Ossip Mandelstam: Poet’s Corner 8

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ossip Mandelstam: Poet’s Corner 8

Mandelstam-Poet’s Corner 8

Wie, mein Herr, heißt die Straße dort?
Ossip-Mandelstam-Straße.
Gottseibeiuns, was für ein Wort!
Es verdreht sich im Mund sofort:
Krumm klingt das, statt gerade.

Nie war an ihm eine Linie klar.
Wie er, Herr, nie eine Lilie war.
Darum heißt dort die Straße auch −
Besser: diese Kuhle im Schlamm −
Immer noch (Namen sind selten Rauch)
Nach ebendem Mandelstam.

Übersetzt von Rainer Kirsch

 

 

 

… Der Herausgeber

ist Ossip Mandelstams Gedichten zum erstenmal um 1966 begegnet; die 1975 nach mancherlei Schwierigkeiten bei Reclam Leipzig unter dem Titel Hufeisenfinder erschienene, 1987 erweiterte zweisprachige Ausgabe brachte es bis 1989 auf 130.000 verkaufte Exemplare, von denen viele in der Sowjetunion landeten – ein Bändchen Mandelstam war dort lange ein türöffnendes Gastgeschenk.

Der Leser nehme die Texte so wörtlich wie möglich. Denn was dem ersten Blick Metapher scheint, sind meist das Zuhandene mit knappsten Aufwand überhöhende Bilder, und wenn Verse von der Lust am Trabrennen handeln, dürfen wir sicher sein, daß der größte russische Dichter nach Puschkin (beide waren „fremdblütig“, beide wurden vom Gemeinwesen umgebracht) ein so kundiger Jockei war, wie unsereins heute joggt oder squasht.

Rainer Kirsch, Aus dem Nachwort, Februar 1992

 

Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze

Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.

Ossip Mandelstam

Die Gedichte der beginnenden zwanziger Jahre zeigen tatsächlich „Vereinfachung“ der Sprache, „Verweltlichung“ des Worts und unterscheiden sich lexikalisch, metaphorisch, genretypologisch und strukturell wesentlich von den Gedichten der Tristia. Mandelstam trieb diese Spracherneuerung in unterschiedliche Richtungen; zu äußerster Einfachheit, schöner Klarheit und zu überraschenden, „unerhörten“, schwierigen Vergleichen und metaphorischen Konstruktionen.
Mandelstam, der Dichter mit dem geschärften Blick für Geschichte, für historische Parallelen; der in großen geschichtlichen Verallgemeinerungen denkt, sucht in dieser Zeit nach den Zusammenhängen der Gegenwart mit Vergangenem, nach Tradition und Perspektive.
1922 schrieb er den Aufsatz „Das neunzehnte Jahrhundert“, den er später in die Sammlung Über Poesie aufnahm. Dieser Aufsatz zeugt von einer nicht überwundenen idealistischen Sicht auf die Geschichte, die das 18. Jahrhundert dem 19. Jahrhundert als dem unbedeutenden entgegenstellt und dabei eine geschichtliche Leistung wie die Herausbildung der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus gar nicht in sein Blickfeld bekommt.
Das Denken in Jahrhunderten dringt auch in die Poesie Mandelstams. Das Thema des sterbenden 19. Jahrhunderts, des „Bruchs“ zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert wird in mehreren, miteinander korrespondierenden Gedichten aufgenommen. Im Gedicht „War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise“ ist das sterbende 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert unerfüllter Hoffnungen begriffen, die mit dem „ersten Rausch“ des Jahrhunderts zerbrachen – dem Aufstand der Dekabristen. Auch im Gedicht „Meine Zeit“, daß der Dichter in das Album der Literaturwissenschaftlerin Jewlalija Pawlowna Kasanowitsch schrieb, spürt man dieses Thema. Der Gedanke vom Bruch zwischen den Jahrhunderten ist natürlich falsch, interessanterweise kommt Mandelstam aber neun Jahre später darauf zurück, nimmt in dem unvollendeten Gedicht „Was für ein Sommer!“ das Thema „Jahrhundert“ und „Rückgrat“ wieder auf und begrüßt das „Rückgrat“ unseres Jahrhunderts, indem er sich an die jungen Arbeiter wendet.
Auch Zukunft wird zum Gegenstand seiner Gedichte. Verhüllt auch hier vom Rauch der Utopien. Die Zukunft erscheint als Idylle, in der der Mensch mit der Natur eins sein wird, ein Dasein, das Zufriedenheit und Erleuchtung durch den Geist der Musik ist.
Gegenwart faßt Mandelstam zum erstenmal in seinen Gedichten als Konfliktfeld der Ideen. Im Gedicht „Der 1. Januar 1924“ begreift, sich Mandelstam als Gefangener des sterbenden 19. Jahrhunderts, als seinen „kranken Sohn“ mit dem „Kalk im Blut“. In der Gegenwart, die ihn, den nun „alternden Sohn“ großzog, fühlt er sich verloren:

O Lehm-und-Leben! O Jahrhundert-Sterben!
Nur dem, ich fürcht, erschließt er sich, dein Sinn,
In dem ein Lächeln war, ein hilfloses – dem Erben,
Dem Menschen, der sich selbst verlorenging.

