Pier Paolo Pasolini: Unter freiem Himmel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pier Paolo Pasolini: Unter freiem Himmel

Pasolini-Unter freiem Himmel

AN DIE GLOCKEN VON ORVIETO

Zeichen der alleinigen Herrschaft, des unwidersprochenen
aaaaaElends: warum aber läutet ihr Glocken,
am Sonntagmorgen, so schüchtern, so ohne Einklang?
aaaaaZum wartenden Zug im weißen, verregneten Bahnhof
dieser im alten Schweigen verschlossenen Stadt
aaaaatragt ihr, so frisch, ein Zucken des Lebens.
Die Häuser, die abseits stehen, die Straßen, Wiesen und Villen,
aaaaaBahnübergänge, Kanäle, Felder im Nebel;
sie sind doch der Stoff, nicht eures flüchtigen
aaaaaungebrochenen Tönens, sondern eurer geheimen, stillen, ewigen Sanftmut…
Soll das heißen, daß auf dem Grund eurer unbarmherzigen Macht
aaaaaeine Lebensangst liegt, auf dem Grund des Entsagens
ein geheimnisvoller und glücklicher Drang des Lebens?

 

 

 

Nachbemerkung

Die vorliegende Auswahl aus Pier Paolo Pasolinis Gedichten ist chronologisch angeordnet: sie beginnt mit den frühen Gedichten im friulischen Dialekt und endet mit den späten Gedichten aus dem Band Trasumanar e organizzar. Es wurden nur Gedichte aufgenommen, die zu Lebzeiten Pasolinis in Buchform veröffentlicht wurden – mit einer Ausnahme, den Poesiole notturne (Kleine nächtliche Gedichte) am Ende dieses Bandes; sie sind 1952–1953 entstanden und erschienen erstmals 1975, wenige Wochen nach Pasolinis Tod, in der Sammlung Le poesie, die vier Gedichtbände Pasolinis zusammenfaßte und im Anhang einige unveröffentlichte Gedichte aufnahm. Diese Ausgabe war noch von Pasolini selbst vorbereitet worden.
Einer Erläuterung am ehesten bedürftig sind Pasolinis frühe Gedichte in friulischem Dialekt. Pasolini, 1922 in Bologna geboren, lebte seit Anfang der vierziger Jahre im Friaul, die meiste Zeit davon in dem Städtchen Casarsa, das zwischen Pordenone und Udine liegt; längere Zeit war er Sekretär der KPI-Sektion in der Gemeinde San Giovanni von Casarsa (1949 wurde er, seiner Homosexualität wegen, aus der Partei ausgeschlossen). Pasolinis ,Dialekt‘-Gedichte sind also keine Gedichte in der Sprache seiner Heimat: das Friulische war eine erlernte Sprache – umso mehr, als es eine zwar romanische, dem Italienischen aber doch relativ fern stehende Sprache ist: das Friulische kommt aus dem Ladinischen.
1942 veröffentlichte Pasolini seinen ersten Gedichtband, Poesie a Casarsa: auch hier schon geht es dem Autor sehr deutlich um die Erhaltung, Bewahrung und Rettung einer kulturellen Tradition, die vom Untergang bedroht ist. Dennoch darf man nicht übersehen, daß gerade diese Gedichte keineswegs aus einer volkstümlichen literarischen Tradition kommen, sondern eher artifiziell sind. 1945 gründete Pasolini mit anderen eine Academiuta de lenga furlana (Akademie der friulischen Sprache), die dem Studium der friulischen Sprache und Kultur gewidmet war und eine Heftreihe veröffentlichte – akademische, gelehrte Versuche, eine kulturelle Tradition am Rande der italienischen Gesellschaft zu erhalten. Pasolinis früheste Gedichte stehen in der Tradition des Hermetismus: vermutlich über diesen Weg kam er zur Poesie in friulischer Sprache. Der Reiz dieser Sprache, die auch für einen Italiener kaum verständlich ist, lag gerade in ihrer Fremdheit; die genaue Bedeutung der Worte trat in den Hintergrund, der asketische und zugleich sinnliche Glanz dieser Poesie rührt daher, daß der – fremde – Klang im Vordergrund steht, daß die Gedichte ganz wesentlich auch Spiel mit der Sprache sind, assoziativ. (Informativ zu diesem Problem: Karin von Hofer, Funktionen des Dialekts in der italienischen Gegenwartsliteratur. Pier Paolo Pasolini, München 1971, wo auch ausführlich Pasolinis Versuche, im römischen Dialekt zu schreiben, behandelt werden.) Doch obgleich diese Gedichte in einer erlernten, nur noch von wenigen gesprochen und zuweilen fast in einer erfundenen Sprache geschrieben sind, sind sie nicht reine Artefakte: sie leben sozusagen immer von dem Zusammenstoß von gebildeter Anstrengung und volkstümlicher Tradition.
Auch theoretisch und editorisch beschäftigte sich Pasolini mit der Dialektdichtung: er schrieb zwei längere Abhandlungen, die jeweils Vorworte zu Anthologien waren: „La poesia dialettale del Novecento“ (1952) und „La poesia popolare italiana“ (1953), die später in die Sammlung Passione e ideologia (Mailand 1960) aufgenommen wurden.
1954 veröffentlichte Pasolini seinen ersten größeren Band mit Dialektgedichten, La meglio gioventù, der auch die Poesie a Casarsa enthielt. In seinem Todesjahr, 1975, erschien La nuoua gioventù dieser Band enthielt La meglio giouentù sowie im zweiten Teil eine Neufassung der meisten Gedichte aus diesem Band (die vorliegende Auswahl enthält nur Gedichte aus La meglio gioventù), In beiden Bänden sind den friulischen Gedichten jeweils Interlinearübersetzungen Pasolinis ins Italienische beigegeben.

