konkurrierender Wendungen“, Plädoyer für die „Bewahrung verschiedener diachroner Schichten durch die Geschichte hindurch“.
Jetzt haben wir also vernommen, wie auf uns gekommen der Text. Nun wollen wir aber auch die Botschaft hören. Wie haben Sie bitte diese lokalen Sondersprachen für uns zu übersetzen beliebt?
Ins Deutsche der „Lettere luterane“, das heißt ins Lutherdeutsche:
Werden hosen voller flicke sehen
rodtes vntergehen über dorffern,
von motoren frey, vnd lotterbuben
heimb von Deudschlandt vnd Turin.
Die alten wachen über jre mawern,
als werens sessel von den senatoren;
die kindtlein wissen, suppe gibts nit vil
vnd was kost eyn kleyn stuck brodt.
Der abend als der welten ende schwartz,
nachts, da hoeret man alleyn die heymchen
oder tonner; vnd kan seyn eyn iunge:
– eyner von den seltnen, heym im nest –
wie er zupft an einer mandulin. Die lufft
als von lumpen feuchte. Alles rucket
als jn ferne weit. Omnibusse Zuege
als jn schlaff vorüber dan vnd wan.
Die stedte gar, als welten gros
voller volckes, alles geht zu fus,
jn grawen vesten, vnd jn jrn awgen
ist eyn fragen, eyn fragen, wo mag
geb es Gott! was lohn, was huelff,
awch was liebe seyn. Antique tempel
werden seyn als berg von steyn,
eynsam und verschleusst als eynst.
Soso, auf alt gemacht? Nun gut, man hört sich rein, nur eine winzig kleine Irritation, dann hat man ’s schon. Aber dies Artistische mal abgezogen: Was will uns das? Die italienischen Eisdielenbesitzer von Castrop-Rauxel und Oberammergau, alle in Ehren ergraut, kehren womöglich wieder zurück, weil sie nichts mehr verkaufen? Sofern sie am Ende der Krise noch das Geld für die Fahrtkosten haben? Nehmen ihre Söhnchen mit, die an gut besuchten Sonntagen im Lokal Mandoline spielten? Und auch wir andern alle wandern umher, selber zu Lotterbuben geworden, von Kontinent zu Kontinent? Das wäre der finale status qua am Ende der Rezession, der edlen Armut Utopie? Verzeihen Sie, aber ist das – aufs Heute angewandt – nicht reichlich zynisch? Zupfende Jünglinge… Ach, wie hübsch ist doch das Trommelschlagen der hungernden Buben im somalischen Busch! Wie billig die noch zu haben sind, und wie nett sie dabei grinsen! Heididei, wenn mal drei Monate lang kein Regen kommt und so langsam die exquisiteren Krisenkulte einsetzen, das gibt eine gar zu Herzen gehende Trommelei! Da müssen Sie unbedingt vor Ort sein, wie gemacht fürs feinere Ohr! Wenn das alles war, können wir dies Konzil hiermit beenden…
Aber nein, Pasolini unterbricht das Idyll ja selbst! Und zwar so:
Der hüffe des pferdes rüret
an den grund, so als ein falter leycht,
still macht er vns denken, wie es steht
vmb die welt, vnd wie es stehen mag.
Aber Schluß mit diesem Film des Neorealismo.
Wir haben dem abgeschworen, was er repräsentiert.
Diese Erfahrung muß nur einmal machen,
wer kämpft um eine Welt, wahrhaftig kommunistisch.
Zugegeben, bei diesen Hufen hüpft einem das Herz. Aber dann, ach Gott, ach Gott. Jetzt kommt der auch noch mit dem Kommunismus…
Wahrhaftig, mein Lieber, wahrhaftig. Sagen wir: Urchristentum!
Rührend! Aber wissen Sie was? Das Ende der Krise naht! V heißt das Gebot der Stunde! V, das ist die Krisenform! Dem steilen Fall der Konjunktur folgt bald ihr steiler Aufstieg!
Und wenn das V ein W ist, am Ende aber stünde M: wenn VWM die Formel?
Geht das auch deutlicher?
Sie fordern die Befehlsform?
Ja, gern auch Befehlsform.
Also bitte:
Hoere. Allda ist Christ nit am end.
Not tut die kirchen: nur sey sie
von heutt. Not tun die duerftgen.
Du wehre, wahre, bete:
nur lieb die duerftgen: lieb jhr widerspiel.