Doch Mandelstam wollte sich der Macht der Überlieferung nicht ergeben, nicht dem Druck vergangener Zeiten weichen. Er stellt dieser Macht, diesem Druck die Stimme des Gewissens, die Treue zu dem Eid entgegen, den er in der Revolution der neuen Welt geschworen hat:

Die Schwelle hier: ich wollt, ich könnt sie lassen.
Wohin? Die Straße – Dunkelheit.
Und, als wärs Salz, so weiß, dort auf dem Pflaster,
Liegt mein, Gewissen vor mich hingestreut.

Der logische und emotionale Übergang zum Thema der Treue, die ihn an das neue „Jahrhundert“, das neue „Rückgrat“ der Geschichte bindet, ist deutlich nachzuvollziehen:

Reißt es mich hin zu Schmäh- und Lästerworten?
− Der Apfelduft des Frosts, aufs neue er −
O Eid, den ich dem vierten Stand geschworen!
O mein Gelöbnis, tränenschwer!

Sozial, psychologisch ist Ossip Mandelstam immer noch der Mann des Obergangs, noch unterwegs, und obwohl die Wahl 1917 getroffen wurde, ist die neue Position in der Gegenwart noch nicht erreicht. Der Dichter wußte das und hat sich diese Konsequenz abgefordert. Daher folgen auch auf die oben zitierte Antwort im Interview der Zeitung Tschitatel i pisatel: „Ich fühle mich als Schuldner der Revolution…“ die bitteren Worte: „… aber ich bringe ihr Gaben, die sie vorerst nicht braucht“.
Diese „Selbstbezichtigung“ ist freilich übertrieben. Die revolutionäre Zeit nahm die Gedichte an, die ihr Mandelstam brachte, weil sie begriff, daß hier ein großer, begabter, suchender Dichter spricht. Aber die ungenügend weite Gesellschaftskonzeption engte den Kreis der Leser ein. Mandelstam mußte weiter.
Zu Beginn der dreißiger Jahre stürzte sich Mandelstam förmlich ins Leben. Er reiste nach Armenien und brachte von dort eine reiche „Ernte“ – Poesie wie Prosa – mit: einen Zyklus Gedichte und die Prosa „Reise nach Armenien“.
Armenien beschäftigte den Dichter, seine Geschichte, seine alte Kultur, seine Farben und seine Steine. Am meisten aber seine Menschen, das Volk der jungen Sowjetrepublik. Bezeichnend dieses lyrische Bekenntnis in der „Reise nach Armenien“: „Ich trank insgeheim auf die Gesundheit des jungen Armeniens mit seinen Häusern aus apfelsinenfarbenem Stein, auf seine weißzähnigen Volkskommissare…“ Daß die Reise nach Armenien für den Dichter „belebend“ war, lesen wir in diesen Zeilen: „Die Lebensfülle der Armenier, ihre große Freundlichkeit, ihre edle Arbeitsgerbung, ihr unvorstellbarer Abscheu vor jeder Metaphysik und herrliche Familiarität mit der Welt der wirklichen Dinge – es sagte mir: du lebst, hab keine Angst vor deiner Zeit, sei gescheit.“
Mandelstams Lyrik zeigte diesen mutigen Ton nicht lange. Der Dichter versank wieder in seine quälenden Gedanken über das Verhältnis zur Gegenwart, zur neuen Zeit.
Als er Ende 1930 wieder nach Leningrad kam, die Stadt seiner Kindheit und Jugend, die Stardt der Revolution, entstanden in der Wiederbegegnung fröhliche und bittere Gedichte. Die Abrechnung mit der Vergangenheit stand im Gedicht „Der Welt der Oberen war ich nur kindlich verbunden“. Aber wenige Wochen zuvor hatte Mandelstam das Gedicht „Ich bin zurück. Meine Stadt, bekannt bis zu Tränen“ geschrieben, das von der tragischen Bindung an die Vergangenheit spricht, einer emotionalen Bindung, die keinen Raum läßt für die Annahme des Neuen.
Wieder Gedichte über die Ablösung der Jahrhunderte, den Bruch mit dem „wölfischen“ Jahrhundert, das Verhältnis zum neuen Jahrhundert, dem „Wolfshund-Jahrhundert“, das den Weg für künftige, hellere Zeiten frei macht. Den Bruch mit der Vergangenheit bindet Mandelstam direkt an seine humanistischen Überzeugungen:

Den steigenden Zeiten zum höheren Ruhm,
Dir, Mensch, zur unsterblichen Glorie,
Kam ich, als die Väter tafelten, um
Den Kelch; gingen Frohsinn und Ehre verloren.

Zweimal betont der Dichter seine völlige Fremdheit in der wölfischen Welt.
Mitte 1931 nimmt Mandelstam im Gedicht „Mitternacht in Moskau“ das Gespräch mit der Epoche wieder auf. Wieder kämpft er mit dem Gedanken, daß ihn die neue Zeit vielleicht nicht versteht. Er spricht von seiner Treue zu den demokratischen Traditionen:

Schluß! Kein Gebettel, kein Gejammer, kusch!
Kein Geplärr!
aaaaaaaaaaaaHaben deshalb Rasnotschinzen
Die rissigen Stiefel zertreten,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadaß ich sie jetzt verrate?

Zum erstenmal spricht er so sicher und bestimmt von sich als einem Zeitgenossen, von seiner unlöslichen Verbundenheit mit der Epoche, mit dem Jahrhundert:

Versucht nur, reißt mich los von dieser Zeit,
Ich garantier, ihr brecht euch nur den Hals.

