DIE ZEITEN DER WELT
Spiralen, Spiralen
habe ich gesungen, bis mir schwindlig wurde,
aber im feuchten Sand bewegen sich die Muscheln
aaaaalangsam,
habe von unbekannten Erdteilen gesungen, von
Havarien, von den verborgenen Gewässern des
aaaaaMenschenherzens:
wenn uns der Sturm schüttelt,
laufen sie über, ein Sieb das Gesicht, siebt
sauberes Wasser durch groben Sand hindurch.
Spiralen, Spiralen
habe ich gesungen, kränkelnd, mit schellenden Ohrenschmerzen
in einem verlassenen Haus, wenn der Hammer der Zeit
sich verrrenkt hat und am Amboß vorbeisaust:
nichts wiederholt sich auf die gleiche Weise, nichts
ist ausschließlich Linie, Geometrie,
und eine an den rechten Ort gelegte Gedankenlinie
drangsaliert den ganzen Satz; es bleibt ein Netz zurück,
welches ins Fleisch schneidet, Lendenknochen, zum Gitter gebogen
Noch ging die Sonne nicht auf,
doch ist der Nachthimmel ein Sieb, siebt Sterne,
ein fernes Glänzen; bei diesem flüchtigen Moment
und einer Melodie mit ihrer einmaligen Tonfolge
begreife ich wie schnell die Weltzeiten
sich abscheuern, ganz so wie Kleider durchgescheuert werden
und in Triangeln flattert die Milchstraße
Und falls die Tränen trocknen, ist das Gesicht
Marschland, ein zugeschaufeltes Grab
Arto Melleri
Dieses Sonderheft gibt einen Einblick in die Vielfalt und Lebendigkeit der modernen finnischen Lyrik.
Finnische Poesie war schon immer außergewöhnlich bildstark, handfest und sinnlich und in den Elementen von Natur, Dingen und der physischen Welt verankert (Helena Sinervo).
In fünf Motivgruppen stehen hier Bahnbrecher der Moderne, die in Finnland um die Mitte des letzten Jahrhunderts ihren Einzug hielt, neben Dichtern, die heute auf der Höhe ihres Schaffens sind. Sprache und Themen berühren sich dennoch und beginnen ein Zwie-, ein Multigespräch. Durchgehend lassen sich Verbindungsfäden und Echos aufspüren – zwischen der älteren und jüngeren Generation, zwischen den Zeitgenossen.
Die seit 25 Jahren in Finnland lebende Dichterin Dorothea Grünzweig wählte für ihre Übertragungen Gedichte aus, die ihr im Laufe der Zeit ans Herz wuchsen – gerade auch weil sie typisch sind für die jeweiligen Künstler, deren Bilderwelt und eigene Stimme. Runoilija heißen Dichterin und Dichter im Finnischen. Der Begriff ist verwandt mit dem Wort Runen. Für deutsche Ohren schwingt darin etwas mit von der in alten Liedtraditionen wurzelnden Dichtung Finnlands und einer Gemeinschaftlichkeit, die alle betrifft. Finnen haben einen Hang zur Poesie, wie auch eine auffällige Musikalität und Gabe zum Erlernen von Fremdsprachen. Viele können noch Zeilen oder Passagen des in gebundener Sprache verfaßten Epos Kalewala auswendig und sind stolz auf die Schätze alter Volksdichtung, die in Ostkarelien gesammelt wurden. Für die Verbreitung der Lyrik sorgt unter anderem das ausgezeichnete Bibliothekswesen des Landes.
Beim Übertragen finnischer Gedichte ins Deutsche kann in besonderem Maß keine identische ,Dublette‘ entstehen, weil zwei Sprachen verschiedener Sprachfamilien – das Finnisch-Ugrische und das Germanische – aufeinandertreffen: Finnisch als synthetische, Deutsch als analytische Sprache. Der deutsche Text ist etwa ein Drittel umfangreicher, denn die dichte finnische Sprache arbeitet vor allem mit angehängten Suffixen, braucht weniger Präpositionen – und keine Artikel. Dadurch gibt es nicht das trennende Scheiden in grammatische Geschlechter. Die Hauptwörter wirken wie Namen und bergen eine geballte Kraft in sich. Das Personalpronomen der 3. Person Singular ,hän‘ vereint ,sie‘ und ,er‘. Durch seine 15 Fälle, die Suffixangleichung zwischen Substantiv und zugehörigem Adjektiv, den Stufenwechsel und die wie eine punktierte Note gesprochenen Doppelkonsonanten trägt für Ausländer die finnische Sprache an sich schon – durch ihre Wiederholungen und Variationen – poetische Wesenszüge.