Lieb jrn wunsch alleyn zu seyn
jn jrer welt, bey huetten vnd pallasten,
wo nit hinlanget die losung
aus vnser welt; die grentze lieb,
die gehet zwischen jn vnd vns;
lieb jrer zungen schlag mittags erdacht,
nur nit erfaßt zu seyn; zu teilen nit
mit iemand jre frewden.
Lieb jn der stadt die sonn, der diebe
Leyd; liebs fleisch der mutter des Sohnes.
Sey hier jn vnser welt
kein buergerbube, sey eyn Heyliger
nur sonder eynfalt: oder krieger sey
nur sonder gwalt.
Trage mit Heyles oder kriegers hand
Koenigs vertrawen, goettlichs recht,
es wonet jn vns, vnserm trawm.
Das ist ein Befehl, den keiner versteht…
Ich muß wohl deutlicher werden?
Aber gern!
Sie haben es so gewollt: Zurück, Leute, zurück! – Wer will alles von wo nach wo? – Eine Lampedusanerin sieht in der Ferne ein Flüchtlingsboot treiben – Ach, rettet doch nicht weiter nur, was zu retten ist! – Stellt ein die Subventionen! – Hurra, die schwedischen Piraten nahen! – Eröffnet Fürsorgekonten einander – Die Investoren überwacht! – Entpackt alle Rettungspakete! – Gründet Stiftungen! – Am Flughafen von Dubai stehen die leeren Autos flüchtiger Manager – Die Kompromisse kappt! – Downshifting! – Denkt nicht der systemischen Logik des Fortschritts entlang! – Heilige werdet, Krieger oder Dichter! – Slow Food! – Die werden Euch braten – Wirtliche Heimaten gebt den Versprengten! – Denn es wird uns ja kein Aufschwung mehr! Ihr sagt Konjunkturtief? Ich Depression! Habet Mut zur Armut, Mut! – Ich Euphemismus, wenn Ihr Rezession sagt – Stop poverty porn! – Schafft der Armut eine Kultur, eine Würde! – Schickt Euch drein, in neue Dürftigkeit! Und laßt die Reichen, die uns retten, leben –
Wenn ein Prophet redet und es trifft nicht ein, so hat es der Herr nicht geredet (5. Mose 18,22)
Das Erscheinen der neuen Enzyklika des Papstes, Caritas in veritate, hat sich wegen Problemen bei der Übersetzung verzögert. Man wußte nicht, wie Kreditklemme und Investmentbank ins Kirchenlatein übertragen. Und konnte auch nicht die Dichter fragen. Denn „heute ist die Poesie wahrhaftig wieder beim Jahre Null angelangt. Auf der einen Seite haben sich alle Reihen der möglichen mechanischen und programmierten Verletzungen erschöpft (…), auf der anderen Seite herrscht (…) unumschränkt die KLAGE UM DEN KODE. Die Poesie kann sich – in diesem Jahre Null – nur dann wieder zeigen, wenn sie sich in eine Art pansemiologischen Rahmen stellt, dessen figürlich-lebendige (körperliche, existentielle) Ausfüllung schon begonnen hat. Wenigstens glaube ich das. (…) Was erst einmal zählt, ist die Transkription des exemplarischen eigenen Lebens. Ein Leben als gelebter Protest, als langsamer Selbstmord, als Streik oder Martyrium.“
Also, liebe Dichter, möglichst viele Identitätsmuster vorführen! Gleitende, springende, hysterische Identitäten!
Wir werden nicht ruhen, bis daß der Heilige Vater ihn heilig gesprochen.
Christian Filips, Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Der letzte Gedichtband, den ich drucken ließ, ist Poesia in forma di rosa. Das war 1964, seither sind sechs Jahre vergangen. In dieser Zeit habe ich viele Filme gedreht (von Das 1. Evangelium – Matthäus, an dem ich gerade arbeitete, als Poesia in forma di rosa erschien, über Große Vögel, kleine Vögel, Edipo Re und Teorema bis hin zu Der Schweinestall und Medea). Alle diese Filme habe ich als Dichter gemacht. Hier ist nicht der Ort für eine Untersuchung der möglichen Gleichwertigkeit zwischen dem „poetischen Gefühl“, das gewisse Sequenzen meiner Filme, und jenem, das gewisse Passagen meiner Gedichtbände auslösen. Der Versuch, eine solche Gleichwertigkeit zu definieren, ist noch nie gemacht worden, abgesehen von einem allgemeinen inhaltlichen Vergleich. Dennoch ist unbestreitbar, denke ich, daß eine bestimmte Weise, etwas zu empfinden sich bei manchen meiner Verse und manchen meiner Filmbilder identisch wiederholt.