Die ideologisch-ästhetische Entwicklung des Dichters ging weiter trotz der schwierigen Lebensumstände, trotz der schlimmer werdenden Nervenkrankheit. Mandelstam bewegten Gedanken und Gefühle, die nicht nur die Entschlossenheit zeigten mit dem Jahrhundert befreundet zu sein, sondern seine wirkliche geistige Verbundenheit mit der Zeit offenbarten. Die sogenannten, Woronesher Hefte (1935 bis 1937) sind eine bedeutende dichterische Leistung. Obwohl einige Gedichte unvollendet sind, zeigen die Hefte Beispiele schöner patriotischer Lyrik. Hier fand vieles seinen Niederschlag, was Mandelstam seit langem bewegte. Die Veröffentlichung dieser Hefte, die in den sechziger Jahren bekannt wurden, bietet ein genaueres Bild des Dichters Ossip Mandelstam.
Bekenntnisgedichte, Selbstanalysen der geistigen Welt des Dichters herrschen vor. Doch breiter als je früher zeigen die Hefte epische Züge in Mandelstams Lyrik, zeigen Gegenwart in der Wertung des lyrischen Subjekts.
Schärfer, bestimmter, politisch konkreter wurden die lyrischen Bekenntnisse des Dichters.
Die Zeit in der die Gedichte der Woronesher Hefte entstanden, war eine Zeit bedeutender Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion; gleichzeitig wurden die faschistischen Kräfte im Westen immer stärker. Der Dichter verfolgte die geschichtlichen Ereignisse sehr genau. Zornig schrieb er gegen Hitlers Terror in Deutschland, wo der Henker die Kommunisten köpfte. Im Gedicht „Rom“ schreibt er voller Haß auf die Faschisten und ihren Duce:

Verwandelt zur Mordpflanzschule
Von euch, Söldner braunen Bluts:
Italische Schwarze Hemden
Toter Cäsars Achtgroschenbrut…

Und dies über Mussolini:

Neu, des Forum Gruben stehn offen
Dem Herodes ist offen das Tor
Und der Mißgeburt, des Diktators
Kinn hängt schwer über Rom.

Die Woronesher Hefte zeigen das Bild der Heimat, ihrer arbeitenden Menschen. Mit aller Bestimmtheit des Gedankens, des Gefühls, des Wortes faßt Mandelstam den Charakter seiner geistigen Zugehörigkeit zum neuen Leben: Angesichts des Unglücks, in das er gestürzt worden war, bewahrte der kranke Dichter Kraft und Mut genug, um in diesen „Stanzen“ zu erklären:

Ich will nicht unter Jünglingen im Treibhaus
Den letzten Seelengroschen wechseln. Meinen Hut
Nehm ich, und wie der Bauer in den Kolchos
Komm ich zur Welt – und siehe, der Mensch ist gut.

Mit großer Liebe schrieb der Dichter sein Bekenntnis zur Schönheit der Taten sowjetischer Menschen:

Den Rotarmisten-Faltenmantel lieb ich
Bis zu den Fersen lang, mit glattem Arm
Der schweren Wolgawolke nachgeschnitten…

Mandelstams dichterischer Gedanke, sein Traum lebte in den Weiten des Heimatlandes, lebte bei den Werken und Tagen seiner Mitbürger in Moskau, in der Arktis, er hörte die „Sirenen der sowjetischen Städte“. Der Dichter glaubte an die große Zukunft seiner Heimat.
So war Ossip Mandelstam sogar in den für ihn schweren Verhältnissen der dreißiger Jahre als Dichter seinem Eid an das neue Jahrhundert treu.

Alexander Dymschitz

Benn schmort in der Hölle

− Ein Gespräch über dialogische und monologische Lyrik. −

Helmut Böttiger: Die Frage, an wen sich der Lyriker eigentlich wendet, ist nie endgültig beantwortet worden. Ist das Gedicht vor allem ein Selbstgespräch, oder ist es doch eher an einen Leser gerichtet? Sie haben in diesem Zusammenhang auf Osip Mandelstams frühen Essay „Über den Gesprächspartner“ hingewiesen. Worum geht es Ihnen da?

Durs Grünbein: Mandelstam wendet sich an einen unbekannten Leser aus der Nachwelt. Extrem ausgedrückt, sendet die Dichtung Signale aus wie zum Mars. Sie sucht, so weit wie möglich in den Außenraum und in die Außenzeit hinauszugehen, immer in der Hoffnung, dass dieses Signal irgendwann empfangen wird. Mandelstam stellt sich vor, dass im Gedicht aus einer bestimmten Realität heraus irgendwann wieder eine lebendige andere Realität geschaffen wird. Die Dichtung geht also aus der Gegenwart und Realität des Körpers eines Dichters wie François Villon in die ganz andere Gegenwart und körperliche Realität eines Lesers im 21. Jahrhundert ein. Die Stimme setzt über das Metrum und die Dringlichkeit ihrer poetischen Sprache einen metaphysischen Austausch in Gang. Wenn alles gut geht, bleibt die Grundspannung des Originals, die Reinheit der Quelle erhalten. Eine meiner fixen Ideen ist, dass die Energie, die mittels geformter Sprache übertragen wird, in der Dichtung stärker ist als in der Prosa, und das für alle Zeiten. Das Dichterwort strebt in die Vertikale wie eine Rakete, sein Betriebsgeheimnis ist die ballistische Kurve. Keiner kann sagen, wo es landen wird. Es strebt fort vom Augenblick und hält ihn gerade deshalb streng fest als eine Art planetarischer Botschaft, die an die Zukunft gerichtet ist oder vielleicht sogar an die Außerirdischen. In gewissem Sinne sind alle Nachgeborenen Außerirdische, die immer aufs Neue versuchen, die Botschaft aus ihrer Zeitkapsel herauszulösen und zu entziffern.
Die Prosa dagegen verbreitet sich sofort in der Ebene; sie wendet sich zuallererst an den Zeitgenossen, im schlimmsten Falle den Zeitungsleser. Das ist wahrscheinlich die ganze Crux. Lyrik ist für die meisten deshalb so schwierig, weil sie nicht sicher sein können, ob sie sich überhaupt an sie wendet. Dichtung ist, selbst dort, wo sie sich an den Allernächsten richtet, die Geliebte etwa, den besten Freund, zu einem guten Teil Fernstenliebe. Nach Jahrhunderten können wir alle uns angesprochen fühlen. Dann sind wir die Geliebte und dieser Freund.