Eine kurze Bemerkung noch zu den späteren Gedichten: während die Gedichte aus der Mitte der fünfziger Jahre – etwa in Le ceneri di Gramsci und L’usignolo della Chiesa Cattolica – noch von ähnlicher Formstrenge sind wie die Gedichte in friulischem Dialekt, ändern sich später Ton und Stil der Gedichte: sie sind bewußte Versuche einer narrativen Poesie, die sich der Sprache des Alltags und ihrem Parlando öffnet. Zuweilen klingen sie gehetzt und eilig, oft aber leben sie von einer eleganten Beredtsamkeit – etwa in den Poesie mondane (Mondäne Gedichte); Tagebuchgedichte, die etwas deutlich machen, was die ideologische Pasolini-Rezeption gerne übersieht: daß Pasolinis Leidenschaftlichkeit bei weitem nicht nur eine polemische, angreifende war, daß sie – ohne je die Aufmerksamkeit für die gefährdeten und bedrohten Ränder der Gesellschaft für das Marginale zu verlieren – durchaus auch Heiterkeit und Ironie umschloß, eine Gelöstheit, wie sie etwa auch die beiden Filme La ricotta und Comizi d’amore aus den früheren sechziger Jahren prägt.

T. S., Nachwort

 

Dieser Band sammelt

(in Auswahl aus den sechs Bänden) die wichtigsten Gedichte Pier Paolo Pasolinis aus dreißig Jahren – beginnend mit den frühen Gedichten in friulischem Dialekt und endend mit den späten römischen Gedichten aus den siebziger Jahren.
Diese Poesie spricht stets vom Rand der Gesellschaft her: das Marginale und das Bedrohte stehen in ihrem Zentrum, sie handeln von der Vergangenheit in der Gegenwart.
Pasolinis Gedichte sind leidenschaftliche, verzweifelte und auch heitere Versuche, in der Poesie das zu retten, was im Sog einer zerstörerischen Moderne verlorengeht.

Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1982

 

Die verweigerte Reife

Vor drei oder vier Jahren erschien in Frankreich die Übersetzung eines in Italien publizierten Buches, das dem Andenken Pasolinis gewidmet war. Man konnte dort kritische Studien und Dokumente aus dem Prozeß gegen den Mörder des Dichters lesen. Ich hatte für die Zeitschrift Officina mit Pasolini zusammengearbeitet, meine Beziehungen zu ihm waren erst im Mai 1968 abgebrochen, ein Datum, das mir jede weitere Erklärung erspart. Mein Beitrag zu diesem Buch war seinerzeit ein kurzer Aufsatz über das Thema der Verführung im Leben und Werk unseres großen verstorbenen Autors. Dieser Text wurde, ohne daß man mich benachrichtigt hätte, nicht in die französische Ausgabe aufgenommen und erschien erst etwas später in einer Ausgabe der Cahiers du cinéma.
Ich würde jetzt nicht an diese Episode erinnern, wenn sie mir nicht als ein Zeugnis für die fromme Verehrung erschiene, die lange Zeit (in Frankreich stärker als in Italien, würde ich sagen) einen politisch-erotischen oder marx-mumifizierenden Kult um Pasolini begleitet hat. Einer der Gründe für meine Anwesenheit hier ist natürlich die Hoffnung, daß an die Stelle solch kultischer Handlungen in Seminaren wie diesem, an dem ich teilnehme, eine kritische Lektüre treten möge.
Pasolinis Leben und Tod eine exemplarische Bedeutung zu verleihen, indem man sie der Figur zuschreibt, die er in seinem Werk ununterbrochen dargestellt hat, impliziert eine stillschweigende methodische Entscheidung. Meine war sie nie, das belegen unsere Leben und unser Briefwechsel. Zu ihren Überzeugungen gehören das Primat sofortiger Befreiung des Individuums; die Verweigerung jedweder Vermittlung; das Recht auf die Ausnahmestellung und die Privilegien des Genies, die sich womöglich als Bescheidenheit tarnen; und schließlich die Idee von einem persönlichen Schicksal, das sich von dem anderer Menschen vollkommen abtrennen läßt. All das überwölbt von einer Art Kommunismus der Liebe, etwas wie ein Fackelzug, und von einem evangelikalen Sozialismus.
Die erwähnte Episode ist jedenfalls der Beweis für eine konkrete Schwierigkeit, bei der es um die Beziehungen zwischen Werk und Biographie geht. Manche Literaturtheorien exorzieren sie mit dem Begriff biographical fallacy, doch ohne sich von ihr befreien zu können. Selbstverständlich kann niemand das imaginäre Leben, das die Dichter (und viele andere auch) sich selbst erzählen, am, nennen wir es, historischen Leben überprüfen. Dessen Antriebe und Ursachen unterscheiden sich jedoch nicht von denen des ersteren, da die Rahmenbedingungen stets dieselben sind, sowohl bei den zwischenmenschlichen Beziehungen und denen eines jeden Menschen zu sich selbst – welche wir Leben zu nennen pflegen – als auch bei den Beziehungen der Menschen zu ihren Erzeugnissen, welche wir Arbeit oder Werk zu nennen pflegen.
Ich lese ein kurzes Gedicht, das erste einer Folge von fünfzehn Gedichten, die Pasolini 1960 veröffentlichte. Der Titel der kleinen Sammlung lautet Roma 1950, der Untertitel Un diario.