Von 1964 an habe ich jedoch nicht nur durch meine Filme gedichtet: Als „Versdichter“ schweige ich erst seit ein oder zwei Jahren (obwohl ich Sachen geschrieben habe, die unveröffentlicht oder unvollendet geblieben sind). 1965 war ich einen Monat lang krank und konnte die Arbeit erst während der Genesungszeit wieder aufnehmen. Damals habe ich angefangen – vielleicht weil ich im Krankenbett mit unbeschreiblicher Freude Platon wiedergelesen hatte –, Theaterstücke zu schreiben: sechs Tragödien in Versen, die demnächst unter dem Titel Calderón erscheinen werden. An diesen Stücken habe ich die vergangenen fünf Jahre hindurch gearbeitet, obwohl ich sie manchmal liegenließ und mir erst nach einem Jahr wieder vornahm.
Während dieser Zeit konnte ich offenbar nur Verse schreiben, indem ich sie Figuren in den Mund legte, die mir als Vermittler dienten.
Im Herbst 1968 habe ich jedoch, angefangen mit Gelegenheitsgedichten oder sogar Auftragsgedichten – nach einem ersten, wenig ausgefeilten Erzeugnis, Il PCI ai giovani!, Anfang März verfaßt und wenig später ohne mein Wissen in einer Illustrierten veröffentlicht – wieder begonnen, als Verseschmied im geläufigen Sinne des Wortes zu arbeiten, und jetzt ist eine neue Sammlung fertig, Trasumanar e organizzar, die bald im selben Verlag erscheinen wird, der mich gebeten hat, diese Einführung in meine „alten“ Gedichte zu schreiben.
Sechs Jahre sind nicht viel, doch wenn man bedenkt, daß der erste der hier vereinten Gedichtbände im Juni ’57 erschien (das titelgebende Gedicht „Gramsci’s Asche“ entstand schon im Mai 1954), dann wird das Intervall von sechs Jahren zum Intervall einer ganzen literarischen und politischen Epoche (wenngleich es teilweise, vor allem während der letzten Gedichte, als Übergangszeit gelebt wurde).
Ich vermute daher, daß ich mich an einen „neuen Leser“ wende. Und ich möchte und kann nichts anderes tun, als ihm Informationen zu geben.
Ich habe nicht erst mit Gramsci’s Asche begonnen, Gedichte zu schreiben, ich habe viel früher damit angefangen, und zwar 1929 in Sacile, als ich gerade sieben Jahre alt geworden war und in die zweite Grundschulklasse ging.
Es war meine Mutter, die mir gezeigt hat, daß Gedichte nicht nur in der Schule gelesen („Vitrea è l’aria…“), sondern tatsächlich geschrieben werden können. Auf geheimnisvolle Weise präsentierte meine Mutter mir nämlich eines schönen Tages ein von ihr verfaßtes Sonett, in dem sie ihrer Liebe zu mir Ausdruck gab (ich weiß nicht mehr, aufgrund welcher Reimzwänge das Gedicht mit den Worten endete: „ich lieb dich ganz entsetzlich“). Ein paar Tage später schrieb ich meine ersten Verse, wo von einer „Nachtigall“ und vom „grünen Geäst“ die Rede war. Ich glaube, ich hätte damals eine Nachtigall nicht von einem Finken unterscheiden können, ebenso wenig wie eine Pappel von einer Ulme, und im Schulunterricht (unter der Leitung der Toskanerin Signora Ada Costella, meiner Lehrerin in jener unvergeßlichen zweiten Grundschulklasse) wurde Petrarca natürlich nicht gelesen. Ich weiß darum nicht, wo ich das klassizistische Regelwerk des Auslesens und Wählens der Worte gelernt haben könnte. Fest steht, daß ich, ohne mich an der abundantia cordis meiner Mama zu orientieren, streng „gewählt“ und „erlesen“ zu dichten begann.