Böttiger: Mandelstam benennt den Gesprächspartner nie konkret. Im Fortgang wird immer deutlicher, dass der Leser in der Nachwelt vor allem eine Projektionsfläche des lyrischen Ich ist. Das Einzige, was uns dem Gesprächspartner in die Arme treibt, so heißt es einmal, ist der Wunsch, über die eigenen Worte zu staunen.

Grünbein: Ich glaube wirklich, dass es ihm darum geht, in Zeit und Raum so weit wie möglich voranzukommen, und zwar nach beiden Richtungen. Deshalb spielt bei ihm nicht nur die Nachwelt eine Rolle, sondern auch die Vorwelt. Natürlich bleibt die Vergangenheit der vergebliche Teil. Jeder weiß, dass seine Botschaft ihren Vorgänger, sei es Dante oder sei es Ovid, nie mehr erreichen wird. Aber in jedem Fall geht es darum, ein Maximum an Distanz in Zeit und Raum zurückzulegen.
Mandelstam versucht, eine Art mathematisches Gesetz aufzustellen: die Lust, sich mitzuteilen, sei umgekehrt proportional zu unserer realen Kenntnis des Gesprächspartners und direkt proportional zum Wunsch, sein Interesse an uns zu wecken. Das ist übrigens das Gesetz der Verführung. Selbst im einfachsten Flirt funktioniert es genau so. Man muss vom anderen, den man erobern will, erst einmal begreifen, dass er vollkommen fremd ist, eingesponnen in seine eigene Welt. Man kennt diese Welt nicht, setzt aber voraus, dass es eine um Lichtjahre entfernte, eigenständige, faszinierende Welt ist. In dem Moment aber, da man signalisiert: ich kenne dich du, Leser oder Lebenspartner, lässt die Spannkraft sofort nach und das Gedicht bricht zusammen genau so wie die Beziehung.

Böttiger: Harold Bloom meint, dass das Schreiben des starken Dichters von „Einflussangst“ geprägt sei, während die ersten Schreibversuche sich eindeutig auf Vorbilder beziehen. Bloom definiert den Fortschritt in der literarischen Produktion dadurch, dass diese Anfänge, diese Beeinflussbarkeit radikal weggewischt werden.

Grünbein: Die meisten Menschen haben eine Phase, in der sie Gedichte schreiben. Meistens in der Pubertät. Es ist offenbar die Phase, wo keiner sie mehr versteht. Bis sie es wieder geschafft haben, sich in die Gemeinschaft einzugliedern, einen Beruf auszuüben und sich als Person zu stabilisieren. In diesem Moment verschwindet jene narzisstische Intimität, die das Gedicht festhält. Der forcierte Ausdruck, man denke an Hölderlin oder Celan, ist immer das Resultat eines gewissen Autismus. Dieses Dilemma zu überwinden, daraus ein lebenslanges Spiel mit wirklicher Berechtigung zu machen, darum geht es Osip Mandelstam. Er sagte: die Poesie ist das Bewußtsein ihrer Berechtigung zu sprechen. Das heißt: Dieses Selbstbewußtsein muss man erst einmal haben. Woher das kommt, kann keiner erklären. Bis heute ist dieser Punkt ungeklärt. Der eine hat es und der andere nicht. So ist die Wurzel der Poesie wie die jeder anderen Kunst reine Willkür, ein Übermaß an Mitteilungsbedürfnis, der Drang zu öffentlicher Separation bei gleichzeitiger Gesprächsbereitschaft, bereit zum Gespräch mit allen, die mitreden wollen. Wie jemand, der sich der eigenen Sache zuwendet, sobald ihm klar wird, dass die aller anderen ihn kalt lässt oder ihn so sehr betrifft, dass er sich in aller Stille darauf konzentrieren muss.

Böttiger: Mandelstam trifft die schöne Unterscheidung zwischen Dichter auf der einen Seite und Literat oder Publizist auf der anderen.