Erwachsen? Niemals – niemals, wie das Leben
das nicht reift – es bleibt immer unausgegoren
von einem herrlichen Tag zum nächsten herrlichen Tag –
ich kann nicht anders als ihr treu bleiben,
der wunderbaren Monotonie des Geheimnisses.
Das ist der Grund, warum ich mich im Glück
nicht verloren habe – das ist der Grund,
warum ich in der Sorge um meine Schuld
niemals zu wirklicher Reue gelangt bin.
Gleichrangig, immer gleichrangig mit dem Ungesagten
am Ursprung dessen, was ich bin.

Es ist wirklich ein Tagebuch des Nachdenkens, gespalten zwischen Schuldgefühl und Abwehr der Schuld, zwischen dem ethischen und dem ästhetischen Moment. Ethisch, nicht religiös, denn Religiosität in der tragischen Bedeutung des Wortes ist dem Werk Pasolinis fremd, denke ich. Die „griffe effroyable“ hat wohl eher sein Leben als sein Werk belastet. Letzteres aber ist ein ununterbrochener Weg, ein „Weitermachen“. Mir scheint, Pasolini hat in seinen Gedichten einen Lyrismus in Gesprächsform dramatisiert, während ihm dies weder im Roman noch in der Tragödie gelungen ist.
Wie sehr viele von Pasolinis Gedichten ist auch dieses eine Antwort auf eine Frage und eine Erwiderung auf jemanden, der ihn anklagt. Das lyrische Ich sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, es an Glaubwürdigkeit wie auch am Gehorsam gegenüber den Normen seines Alters mangeln zu lassen. Seine Antwort preist dagegen eine Zeit und einen Ort der Vorrationalität, wo es keinerlei Probleme mit Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit gibt. In den elf Versen, in denen die Verneinung gut sechsmal wiederholt wird (dreimal das „niemals“, dreimal das „nicht“, und man kann die negative Form des „Ungesagten“, verstärkt durch das „Geheimnis“, hinzunehmen), steht diesem „niemals“ als inverses und symmetrisches Gegenstück das zweimal wiederholte „immer“ gegenüber. Zudem kehrt die einfache Wiederholung (zum Beispiel „von einem herrlichen Tag zum nächsten herrlichen Tag“) fünfmal wieder, ganz zu schweigen davon, daß die Rede in der ersten Person dreimal einen Vers eröffnet. Ein feierlicher Gestus, ein Spiel mit Tönen von meditativer Reinheit, durchsetzt mit Pathos. Es ist, als würde nach den eindrucksvollen Effekten der Kontamination und „Imitation“ in Die Nachtigall der katholischen Kirche eine Rückbesinnung auf die Vorbilder intimistischer Spiritualität folgen, an denen das neunzehnte Jahrhundert, das Pasolini wenige Jahre später so scharf verurteilen sollte, reich war. Er preist nicht die Kindheit, wie die Dekadenten. Er preist auch nicht das Knäblein, das nach Pascoli in uns allen wohnt und mit der Stimme des Dichters spricht. Er preist die Adoleszenz. Er ist Narziss, der im anderen nur sich selbst begehrt. Der Autor möchte das sein, was in seiner Wunschvorstellung die Heranwachsenden sind, auf die sein Begehren sich richtet. Im Adjektiv acerbo (unreif, früh, vorzeitig) klingt durch sein unentschiedenes Zögern zwischen immaturo (unreif) und agro (sauer) ein Echo von Schmerz und Trauer an (es ist der funus acerbum der Klassiker), und in unserer literarischen Tradition von Tasso bis Saba bezeichnet es die im Hermaphroditismus zum Stillstand gekommene Adoleszenz. Wie Stefan Georges Maximin ist dieser Heranwachsende sich selbst treu und ewig. Er ist ein Gefährte des Todes, den der Tod nicht anrührt. Er bleibt frei von Verderbnis und vor allem von Reue, dem Brandmal der Sklaven. „Ursprung“, Wiederholung, der Wille, zu besitzen und nicht besessen zu werden, Verweigerung von Reue und Gewissensbissen: eine Nietzsche-Sprache, die sich in Italien zu Beginn des Jahrhunderts weit verbreitet hatte und dann zum Glück wieder verschwand. Über seine verhaßten Väter hinaus verbündet sich Pasolini mit den Vätern seiner Väter. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß just in diesem Jahr 1950 Matthiessen und Pavese, ersterer in Boston, letzterer in Turin, den Freitod wählten. Matthiessen hatte als Motto für sein Hauptwerk, American Renaissance, Shakespeares Satz aus dem King Lear gewählt:

Ripeness is all.