Seit der Zeit habe ich ganze Sammlungen von Gedichtbänden geschrieben: Mit dreizehn Jahren war ich ein epischer Dichter (von der Ilias bis zu den Lusiaden), vernachlässigte aber auch das Drama in Versen nicht, und als Heranwachsender habe ich die unvermeidliche Begegnung mit Carducci, Pascoli und D’Annunzio nicht gescheut. Diese Phase begann in Scandiano – das Gymnasium, das ich als „Fahrschüler“ besuchte, lag in Reggio Emilia – und endete 1937 in Bologna, im Liceo Galvani, wo ein Aushilfslehrer, Antonio Rinaldi, unserer Klasse ein Gedicht von Rimbaud vorlas. Von 1937 bis ’42/43 erlebte ich die große Zeit des Hermetismus, während ich bei Longhi an der Universität studierte und unschuldige literarische Beziehungen zu Altersgenossen unterhielt, die sich für diese Dinge interessierten, darunter Francesco Leonetti und Roberto Roversi. Außerdem gehörte Francesco Arcangeli zu uns, obwohl er einige Jahre älter war, und später Alfonso Gatto. Ich war ein junger Mann, der zu früh an der Universität studierte, doch ich lebte diese Erfahrung nicht nur als Lehrling, sondern auch als Eingeweihter. 1942 erschien nämlich bei der Antiquariatsbuchhandlung von Signor Landi, auf eigene Kosten gedruckt, mein erstes Gedichtbändchen, Poesie a Casarsa. Ich war zwanzig Jahre alt, doch mit dem Schreiben der hier gesammelten Gedichte hatte ich etwa drei Jahre früher begonnen, in Casarsa, dem Geburtsort meiner Mutter, wohin wir alljährlich in die bescheidene Sommerfrische bei Verwandten fuhren, so weit es der karge Lohn meines Vaters, eines Offiziers, uns gestattete, usw.
Es waren Gedichte im friaulischen Dialekt: „L’hésitation prolongée entre le sens et le son“ (Valéry) hatte zu einer deutlich erkennbaren Entscheidung für den Klang geführt, und die vom Klang bewirkte Ausdehnung der Semantik war so weit gegangen, daß sie die Semanteme in eine andere sprachliche Domäne überführte, von wo sie triumphierend unentschlüsselbar zurückkehrten.
Etwa vierzehn Tage nach Erscheinen erhielt ich eine Postkarte von Gianfranco Contini, der mir schrieb, das Buch habe ihm so gut gefallen, daß er es sofort rezensieren werde.
Wer könnte meine Freude beschreiben? Ich hüpfte und tanzte unter den Bogengängen Bolognas, und was die gesellschaftliche Anerkennung betrifft, nach der man als Verfasser von Gedichten streben darf, so genügte mir die an jenem Tag in Bologna vollauf – inzwischen komme ich für immer ohne sie aus. Continis Rezension erschien dann nicht im Primato, wie er es geplant hatte, sondern im Corriere di Lugano, also im Ausland, in der Schweiz, dem klassischen Land der Ausgewanderten. Warum? Weil der Faschismus – zu meiner großen Überraschung – nicht zuließ, daß es in Italien lokale Partikularismen und Idiome unkriegerischer Dickköpfe gab. Und so… war meine „reine dichterische Sprache“ mit einem realistischen Dokument verwechselt worden, das die tatsächliche Existenz armer, verschrobener oder zumindest in der Unwissenheit um den idealistischen Anspruch des Zentrums lebender Bauern bewies… Zwar war ich schon seit jenem Tag im Jahr ’37, an dem ich das Gedicht von Rimbaud gelesen hatte, kein „natürlicher“ Faschist mehr, doch von jetzt an war der Antifaschismus mehr als ein rein kulturelles Movens, denn ich hatte das Böse am eigenen Leib erfahren.
Noch im selben Winter zogen wir uns nach Casarsa zurück, und das Jahr ’43 bleibt eines der schönsten in meinem Leben:
mi joventud, veinte anos en tierra de Castilla! (Machado).