Grünbein: Auch Mandelstam hat natürlich Texte geschrieben, die deutlich publizistischen Charakter haben. Aber es muss noch etwas darüber hinaus geben. Und das ist heute, wo jeder irgendwie schreibt und veröffentlicht, aktueller denn je. Heute ist ja das Schreiben der meisten Schriftsteller infolge des Überflusses an Zeitschriften und Magazinen publizistisch geprägt, eingebunden in die große Maschinerie der Medien. Ganz gleich, ob sie sich nun als Reiseschriftsteller, als Feuilletonlieferanten oder als politisch engagierte Autoren in der Tagespresse betätigen. Die schrecklichste Anekdote dazu kommt wie so oft von Baudelaire. Eines Tages sieht er im Caféhaus die ersten großformatigen Zeitungen. Er sieht genau, was geschieht. Die Leute legen ihre Bücher beiseite und stecken ihre Nasen in diese frischen, druckschwarzen Seiten. Verstört eilt er nach Hause, fest entschlossen, sich umzubringen. Er glaubte, dies sei das Ende der Literatur. Glücklicherweise kann ihn ein Freund von seinem Vorhaben abbringen. Später hat er, wie alle anderen Dichter bis zum heutigen Tag, seine Arbeiten an die Redaktionen geschickt und in der Tagespresse veröffentlicht. Indem er den Feind umarmte, hat er die Krise überlebt und ist zum modernen Dichter geworden, so wie Benjamin ihn beschrieben hat. Dennoch ist jene Position, um die Mandelstam ringt, nämlich die des unabhängig Sprechenden, ins Offene Adressierenden, derzeit die allerschwächste. Im Medienzeitalter sind die Dichter in der Diaspora. Sie strecken sich nach der Decke, aber die wenigsten sind glücklich dabei. Wer stark genug ist, begreift es als Kriegserklärung, als Ansporn zu Strategie und Taktik. Am Ende wird ihm auch das noch zum Stoff. Er verschwindet aber wie alle natürlichen Ressourcen immer mehr.

Böttiger: Mandelstam spricht in seinem Essay, wenn er diese Ressourcen genauer zu fassen versucht, von Dichtern, die heute völlig vergessen sind. Er zieht sie als Beispiele dafür heran, was Dichtung ausmacht, aber wir kennen diese Beispiele nicht mehr. Was uns interessiert, ist der essayistische Text von Mandelstam. Was bleibt, ist nicht die Dichtung, sondern der Essay dazu.

Grünbein: Das muss kein Widerspruch sein. Der Essay hat eine absolute Schlüsselfunktion bekommen in der modernen Poesie, auch für das Werk von Mandelstam. Er steht am Beginn einer Klärung, die es von Zeit zu Zeit im Schreibprozess immer geben muss. Während er Bücher rezensierte und Essays zur Poetologie und zum Einfluss der Naturwissenschaften auf sein Schreiben verfasste, entstanden parallel dazu alle die großartigen Gedichte aus den Sammlungen „Der Stein“, „Tristia“ und aus den „Moskauer Heften“. In ihnen kommt all die essayistische Gedankenarbeit zu sich selbst, die Theorie wird im Metrum gebannt, sie gibt den Grundriss der Zeilen ab. Die Formel dafür lautet: Philosophie in Metren, Gedankensprünge von Wort zu Ding.

Böttiger: Ein Bild dieses Essays hat sehr viele Kreise gezogen: das Bild, die Dichtung sei eine „Flaschenpost“. Es wird im 20. Jahrhundert immer wieder zitiert werden. Auch Celan hat sich an einer zentralen poetologischen Stelle auf diese „Flaschenpost“ berufen – allerdings in einer Weise, die etwas sehr zuspitzt, was bei Mandelstam wohl auch angelegt ist. Bei Celan liegt der Akzent darauf, dass die Flaschenpost in einer existenziell eigentlich ausweglosen Situation aufgegeben wird. Die Formulierung bei Mandelstam dagegen heißt: „im kritischen Augenblick“. Das wirkt um einiges weiter gefasst.

Grünbein: Mandelstam hatte, wie wir wissen, ein offizielles Publikationsverbot. Für Dichter wie ihn gab es irgendwann einfach kein Papier mehr. Der Staat lehnte es ab, ihn zu drucken, und es gab nur noch staatliche Verlage, so einfach war das. Dann schrieb er das bekannte Epigramm gegen Stalin, und damit war nicht nur seine Dichterexistenz, sondern auch sein Leben in Gefahr.
Wir wissen, wie dieses ungleiche Duell ausging. Ein Duell war es insofern, als Stalin genau wusste, wen er da für vogelfrei erklärte. Pasternak hat es ihm im Telefongespräch vorbuchstabiert: einen Meister. Sozusagen einen poetischen Facharbeiter. Das wiegt umso schwerer, als es im Bolschewismus durchaus die Vorstellung vom Spezialisten gab. Doch dieser besonders begabte Spezialist ließ sich einfach nicht in Dienst nehmen für die Absichten der Sowjetmacht. Darin liegt seine einzigartige Leistung. Er war ein Emigrant im eigenen Land, eine Waise im Allunionsmaßstab, wie Joseph Brodsky gesagt hat, sein treuester Schüler. Was immer er schrieb, konnte nurmehr Flaschenpost sein, eine Botschaft an Unbekannt, ohne Hoffnung auf Ankunft aufgegeben und nur noch mündlich weitergereicht, dank des guten Gedächtnisses seiner Freunde und der Lebensgefährtin Nadeshda Mandelstam. Das Interessante ist, dass er 1913 exakt die Situation beschreibt, in die er dann in den dreißiger Jahren gerät. Aus ganz anderen Gründen ist Paul Celan in eine ähnlich radikale Isolation geraten. Zwar hatte er als deutsch-schreibender Jude in Paris, Überlebender der Vernichtung, keine Schwierigkeiten, zu publizieren, aber aufgrund seiner Lebensgeschichte und infolge der Geschichte des 20. Jahrhunderts fühlte er sich wie am verlorenen Ufer ausgesetzt, ein neuer Robinson, der seine Gedichte nur noch als Flaschenpost aufgeben konnte. Seine Tragik war, dass der Adressat seiner Zeilen nie mehr auferstehen würde, weil er für die einen bloß noch Rauch war, intimer Hauch, und für die anderen ganz einfach Luft. Celan hat gewusst, dass der Mensch, zu dem er noch hätte sprechen können, nie mehr wiederkehrt.
Das frühe Auftauchen der Flaschenpost-Metapher bei Mandelstam erkläre ich mir damit, dass er unter anderem ein Leser von Abenteurerliteratur war. Hinter dem Bild der Flaschenpost steckt das Bild Robinsons. Und das ist für die europäische Kultur ja ganz wichtig geworden: der aus der Zivilisation herausgesprengte Einzelne, der auf seiner Insel gelandet ist und nun die Trümmer der Zivilisation um sich sammelt und ein Überleben versucht. Ihm bleibt nur, eine Flaschenpost aufzugeben, sie ins offene Meer zu schleudern, eine Botschaft nach draußen, an die in der Ferne lebende, zivilisierte Welt. Bei Mandelstam wird dieser Umstand zum Theorem. Immer wieder spricht er von seiner Sehnsucht nach Weltkultur, eine Formel, die nachher für viele der Eingeschlossenen im sozialistischen Block zum letzten Halt wird. Bei Mandelstam taucht dieser Gedanke seltsamerweise schon sehr früh auf, kurz nach der Oktoberrevolution, als von Verfolgung und kollektiver Geiselhaft noch gar keine Rede war.