Pavese hatte diesen Satz (auf den seinerzeit auch Melville aufmerksam machte) für seinen letzten, posthum unter dem Titel „Die Kunst zu reifen“ veröffentlichten Essay aufgegriffen, nicht ohne im Titel auch auf die ars moriendi der Antiken anzuspielen.
Und gerade Pavese förderte die italienische Ausgabe des großen Werks des Amerikaners, der die Geschichte des literarischen „Engagements“ amerikanischer Autoren des 19. Jahrhunderts schrieb. Man könnte vermuten, daß Pasolinis Entgegnung und Weigerung Pavese treffen sollten, das Inbild alles dessen, was er bekämpfte, weil es seinem eigenen Vergnügen zuwiderlief, ein Bild, das später die Züge Gramscis annehmen sollte.
Wir haben hier also ein symbolisches Verhalten vor uns, das sich auf halbem Wege zwischen der rhetorischen „Figur“ und den Taktiken des Vorbewußten bewegt. Ich möchte es Gründung von Alibis nennen. Was er ist, wird niemals verstanden werden können. Nicht weil er mit einem proteischen Wesen begabt wäre oder wegen einer „libertinären“ Veranlagung à la Gide (den Pasolini allerdings gerade in jener Zeit liest und zustimmend zitiert). Sondern weil er – obwohl er in einer klar umrissenen, öffentlichen Sprache mit vielen historischen und literarischen Konnotationen zu uns spricht – während seines gesamten Schaffens immer wieder erklärt, daß er den Ort des Ungesagten und des Unsagbaren im Akt des Sprechens selbst nicht verlassen will. Diese „Reinheit“, dieses „innere Paradies“ (wie er es schon bald nennen wird) entpuppen sich letztendlich als die Kehrseite des Schuldgefühls. Daher das Bedürfnis nach einem Alibi, das immer wieder behauptet „ich war nicht da“, „ich war woanders“. Der Autor hat beschlossen, daß das Unbewußte nicht existiert.
Wenn wir es mit einem menschlichen Wesen zu tun haben, glauben fast alle zu wissen, wofür eine Entscheidung wie die, die ich in jenem Pasolini zu lesen meine, ein Symptom sein könnte. Haben wir es hingegen mit einem Text zu tun, wo der Schatten abgewehrt wird, den jede Sprache unvermeidlich auf das Geschriebene werfen muß, und wo die Anmaßung herrscht, im überreich mit Bedeutung befrachteten Wort alles sagen zu können, erhalten wir die Gewißheit, daß die Sprache hier als Maske oder Visier benutzt wird, hinter dem es kein Gesicht mehr gibt oder nie eines gab. Wir können es den barocken Tod nennen oder auch den einer Tradition, die von den Romantikern bis zu den Symbolisten reicht. Ironie und Manierismus, getragen von einem Omnipotenzwahn, wie bei D’Annunzio. Schon vor zwanzig Jahren hatte Asor Rosa es gesagt: Hier stoßen wir auf den wahrsten Pasolini, den, der gewagt hatte, auszurufen, daß ihm nichts wertvoller sei als die „ästhetische Leidenschaft“, die Besessenheit von der Sprache und die obsessive Liebe zu den tausend Verführungen des geschriebenen Wortes. Der Pasolini, der überdauert und bleibt, ist meiner Meinung nach der manieristischste, der weniger „pasolinianische“, derjenige, der mit seinen hinreißenden Falsetten zu uns spricht.
Denn wir glauben – wenigstens ich glaube es –, daß das Unbewußte der Dichtung äußerlich bleibt, und wir würden seine delphische Stimme nicht verstehen, wenn es vor oder nach der poetischen Komposition nicht als historisches Unbewußtes (der Begriff stammt von Frederic Jameson) oder als politisches Unbewußtes existierte. Die historisch-gesellschaftliche Realität – sie ist nicht das Imperium der Zeichen, sondern das Zeichen der Imperien – liegt am Ursprung des poetischen Textes; durch sie bahnt er sich seinen eigenen Weg.