Ich fuhr fort, friaulische Gedichte zu schreiben, begann aber auch, ähnliche Gedichte auf Italienisch zu schreiben. Jetzt war das Friaulische der Gedichte exakt das, was in Casarsa gesprochen wurde (statt eines mit dem friaulisch-italienischen Wörterbuch erfundenen Friaulischen), während das Italienische, weil es ein Abdruck des Dialekts wurde, eine naive, romanische Färbung annahm. Das literarische Italienisch – das neue Latein, das in jenen Jahren durch die Hermetiker vor allem Leopardi bedeutete – verpflichtete mich dennoch weiterhin auf seine gewählte und erlesene Tradition, der man nicht entgeht. Also schrieb ich Gedichte (Scartafaccio) und führte ein Tagebuch (Diario nach dem Vorbild des Zibaldone). Diese Arbeiten folgten einer „Hauptströmung“, die es seit jeher aufgrund einer privilegierten Ausgangslage gegeben hatte (sie sollte sich niemals erschöpfen), und die älter war als die bereits erwähnten, 1942 veröffentlichten friaulischen Gedichte. Also waren letztere, verglichen mit der ambitioniert literarischen Produktion, fast wie nugae und eben darum gewöhnlich. In diesem besonderen Fall wußte ich allerdings, ich weiß nicht wie, doch irgendwie wußte ich es, obwohl ich es mir vielleicht nicht eingestand, daß es gerade diese nugae waren, die zählten.
Die friaulischen Gedichte habe ich 1954 für eine Ausgabe bei Sansoni gesammelt, während die italienischen nugae, die ich damals zu schreiben begann, den Band Die Nachtigall der katholischen Kirche bildeten. Inzwischen war ich für wenige Tage einberufen worden, vom 1. bis zum 8. September 1943. Ich kehrte zerlumpt, mit zwei verschiedenen Schuhen, von Pisa nach Casarsa zurück, nachdem ich dem Befehl meiner Offiziere, den Deutschen (an einem Kanal bei Livorno) unsere Waffen zu übergeben, nicht gehorcht hatte, nachdem ich gut hundert Kilometer zu Fuß gelaufen war und tausendmal riskiert hatte, in einem Zug nach Deutschland zu enden. Sofort begann ich wieder, Gedichte auf Friaulisch und Italienisch zu schreiben, die ländlichen Fasti von La Meglio Gioventù und der Nachtigall. Das hinderte mich nicht daran, VIVA LA LIBERTÀ auf die Mauern zu pinseln und zum ersten Mal in meinem Leben in Sicherheitsverwahrung zu landen, wo ich eine frühe Erfahrung mit Ordnungshütern machte. Von dem Moment an führte ich ein gehetztes Leben im Verborgenen und in Furcht und Schrecken, denn ich hatte damals eine ausgesprochen krankhafte Angst vor dem Tod. Ich war besessen von der Vorstellung, an den Haken gehängt zu werden, denn so endeten an der Adriaküste junge Männer, die den Kriegsdienst verweigerten oder erklärte Antifaschisten waren. Mein Bruder – drei Jahre jünger als ich und mittlerweile einberufen – ging ins Gebirge, um sich dem bewaffneten Partisanenkampf anzuschließen. Ich begleitete ihn zum Bahnhof (er hatte seine Pistole in einem Buch versteckt). Er zog als Kommunist los, später wechselte er auf meinen Rat hin (drei Jahre länger unter dem Faschismus gelebt zu haben, hatte wohl doch etwas bewirkt) zum „Partita d’Azione“ und in die Division „Osoppo“: Kommunisten mit Verbindungen zu Titos Abteilungen, die damals einen Teil des Friaul annektieren wollten, sie haben ihn umgebracht. Der Krieg endete, und für mich begann die traurigste Zeit meines Lebens (ich schrieb weiter an La meglio gioventù und Die Nachtigall): der Tod meines Bruders und der übermenschliche Schmerz meiner Mutter, die Rückkehr meines Vaters aus der Gefangenschaft, der als ein Kranker heimkehrte, vergiftet von der Niederlage des Faschismus im Vaterland und der italienischen Sprache in der Familie; zerrüttet, grausam, tyrannisch, er hatte keine Macht mehr, war vom schlechten Wein verrückt geworden, zunehmend mehr in meine Mutter verliebt, die seine Liebe nie mit gleicher Heftigkeit erwidert hatte und jetzt obendrein nur mit ihrem Schmerz beschäftigt war, und zu alledem nehme man das Problem meines Lebens und meines Fleisches hinzu. Im Winter ’49, mein lieber Leser, mir als neuer Leser und als Benutzer einfacher Anthologien in billigen Ausgaben besonders lieber Leser, flüchtete ich mit meiner Mutter nach Rom, wie in einem Roman.