Böttiger: Was verstehen Sie unter dem „kritischen Augenblick“?

Grünbein: Eine schockhafte Erfahrung, die nicht mehr unmittelbar und vor allem nicht im munteren Plauderton weitergegeben werden kann. Also adressiert man sie an die Ferne, an einen, der erst noch geboren wird, wie es bei Kleist heißt. Der kritische Augenblick ist offenbar eine Erfahrung der Einzigartigkeit der eigenen Lebenssituation. Er kann selbst in einer freien Gesellschaft auftauchen: wenn man sich allgemein von Langeweile und Geschwätz umzingelt fühlt, etwa in einer vollkommen medialisierten Welt. Eine Wahrnehmung, die eines Tages spät um Mitternacht auftaucht, kann urplötzlich zu dieser schockhaften Einsicht führen. Und dann ist der kritische Augenblick genau dieses Gefühl absoluter Einsamkeit. Der kritische Augenblick tritt übrigens erst auf, wenn die Gesellschaft in der Krise ist. Natürlich hat ein Götterliebling wie Goethe den kritischen Augenblick so nicht gekannt.

Böttiger: Damit sind wir in der Zwickmühle zwischen Dichtung und Gesellschaft.

Grünbein: Der späte Goethe hatte wohl eine Ahnung davon. Besucher der letzten Jahre haben da einen leicht resignativen Ton heraushören wollen, ein Gefühl der Vergeblichkeit, auch wenn er noch immer meinte, der Sinn seines Lebens sei der Triumph des Reinmenschlichen gewesen. Noch immer war ihm Erregung das beste Mittel gegen jegliche Depression. Tapfer kämpfte er an gegen die Negationen des Lebens. Seine Worte: „Den Tod aber statuiere ich nicht.“ Und doch ist der zweite Teil des Faust eine einzige Anklage der Geschichte mit ihrer Tendenz zu Beschleunigung und Verschrottung. Plötzlich steht der Mensch da als Feind des Menschlichen, der veloziferische Typus, und er verurteilt die Übereilung des Verstandes, der die Phänomene gerne loswerden möchte. Er erschrickt vor sich selbst und ahnt die Krise, in die die moderne Menschengemeinschaft geraten könnte. Da auf einmal wird ihm klar: Ich teile hier Dinge mit, die derart monströs sind und radikal, dass ich nicht erwarten kann, dass auch nur irgendeiner meiner mitlesenden Zeitgenossen, bis hinauf zu den gebildeten Ständen, mich noch versteht. Deshalb versiegelt er sein Produkt und gibt den zweiten Teil des „Faust“ als Flaschenpost an die Zukunft auf.

Böttiger: Da fängt also die Moderne an: beim Adressieren an eine unbekannte Nachwelt.

Grünbein: Mit etwas Übertreibung könnte man sagen: Mehr als 2000 Jahre lang war Literatur ein Spiel, das nach den Regeln der Immanenz funktionierte, als hochartifizielle Botschaft, die in geschlossenen Kreisen zirkulierte, auch wenn in jedem guten Text ein Fünkchen Transzendenz steckt, das heißt, ein Überschuss an Universalität, der aus der Horizontalen hinausdrängt ins Vertikale, ein Signal an alle und keinen. Zumeist jedoch schrieb und adressierte der Dichter an seinesgleichen oder an die Ansprechpartner der Macht, an die Eliten, die offiziellen Vertreter der Kultur. Erst mit der Aufkündigung dieses Bundes, von welcher Seite auch immer, wird es brisant. Das Wort mag seinen Ort bewahren, seine Herkunft, aber es verliert seinen Orientierungssinn, seinen gesellschaftlichen Vektor. Das ist ein Verlust zugleich und ein Gewinn. Hier eben zeigt sich der Sprung in die Literatur der Moderne. Sie macht uns, zum ersten Mal vielleicht, zu souveränen Lesern. Indem sie uns, jeden Einzelnen, in der Vereinzelung anspricht, erlaubt sie, dass jeder Einzelne aus dieser Vereinzelung heraus sich gemeint fühlt und die gesamten Botschaften der Weltliteratur empfängt. Man könnte den Begriff der Moderne auch umkehren und sagen: In dem Maß, wie sie über das Ziel hinausschießt, gab es immer schon moderne Literatur. Sie tritt auf, wo immer die unmittelbaren Empfänger, die Kriegergemeinschaft, das Personal bei Hof, das gebildete Publikum übersprungen wird und das Wort autonom wird und sich ins Dickicht der Einsamkeit schlägt. Schreiben, ohne zu wissen, ob und bei wem es ankomme, ist die Grundbedingung jeder modernen Literatur von Kallimachos bis Kafka.