Er hat in sich selbst immer das gemieden, was ihn in Schwierigkeiten hätte bringen können. Wie das Tier in Kafkas Erzählung sollte ihn nichts überraschen, Christus nicht, der nächtliche Dieb, nicht die Geschichte, die Räuberin der Tage. Wer war dann der Feind, der sich aus seinen Eingeweiden erhob, gegen den er vergebens eine Schutzmauer aus Ideologemen, aus Antworten und erstaunlichen Kunstgriffen errichtet hatte? Pasolini ließ sich keineswegs von dem Mythos täuschen, den er bei sich aufnahm. Wie vor ihm schon eine genau definierte Gruppe von Dichtern vermochte er uns in der Illusion zu wiegen, wir wohnten dem feierlichen Schauspiel einer Operation am „offenen Herzen“ bei, derweil er sorgfältig und verbissen die Gräben und Wälle um seine Festung kontrollierte. Baudelaire hätte das auch gerne getan, er hat es gesagt und es ist ihm nur halb gelungen, aber diesem Scheitern seiner Absichten verdanken wir die Blumen des Bösen statt einen zweiten Gautier. Pasolini wollte nicht wahrhaben, daß er von seinem politischen Unbewußten beeinflußt war wie jeder andere auch. Auf seine Situation innerhalb der Macht- und Klassenverhältnisse kann ich hier und jetzt nur summarisch eingehen.
In einer Antwort auf Calvino erklärt uns Moravia, daß Pasolini sich weder vom Erfolg noch vom Geld korrumpieren ließ. Ich halte das für ein Scheinproblem. Was ihm undurchschaubar bleiben mußte, war der Ort, den er für sein eigenes Werk (und für sein Leben als Autor) gewollt hatte. Ich meine den gesellschaftlichen Ort und den Platz, den die Gesellschaft ihm zuwies, nachdem er von den Lebensumständen als Schriftsteller des Jahres 1950 zu denen seiner letzten Dekade übergewechselt war. Andernfalls hätte er den unerträglichen Anachronismus entdecken müssen, in den er sich selbst gestellt hatte und gestellt wurde, und der (es müßte nicht eigens erwähnt werden) etwas ganz anderes ist als der allem poetischen Tun innewohnende Anachronismus. Ich meine die Selbsttäuschungsmanöver, die ihm (einen Leser Gramscis!) alles ernsthafte Nachdenken über seine eigene öffentliche Funktion erspart und in die Fänge des mächtigsten Instruments der Kulturindustrie getrieben haben, das Kino, wo Ausbeutung und Kompromisse mit den wirtschaftlichen und politischen Mächten ein nahezu unkontrollierbares Ausmaß erreichen, wie an der Börse. Eben darum präsentiert und verdrängt er sein politisches Unbewußtes mit den Begriffen „Moralismus“ und „Erpressung“ – und wie oft taucht dieses Wort unter Pasolinis Feder auf, bekanntlich ein Schlüsselwort für jeden Homosexuellen. Der Erpressung durch die Moral setzt er 1950 das Alibi des Gleichbleibenden und Unbeweglichen entgegen, zwanzig Jahre später das des Perpetuum Mobile. Diese Alibis, ich möchte es noch einmal wiederholen, sind lediglich Masken, und sie sprechen seine einfachste, klarste und fürchterlichste Botschaft aus: Antithese ohne Dialektik. Er wird es freilich mit einem aus der Dialektik entlehnten Begriff bezeichnen: „Widerspruch“.
Das Chaos, die Brownsche Unruhe des psychischen Apparates, die Zerrissenheit zwischen Vernunft und Gefühl, Pflicht und Neigung usw. sind also nicht mehr als Gerüste aus falschen Widersprüchen gewesen, die ihn vor dem wahren Widerspruch schützen sollten: dem, der nicht ausgesprochen und nicht mit bloßem Auge angeschaut werden kann, denn er wagt uns zu sagen, daß die Geschichte uns als Schicht und Kaste der Privilegien zum Tode verurteilen wird.