Die friaulische Phase war beendet, die Gedichtbände sollten für lange Zeit in der Schublade bleiben, um dann in den bereits erwähnten Jahren zu erscheinen. In Rom schrieb ich jedoch sofort jene Tagebücher weiter, in deutlich weniger exzentrischen Versen, nach dem literarischen und posthermetischen Muster, dem ich, wie gesagt, nie aufgehört hatte zu folgen, auch nicht im romanischen Friaul inmitten seiner Weinstöcke und Maulbeerbäume. Später stellte ich einige davon unter dem Titel Roma 1950 zusammen (diese Tagebücher führten dann bis zum Sonetto primaverile, Scheiwiller 1960). Doch obwohl ich einerseits meine anti-italienischen Studien, die in romanischer und fremdsprachiger Manier begonnen hatten, in barocker und Gadda-Manier fortsetzte, schrieb ich doch auch schon wenige Monate nach meiner Ankunft in Rom an diesem „narrativen Etwas“, das dann den Titel Ragazzi di vita (1955) bekommen sollte.
In Rom lebte ich zuerst an der Piazza Costaguti unweit vom Portico D’Ottavia (dem Ghetto!), dann zog ich um ins Ghetto der Vorstadt in der Nähe des Gefängnisses Rebibbia, in ein Haus, das endgültig ohne Dach geblieben war (13.000 Lire Monatsmiete). Zwei Jahre lang war ich ein verzweifelter Arbeitsloser, einer von denen, die als Selbstmörder enden, dann fand ich eine Stelle als Lehrer an einer Privatschule in Ciampino für 27.000 Lire im Monat. In dem Haus in Rebibbia im Gürtel der Vorstädte begann – durch eine langsame Verwandlung und Verschmelzung des anti-italienischen, häufig im Falsett sprechenden Kontingents (das die Dialektgedichte und Verwandtes hervorgebracht hatte) mit dem klassizistischen Kontingent der Tagebücher – mein eigentliches „dichterisches Werk“, das, was mir heute als meine „alte Dichtung“ erscheint, von Gramsci’s Asche bis zu Poesia in forma di rosa.
Ich habe es schon so oft, in so vielen Interviews gesagt, daß es fast schon zu einem Automatismus geworden ist, mit dem sich das von mir gewünschte Gesprächsthema auslösen läßt (um die Wirklichkeit nach meinen Wünschen zu formen): Was mich zum Kommunisten gemacht hat, war ein Kampf von friaulischen Tagelöhnern gegen die Großgrundbesitzer unmittelbar nach dem Krieg (I giorni del Lodo De Gasperi sollte der Titel meines ersten Romans lauten, der dann aber 1962 unter dem Titel Il sogno di una cosa herauskam, dt. Der Traum von einer Sache, 1968). Ich war auf der Seite der Tagelöhner. Danach las ich Marx und Gramsci.
Die erwähnte Verwandlung und Verschmelzung meiner beiden dichterischen Entwicklungsstränge, dem Anti-Italienisch im Falsett und dem erlesenen Italienisch, vollzog sich unter dem Vorzeichen meines niemals orthodoxen Marxismus. Langsam nur näherte ich mich dem „zivilen Gedicht“ über Gramscis Asche: Im Verhältnis zu diesem Gedicht ist der ganze erste Teil des Bandes, von L’Appennino bis L’umile Italia, nur Vorgeschichte: In den Vorstädten des römischen Subproletariats überdauert der Geist der Voralpen, der unberührten Landschaften, der Laubwälder, und er sammelt sich formal vor allem in den vom Reimzwang (der Terzinen) geforderten Räumen in Gestalt von retardierenden Elementen. Im übrigen bemerke ich jetzt, daß sich seit dem Kampf der Tagelöhner bis heute in mir und außerhalb von mir im Grunde recht wenig geändert hat. Just während ich diese Einleitung für einen fachunkundigen Leser schreibe, arbeite ich an einem Dokumentarfilm über den Streik der römischen Straßenfeger (Appunti per un romanzo sull’immondezza), und es kommt mir wahrhaftig nicht so vor, als wären seither dreißig Jahre vergangen. Es kann sein, daß das Gefühl des Klassenkampfes, das die Jugendlichen von 1968–1970 erleben, in jene großen Tage zurückgeführt hat, und es ist unwichtig, ob das eine Illusion ist. Ohnehin ist der Klassenkampf ein Phänomen, das sich nicht innerhalb von dreißig Jahren entscheidet und das immer dieselben Merkmale trägt.