Böttiger: Es gibt Selbstzeugnisse von Schriftstellern, die ungefähr demselben Wahrnehmungsbereich entstammen wie die Mandelstams, aber ganz anders mit dem Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein umgehen. Der große Gegenpol ist Gottfried Benn, mit seiner dezidiert „monologischen Lyrik“. Ist Benn angesichts der beschriebenen Situation nicht konsequenter und radikaler?

Grünbein: Mandelstam sagt an einer Stelle, dass die Stimme oder das Sprechen selbst zum Ereignis wird. Er betont den Ereignischarakter der poetischen Sprache, und das ist etwas absolut Modernes. Doch worin besteht das Ereignis? Es zeigt sich im Unerwarteten, darin, dass das, was jetzt und hier gesagt wird, zum ersten Mal so gesagt wird, als absolut Subjektives. Einer der radikalen Schlüsse daraus ist die Lyrik als Monolog, wenn man so will eine Schwundstufe, die Reduktion aller Metaphysik auf den Einzigen und sein Eigentum, im schlimmsten Fall also der reine Solipsismus. Es gibt in der Dichtung des späten 19. Jahrhunderts die Tendenz zum Kristallinen und Skulpturalen der Wortgebilde. Aus der Einschließung der Welt ins Subjekt resultiert die Mimikry ans Anorganische. Das Wort will Materie werden und sonst nichts. Das gelingt aber immer nur momentweise, unter Aufgabe des Bewusstseins. Denn immer wieder mischt sich das Ich ein, das Apriorische des Lebens, die Fehlerhaftigkeit des Individuums und zuletzt bricht noch immer die historische Zeit in den Text ein. Auch der Körper des Autors fordert seinen Tribut, das Tierische, das einer wie Ernst Cassirer mit dem Begriff der emotionalen Sprache verbindet im Gegensatz zur präpositionalen Sprache des Menschen. Die Schönheit gewisser Gedichte rührt daher, dass sie wie Skulpturen im Ideenraum stehen, der Leser kann sie von allen Seiten betrachten und bleibt mit seinen alltäglichen Gefühlen und Gedanken außen vor. Ihre Oberfläche ist so sehr verdichtet und abgeschlossen, dass das Gedicht zum schönen Fremdkörper wird wie bei manchen der Symbolisten. Benn hat, soweit ich weiß, den Dialog niemals ganz aufgekündigt, auch wenn nicht immer klar ist, mit wem er da spricht.

Böttiger: Genau darin liegt aber der Unterschied.

Grünbein: William Carlos Williams sagt: The poem is the item. Das Gedicht ist ein Gegenstand. Dies kann ein Kunstobjekt sein, es kann aber auch ein ganz praktischer Gegenstand sein, eine Gießkanne oder ein Faustkeil, ein Werkzeug, das man in der Hand wiegt. Darin liegt einer der großen Unterschiede: entweder ist es Artefakt im Sinne der Archäologie oder Angebot zum Dialog, entweder verbales Objekt, reines Klanggebilde oder Gedankenspur, wörtliche Rede, die das Gespräch in Gang hält oder als Droge und Schmerzmittel Anwendung findet. Zumindest Mandelstam hat bis zuletzt den Dialog gesucht, das Gespräch mit den Lebenden und den Toten. Sein Vers lauscht ins Körperinnere und sucht den Kontakt zur Außenwelt. Noch aus der innersten Verbannung und Isolierung heraus hielt er Zwiesprache. Und dann kommt einer wie Benn, desillusioniert bis in die Knochen und zieht sich mit seinen Versen ins Private zurück. Eines Tages wird das Gedicht zum Splitter im Fleisch der Gesellschaft, etwas für Ärzte und Spezialisten. Es lässt sich dann nur noch operativ entfernen, aber aufheben und ins Gespräch verstricken lässt es sich nicht.

Böttiger: Eine Ästhetik der Kälte.

Grünbein: So lautet die Formel. Es ist doch merkwürdig, kein einziges Mandelstam-Gedicht ist jemals kalt. Und das liegt nicht nur an der Stallwärme des Russischen, an dieser kindlichen Klugheit.
Das Bennsche Gedicht, das statische Gedicht, bettelt nicht um Gefühle, es ist derart abgeschlossen dass es den Leser tatsächlich nicht mehr braucht. Der Dichter scheidet lauter Nierensteine aus; und die kann man dann in die Vitrine stellen und künstlich beleuchten. Aber man kann sich nicht mehr an ihnen wärmen. Man kann sie nur noch wie Fetische mit sich herumtragen. Es gab eine ganze Generation, die mit Benn-Gedichten durchs Leben ging und offenbar genug Lebensmut aus der Lektüre geschöpft hat. Vielleicht aber auch nur geheimen Hochmut. Oder den Stolz der Selbstüberwindung, denn davon handeln die meisten seiner Gedichte.