Den Wandel vom Pasolini der Zeit vor seinen Erfolgen als Regisseur und Erzähler (1959–1964) zu dem des letzten Jahrzehnts kennzeichnet vor allem ein Wandel seines kontroversen Gesprächspartners. In einem Gedicht mit wunderbaren Passagen („Eine verzweifelte Lebendigkeit“, wahrscheinlich aus dem Jahr 1964) wird der Unbekannte, der ihn zehn oder fünfzehn Jahre zuvor über seine „Reife“ befragte, durch die abstoßende oder lächerliche Figur der Journalistin einer Wochenzeitschrift ersetzt, die „verfluchte Gans“, die an ihrem Interview mit Pier Paolo bastelt. Alles, was sie verkörpert (Gemeinplätze der Medienkultur, banale Vorstellungen von Literatur und Kunst), dient nur dazu, die Intelligenz, die Schlagfertigkeit und das Pathos des Autors ins rechte Licht zu rücken. Dieser verlangt, daß der Leser nicht den geringsten Zweifel an seiner Entscheidung hegt. Alles ist so angerichtet, daß man zu der Überzeugung kommen muß, es gebe eine gut vorbereitete Solidarität zwischen den Lesern und dem Autor, der sie erwählt hat. Doch gleichzeitig mimt dieser die Ausnahme, die Revolte, den Rufer in der Wüste. Natürlich muß er die unterwürfigen Intellektuellen verachten, die Pasolini lesen, während es ihm selbst möglich ist, in schönster Unbefangenheit mit irgendeiner Komparsin, einem Laienschauspieler, den Technikern usw. essen zu gehen oder Fußball zu spielen. In keinem anderen Text hat Pasolini mit so großer objektiver Wahrheit (und so großer subjektiver Unredlichkeit) eine der realen Klassenschranken unserer Gesellschaft dargestellt, die heute quer durch die Reihen des Medienbetriebs läuft. Daher meine Sympathie für diese widerwärtige Journalistin: Sie spielt ihre Rolle als Sklavin in den Mechanismen der entfremdeten Unterhaltungsindustrie, während die Figur des Autors den Part der Freiheit oder einer subtilen Sklaverei spielt, in deren Zwängen sein geistiger Polymorphismus nur erstarken kann. Je nonkonformistischer, desto konformistischer.
Revolte als Alibi. Woanders sein und sich gleich bleiben. Man beachte, daß „verzweifelt“ nicht nur die Verzweiflung des Melancholikers meint: Es ist das nullam sperare salutem Vergils als Movens zum Handeln und Ansporn der Vitalität. Nun, ein Gedicht (denn Gedichte können, wie Träume, nur affirmativ sein) verzweifelt nicht. Der Dichter verzweifelt, nicht sein Gedicht. Leider spricht Pasolini in Wirklichkeit und allzu oft nur die Worte der Verzweiflung. Berechtigterweise und ironischerweise schmälert die beschworene Vitalität die Vitalität des poetischen Textes. Leopardi wußte das. Sie bildet einen Filter. Sie ist wie ein blindes Einzelbild. Es sagt alles, also nichts. Das „Ungesagte“ von 1950 und die „Lebendigkeit“ von 1964 sind, trotz des unbestreitbaren poetischen Wertes der jeweiligen Gedichte, nichts als corpora lutea, blinde Flecke, die nicht sehen können. Dennoch tritt Pasolini nur hier als der „geprügelte Held“ Brechts, den er nicht mochte, in Erscheinung. Wir könnten also sehen, was er nicht sehen wollte.
War seine Arbeit an diesem unermeßlichen Werk womöglich nur eine als Eroberung getarnte Flucht? Wenn das einzige Laster ist, sich zu wiederholen, so war es sein Laster, mit jeder neuen Seite die vorhergehende Seite auszulöschen, wie mit jedem neuen Gesicht seiner Nächte das Gesicht einer früheren, bereits den Hunden der Reue zum Fraß hingeworfenen Nacht. Was er Leben nannte – fast muß es nicht mehr gesagt werden – war nur der Geschmack des Todes, und der Tod war nur ein köstliches Zucken der Eingeweide, das wußte er genau. Er war sich selbst nicht treu, das heißt, einem grausamen Herrscher und Zerstörer. Freiheit unterschied sich für ihn nicht von dem Traum, über die Welt, über ihre Körper und ihre Texte zu verfügen – also eine Sklaverei. Sein Kommunismus wie auch sein Christentum war nichts anderes als ein Fangnetz, das er sich selbst webte, um dessen Stricke dann mühsam zu entwirren.
Sein Werk bleibt wie ein großes, prächtiges Gebäude, das nach dem verheerenden Durchzug einer Epidemie leer steht. Man besichtigt es, um zu erfahren, wie das Italien unserer Jugend endete. Oder – um es besser und weniger pathetisch zu sagen – um zu erfahren, wie das verlogene Bild unseres Landes, der ganzen Welt, der Dichtung und unserer Pflichten ausgesehen hat, das wir viel zu lange, zusammen mit Pasolini, mit uns durchs Leben geschleppt haben. Lang genug für seinen Ruhm und unseren.