In diesem Zusammenhang möchte ich den neuen Leser auf die Gedichte „Una polemica in versi“ und „Vittoria“, das letzte der Sammlung, hinweisen. Ich würde mich freuen, wenn er dort den politischen und idealistischen Geist vorweggenommen findet, der ihn heute beseelt.
Pier Paolo Pasolini, 1970, Schreibheft, Nr. 73, Spetember 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wird nun seine Privatbibliothek erforscht. Thomas Migge bespricht La Biblioteca di Pier Paolo Pasolini.
Hans Ulrich Reck: Mythische Verweigerung und totale Person. Zu Werk, Leben und Rezeption Pier Paolo Pasolinis, Merkur, Heft 424, Februar 1984
Eine Veranstaltung in der Münchner Paulskirche mit Lesungen aus dem Werk des italienischen Künstlers und Erinnerungen des Schriftstellers Alberto Moravia. Musikbeiträge des Ensembles TrioLog. Durch die Sendung führt Antonio Pellegrino.
FÜR PASOLINI
Im Traum kam Pasolini auf mich zu
aaaaain einer Hauptrolle.
Er sah gut aus, blau blinkend wie eine Maschine
aaaaaein Darsteller für alles –.
Pasolini stapfte durch Pfützen, er konnte
klein sein, untersetzt, dunkel und asozial
aaaaaimmer war er Pasolini und immer ein Anderer.
Dann stand er in den Eingängen der Rohbauten
aaaaawinkte von Gerüsten herab.
Mit dem Finger zeigte er auf alte Autos.
Im ganzen Land lebte eine Bevölkerung
aaaaaderen Liebhaber er war
und mit der Kamera fand er Länder
die er durch die dunkle Brille nicht mehr sah.
Meine Bilder jammern, sagte er
aaaaaich könnte Stummfilme machen; seit Jahren
aaaaahabe ich kein Wort mehr gehört.
Er fing an sich an mir zu reiben und das ging
aaaaaschon in Ordnung.
Dann stürzte er in eine Baugrube.
Ein Auto brannte aus.
Regen fiel ins Meer.
Die Kinowäsche war wieder ganz weiß.
Nicolas Born
Ronald Pohl: P.P.P.: Als Außenseiter im ewigen Clinch mit Nachkriegsitalien
Der Standart, 8.2.2022
Ronald Pohl: P.P.P.:Der Poet der italienischen Armen
Der Standart, 18.2.2022
Hans Ulrich Reck: Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
hr2, 3.32022
Barbara Schweizerhof: Vorliebe für Unpoliertes
taz, 4.3.2022
Daniel Kothenschulte: Verwehrte Nähe
Frankfurter Rundschau, 4.3.2022
Peter Zander: Pier Paolo Pasolini – Ein Prophet der Verzweiflung
Berliner Morgenpost, 5.3.2022
Dietmar Dath: Ein Engel ist kein Bürger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.2022
Thomas Schmidt: „Weißt du, wie mir Italien vorkommt? Wie eine Bruchbude“
Die Welt, 5.3.2022
Michael Krüger: „Als ich das erste Drehbuch angenommen habe, war ich wortwörtlich am Verhungern.“
Neue Zürcher Zeitung, 5.3.2022
Gregor Dotzauer: Freiheit und Rebellion sind meine süße Speise
Der Tagesspiegel, 4.3.2022
Sky Nonhoff: Der große Streitbare
SR 2, 4.3.2022
Gunnar Decker: Der ewige Ketzer
nd, 4.3.2022
Sabine Göttel und Olaf Neumann: Mit cineastischen Visionen im Visier der Gegner
Freie Presse, 4.3.2022
Romina Achatz: „Ich danke dir für Deinen rebellischen Geist und deine unbändige Zärtlichkeit“
Literatur outdoors, 5.3.2022
Manfred Hermes: Der Nonkonformist
junge Welt, 5.3.2022
Emanuela Sutter: Pasolini war ein katholischer Provokateur
Die Tagespost, 6.3.2022
Lutz Hanker: 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
RBB Kultur, 5.3.2022
Agnese Grieco: Eine verzweifelte Vitalität
Deutschlandfunk Kultur, 5.3.2022
Stefano Vastano: „Wie können wir das Leben am Leben erhalten?“
Die Zeit, 28.8.2022
100 Jahre Pier Paolo Pasolini (Matinée) am 16.10.2022 in der Alten Schmiede in Wien. Florian Baranyi, Karl-Heinz Dellwo im Gespräch mit Walter Famler
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