Vorwort
Vielfalt und Vitalität der modernen finnischen Lyrik belegen 26 renommierte Dichter, sowohl Bahnbrecher der Moderne, die in Finnland in den 40er und 50er Jahren Einzug hielt, als auch aktuell bekannte Lyriker. Durch das Heft schwingen Bindungen und Echos zwischen der älteren und jüngeren Generation und auch zwischen den Zeitgenossen. Die seit 25 Jahren in Finnland lebende Dichterin Dorothea Grünzweig traf die Auswahl schöner und ihr wichtiger Gedichte und übertrug sie ins Deutsche.
MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2014
Man kann mit einem Grashalm durch alles Windbewegte rudern. Und eine schöne Aufforderung ist auch:
Jeder muss mal am Hafen winken,
sich umdrehen,
ohne zu einer Salzsäule zu werden
(Annukka Peura)
Poesie aus Finnland. Natürlich Schnee und Schmelze, Wälder und andere Weiten. Die Wildnis aber irgendwie sanft, und die Kälte von einem Charakter, der eher anzieht als abstößt.
Wo es dunkel, finster gar und abgründig wird, ist doch über jene Seelenkraft zu staunen, die aus den Unbilden der Natur hervorgeht als deren Gegenteil und deren Überwindung. Du liest das als ein Mitteleuropäer, der es warm hat, besagte Seelenkraft schien dir nie wirklich nötig, also leben und schwinden wir schwächer dahin als der Mensch, der sein Fingerspitzengefühl aus Handschuhen heraus entwickelt.
Die Dichterin Dorothea Grünzweig, die seit langem in Finnland lebt, hat Lyrik von 26 finnischen Autoren – das älteste Geburtsjahr 1919, das jüngste 1971 – ins Deutsche überragen und zu einer Anthologie gebündelt. Diese Poesie geht, noch im Widerstand gegen die Natur, mit der Natur. Womit sich die meisten Menschen zufrieden geben, mit einer zivilen Identität, fängt diese Lyrik gar nicht erst an. Sie will sofort darüber hinaus. Aber nicht aus Mutwillen und Dreistigkeit, sondern aus Bedürfnis. Es ist erste Neigung, die da zwingt. Trostlosigkeit und Verlorenheit können vorkommen, Verworfenheit kommt nicht vor. Daseinssicherheit läutet wie weit hinter Wäldern. Und immer lautet die Frage:
Liebst du die Welt so sehr,
dass du andere mit hineinziehst?
(Anni Sumari)
Ja erzeugt Ja, auch wenn viele Zwischenschmerzen aus Nein die Geburt verzögern.
Es gehört zu den Besonderheiten der Reihe Poesiealbum, dass sie in Abständen auf konzentriertem Raum in die Poesie anderer Völker führt. Gedichte sind Reisen. Aber nicht von der Art jener Banalität, man begegne eh nur sich selber. Das sei geschenkt, diese Wahrheit trifft dich an jeder Straßenecke. Es geht bei Gedichten um ein anderes Reisen, um ein Fortsein, ohne reisen zu müssen.
Öffne die Käfige, zerbrich die Gitter,
erheb dein Angesicht doch auf die Tiere,
gehorch den Dichtern
(Eeva Kulpi)
Dieses Finnland als Gleichnis – für Welten, in denen das Aktuelle noch nicht herrscht – man muss viel entbehren wollen, um Wesentliches verstehen zu können.
Ich schaue uns an, schüttle, ein Schneetreiben weht zu, die Kinder lösen sich von ihren Sockeln, fliegen davon mit dem Schnee. Hinausgeschleudert werden, fast ein Freudenschrei
(Saila Susiluoto)
Der Schnee ist gegen Nachrichten, das Licht auch. Tag und Nacht, Weltraum und Wärmedecke, mehr Unterschied ist nicht nötig. So bricht Ewigkeit an. Du erfährst, wie das Leben gegerbt und getilgt wird, aber du erfährst auch einen Ton des Bewahrenkönnens – der wiegt dich so ein, dass die Zeit eine Illusionssekunde lang mit leerem Maul kauen muss.
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