Franco Fortini, 1984, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Aufzeichnungen 1973–1990

Pasolinis Experimentieren (ich spreche hier nicht vom Wert seiner Gedichte, ich spreche vom symptomatischen Charakter seiner Dichtung) beruht auf einem Mißverständnis, das inzwischen für alle geklärt ist, auch für den Dichter selbst, meine ich: Die Dichtung auf die Ebene der Prosa zu übertragen – aus einem dringenden Bedürfnis nach Rationalität, nach Erkenntnis oder Kommunikation oder was auch immer –, die berauschende stilistische Freiheit abzulehnen usw. usf., gleichzeitig aber alle Bestimmungen der literarischen Gattung „Lyrik“ beizubehalten und grundsätzlich zu akzeptieren, bedeutet, weiterhin all die jahrhundertealten Instrumente stilistischer Verfremdung aus der poetischen Tradition zu nutzen, die man an anderer Stelle kritisiert hat. Die Innovation besteht dann darin, eine tote Tradition aufgegriffen zu haben – jene der Predigten, der „Visionen“, der Episteln, des didaktischen und belehrenden Poems. Aber ist das möglich? Officina hat es versucht, ohne Erfolg.

Franco Fortini, 1973, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Aus zwei Gründen

kann ich nicht über Pasolini sprechen. Erstens, weil mir die Bedeutung seines Todes, also seines Lebens, heute weniger klar ist als sie mir damals am Campo dei Fiori, am Abend seiner Beerdigung, schien. Und zweitens, weil ich einen Großteil seiner Gedichte wiedergelesen habe und zu der Überzeugung gekommen bin, daß eine kritische Beurteilung die einzig nützliche und notwendige ist, und daß sie auf einer anderen Haltung beruhen muß als der Ungeduld.
La nuova gioventù zum Beispiel hat das Urteil vieler Kritiker (und meines) widerlegt, die in La meglio gioventù ein außergewöhnlich gelungenes Beispiel des für Pasolini so wesentlichen Manierismus gesehen hatten. Heute kann man die beiden Bände nicht mehr voneinander trennen und auch nicht mehr behaupten, der zweite widerspräche dem ersten oder wäre, wie Éluard sagen konnte, ein mettre au mal dessen, was der erste au bien darstellte. Denn weder besitzt ihr gemeinsames Element, die friaulische Sprache, die (relative) Transparenz, die das Italienische gehabt hätte, noch kann oder will sie diese besitzen. Stattdessen stellt sie sich als ein zweites Gesamtsystem dar, das zum Zweck des Verbergens gebildet wurde. Der Signifikant macht sich zum Überbringer von etwas Irreduziblen, dem Angebot einer sprachlichen Masse, die vom Empfänger als fremd oder halbfremd empfunden werden soll. Sie ist das, was beide Bücher vereint. Sie begnügt sich nicht damit, beide in einen Gegensatz zu bringen. Wieder einmal übertrifft Pasolinis Gelehrsamkeit die Erwartungen des Lesers. Doch wenn dieser Kreis sich schließt, hat man das Gefühl, einem Selbstmord beizuwohnen.
Ich frage mich, ob nicht auch die folgende Dichtung Pasolinis ausgehend von diesem ersten-und-letzten Buch interpretiert werden müßte; also auch ausgehend von Die Nachtigall der katholischen Kirche, denn es ist so etwas wie die italienische Fassung des ersten und die Vorwegnahme des letzten Gedichtbandes. In dieser „Doppelung“ steckt wieder jene Figur des Oxymorons oder Synoikismus, den ich vor achtzehn Jahren entdeckte (und den Pasolini akzeptierte, wie er mir sagte). In der Psychologie ein schizoides Verhalten. Die Abkehr von jeglicher Spur der Institution Lyrik (seine „Nicht-Gedichte“) wird in Poesia in forma di rosa überdeutlich. In dieser Abkehr gibt es nichts, was sich auf die Avantgarde zurückführen ließe. Stattdessen ist es so, als wollte Pasolini nach Gramsci’s Asche und La religione del mio tempo den ihm zunehmend verhaßteren Lyrismus, die rhetorisch-emotionale Athletik dort ersticken, wo sie sich als unbezähmbar erwies, nämlich in seinen Descrizioni, in den Stücken einer ,Kunstprosa‘. Um das zu erreichen, mußte die Sprache, die er brauchte, schlimmer sein als unrein: durch und durch unflätig, Mimesis der intellektuellen und literarischen Konversationen. Diese Sprache war eine, die er haßte, und er glaubte sie nur deswegen benutzen zu können, weil er sie haßte.
Aber ist die Funktion seines dichterischen „Italienisch“ dann dieselbe wie die seines „Friaulisch“ und seines „Vorstadt-Römisch“? Diese Sprachen sind künstlich, fictae, sie haben nur scheinbar eine Beziehung zu den Sprachen der Kommunikation, die der Linguist erforscht, und ebenso wenig sind es Privatsprachen, paroles. Es sind regelrechte Bühnenbilder, gemalt mit der verächtlichen, beleidigenden Geschwindigkeit, mit der Hintergrundmaler arbeiten (doch auch der späte Picasso).

Franco Fortini, 1978, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Wer mich in den vergangenen zwanzig Jahren

um ein Urteil über Pasolini gebeten hat, bekam fast immer zur Antwort, zuallererst müsse man Schluß machen mit der Verwirrung zwischen Werk und Biographie, also mit dem Mythos, und die zweite, wichtigere Aufgabe sei, ihn noch einmal mit der größtmöglichen intellektuellen und kritischen Kraft ganz zu lesen, um dann zu versuchen, die Texte ihrer unterschiedlichen Qualität nach zu ordnen und letztendlich einen Kanon des Ausgezeichneten, mithin eine Anthologie, festzulegen. Ich wußte sehr genau, daß dieser Rat einem großen Teil der Leser Pasolinis, häufig den intelligentesten, widerstrebte. Denn gerade dieses Kriterium der Anthologie, nämlich die Auswahl des Besten, bildete nicht nur das Gegenteil derjenigen Rezeptionsweise und Teilnahme, die Pasolini für sein Werk gewollt hätte, es widersprach vor allem den Zeitläuften, weil es noch an eine Epoche gekettet war, die ihre politischen und geistigen Strukturen für so stark hielt, daß sie Kanons festlegen konnte. Diese Leser erwiderten, seine Texte müßten ohne Unterscheidung genutzt werden, außer nach dem Grad ihrer Schockwirkung, und es müsse dies ein Prozeß sein, der angesichts der herrschenden Anthropologie, die Individualität und Persönlichkeit alle Bedeutung abspricht, das An- und das Abschwellen der flüchtigen menschlichen Beziehungen mimisch darstellt.
Es dürfte eigentlich nicht nötig sein, wieder von meinem Ekel vor gewissen Ritualen eines Mysterienkults zu sprechen. Ich erinnere mich gut an die feindseligen Reaktionen eines franko-italienischen Publikums in Paris, als ich versuchte, zu erklären, daß Pasolini für die italienische Gesellschaft von 1975 keineswegs der ausgestoßene Rebell, als Nonkonformist das Opfer einer reaktionären, faschistischen Kultur gewesen war. Eine Beschreibung dessen, was (nicht nur mir) die „soziologische“ Wahrheit der Person und ihres Mythos zu sein scheint, wollte dort fast niemand hören. Erst als man vor kurzem anfing, mit demselben verblödenden Herdentrieb, mit dem nach seinem Tod gut zehn Jahre lang kein einziges italienisches Städtchen versäumte, irgendeine Veranstaltung zu Pasolini zu beherbergen, seinen Namen in abfälligem, überheblichem Ton zu erwähnen oder ihn zu verschweigen und zu verdrängen, erst da fiel es mir leicht, spontan seinen außerordentlichen Geist zu verteidigen, an die grelle Wahrheit vieler seiner Gedichte zu erinnern, mit seiner Energie zu wetteifern.

Franco Fortini, 1990, aus Schreibheft, Nr. 73, September 2009
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Mit Büchern fing alles an

Der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini war ein Vielleser. Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod wird nun seine Privatbibliothek erforscht. Thomas Migge bespricht La Biblioteca di Pier Paolo Pasolini.

Hans Ulrich Reck: Mythische Verweigerung und totale Person. Zu Werk, Leben und Rezeption Pier Paolo Pasolinis, Merkur, Heft 424, Februar 1984

 

FÜR PIER PAOLO PASOLINI

Immer hast du dein Brot im Zug
auf dem Weg zur Schule gegessen
zwischen Sacile und Conegliano;
ich war nicht weit, aber zu jener Zeit
waren zehn Kilometer eine Unermeßlichkeit.
So kam es, daß zwei Knaben damals
einander nie begegnet sind.
Wann aber hätten wir uns denn auch
treffen können unter einem Bahnhofsdach
der kleinen Haltestelle mitten auf dem Land
mit ihrem Glöckchen, Dingdonding,
das sagt wie tief der blaue Himmel singt –

inzwischen ziehen Tage, Jahreszeiten
vorbei, mit diesem Schatten, der da schreibt
durch Häuser und Scheiben, Mauern und Wiesen
durch Hecken, abgeschiedne Winkel,
unlesbare Wurzeln und Hirngespinste.

Wann aber hatten wir, bevor der Zug einfuhr,
jemals die Zeit zu einer kleinen Plauderei,
der einzigen, die man auf dieser Welt
mit jenem haben kann, den man nur wenig,
dafür wirklich kennt?

Später haben wir uns unterhalten, gelesen, was der andre schrieb,
und manches Mal, ganz plötzlich, auch gestritten;
das Leben trieb uns öfters unter kalte Wassergüsse
und stellte mehr als eine Falle für uns auf;
ich immer am gleichen Ort, von Kopf bis Fuß in Verse eingetaucht,
du überall, mit deiner Leidenschaft für alles;
doch immer war da, zwischen uns, auch dieses Band:
von dem, was zählte, hatten wir das gleiche Bild.

Ich wartete dort oben auf dich, wo noch jetzt
die alba pratalia
1 atmen, silbrig glänzend
von allen Seiten immer mehr zersetzt;
und du bliebst dort, mit deinem Mut,
wo dieses Land am wahnsinnigsten tobt.

Verzeih mir, ach, wenn ich dir nicht mehr gebe
als dieses Murmeln, eines Alten schon…
Es ist nichts als ein armes Bemühn, ein klägliches Beben,
um noch zu flicken und zu kitten, irgendwie
– für einen Augenblick nur, einen Abschied lang –
was jemand deinen Knochen, deinem Herzen angetan.

Andrea Zanzotto

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Ronald Pohl: P.P.P.: Als Außenseiter im ewigen Clinch mit Nachkriegsitalien
Der Standart, 8.2.2022

Ronald Pohl: P.P.P.:Der Poet der italienischen Armen
Der Standart, 18.2.2022

Hans Ulrich Reck: Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
hr2, 3.32022

Barbara Schweizerhof: Vorliebe für Unpoliertes
taz, 4.3.2022

Daniel Kothenschulte: Verwehrte Nähe
Frankfurter Rundschau, 4.3.2022

Peter Zander: Pier Paolo Pasolini – Ein Prophet der Verzweiflung
Berliner Morgenpost, 5.3.2022

Dietmar Dath: Ein Engel ist kein Bürger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.2022

Thomas Schmidt: „Weißt du, wie mir Italien vorkommt? Wie eine Bruchbude“
Die Welt, 5.3.2022

Michael Krüger: „Als ich das erste Drehbuch angenommen habe, war ich wortwörtlich am Verhungern.“
Neue Zürcher Zeitung, 5.3.2022

Gregor Dotzauer: Freiheit und Rebellion sind meine süße Speise
Der Tagesspiegel, 4.3.2022

Sky Nonhoff: Der große Streitbare
SR 2, 4.3.2022

Gunnar Decker: Der ewige Ketzer
nd, 4.3.2022

Sabine Göttel und Olaf Neumann: Mit cineastischen Visionen im Visier der Gegner
Freie Presse, 4.3.2022

Romina Achatz: „Ich danke dir für Deinen rebellischen Geist und deine unbändige Zärtlichkeit“
Literatur outdoors, 5.3.2022

Manfred Hermes: Der Nonkonformist
junge Welt, 5.3.2022

Emanuela Sutter: Pasolini war ein katholischer Provokateur
Die Tagespost, 6.3.2022

Lutz Hanker: 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
RBB Kultur, 5.3.2022

Agnese Grieco: Eine verzweifelte Vitalität
Deutschlandfunk Kultur, 5.3.2022

Stefano Vastano: „Wie können wir das Leben am Leben erhalten?“
Die Zeit, 28.8.2022

 

 

100 Jahre Pier Paolo Pasolini (Matinée) am 16.10.2022 in der Alten Schmiede in Wien. Florian Baranyi, Karl-Heinz Dellwo im Gespräch mit Walter Famler

 

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