Böttiger: Sie selbst wurden früh als Bennscher „Hirnhund“ bezeichnet. Man kann in Ihren Gedichten durchaus Anknüpfungspunkte sehen.

Grünbein: Die Mandelstamsche Position ist mir von Anfang an viel näher gewesen. Bis heute geht mir das tapfere Gemurmel dieses intelligenten Weltkindes nach. Mandelstam spricht tatsächlich aus der Mitte des Universums, so wie Goethe es sich erträumt hat. Bei ihm wird alles beseelt. Ich weiß nicht, was Benn gemeint hat, als er vom Nüssebewispern sprach. Mandelstam jedenfalls bewispert seine Umwelt, alle die kleinen und großen Dinge in Natur und Gesellschaft, vom Grashalm übers Telefon bis hin zur stattlichsten Architektur. Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut.

Böttiger: Ist die Haltung Benns nicht suggestiver?

Grünbein: Suggestiv für die Erkälteten, die im Frost Erstarrten. Es ist alles eine Frage der Temperatur und des Temperaments. Man kann den Lemuren Gute Nacht sagen und mit den Reptilien aufstehen, und man kann in den Steinen eines Gebäudes noch die Hände der Erbauer spüren und ihren Atem.

Böttiger: Das entspricht doch durchaus einer gesellschaftlichen Situation, einer Erfahrung.

Grünbein: So ist es. Das gehört zu den Verhaltenslehren der Kälte, wie die Meister der Neuen Sachlichkeit sagen würden, eine sehr deutsche Haltung. Ich glaube, dass Benn in die Falle ging mit seinem martialischen „Erkenne  die Lage“. Für eine Gesellschaft der Kälte und der Entfremdung ist Zynismus die angemessene Reaktion. Es geht immer darum: Soll man dem Gegenstand ähnlich werden und ihm die kalte Schulter zeigen oder soll man sich ihm anschmiegen und ihn beseelen, selbst wenn man dabei zugrunde geht.

Böttiger: Während bei Mandelstam sogar die Utopie einer besseren Gesellschaft im Hintergrund aufscheint.

Grünbein: Benn weiß, dass das Spiel vorbei ist. Seine Schreibsituation ist die des Rien ne va plus.

Böttiger: Ist das nicht realistischer als die Utopie?

Grünbein: Benn geht davon aus, dass Ausbeutung eine Funktion des Lebendigen ist. Damit ist klar, dass es selbst in Lichtjahren keine andere Gesellschaft geben wird als eine der Ungleichheit und der Ausbeutung oder eben einseitiger Verwertung des Mehrwerts. Es wird immer Sklaven und Herren geben, und es wird immer Börsenmakler und Arbeitslose geben. Die im Glanz, in den prächtigen Villen, und die da unten, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, wie Hofmannsthal sagt, die in den Straßen verkommen unter ihren verlausten Decken.

Böttiger: Manche freilich müssen drunten sterben.

Grünbein: Ja, es ist diese tödliche Ahnung. Benn führt vor, wie man schreibt, wenn man weiß: Es wird nie Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und damit Wärme geben. Es gibt immer nur das, was wir seit Jahrhunderten erleben, den fortgesetzten Alptraum. Wer so denkt, braucht keinen Gesprächspartner. Was bleibt, ist die Sehnsucht, haltbare Wortgebilde zu schaffen: das Gedicht als funkelndes Meteoritenstück, das da draußen im kalten All herumfliegt und aus den Bullaugenfenstern der Raumschiffe betrachtet werden kann.

Böttiger: ln den sechziger, siebziger Jahren im Westen, als Gleichheitsgedanken und utopische Ideale das tägliche Brot waren, galt Benn als persona non grata. Heute scheint es so, als hätte er die letzten Wahrheiten verkündet. Damit verglichen wirkt Mandelstams Suche ziemlich entrückt.

Grünbein: Erledigt hat sich beides nicht. Wahrscheinlich ist das eine wie das andere gleich wahrhaftig und gleich real. Denn die Gesellschaft kann so kalt werden wie sie will, allein durch den biologischen Reproduktionsprozess reproduziert sich immer wieder erneut die Sehnsucht nach einer Besserung. Man könnte sagen, leider ist Benns Position im Moment realistischer. Bis heute ist sie wahrscheinlich die letztgültige Durchsage. Obwohl – wir reden jetzt vor allen Dingen immer von dem Benn der statischen Gedichte.
Wir reden nicht über den Benn, den es auch gab – und daran zeigt sich schon, dass so etwas zumindest innerhalb eines Menschenlebens nie absolut zu betreiben ist – den Benn, der immer wieder bis fast zum Kitsch Sehnsuchtsimpulse aussendet, geradezu Schlager produziert, gewissermaßen zur Kompensation der ungestillten, verwundeten Seele. Es sind übrigens oft gerade diese Gedichte die Schule gemacht haben. Jede neue Enttäuschung gebiert das Verlangen nach sofortiger Illusion. Von diesem Teufelskreis lebt die ganze Unterhaltungsindustrie.

Böttiger: Die monologische Lyrik steht ja am Ende des Bennschen Lebens und ist wohl so eine Art conclusio. Aber gerade in dieser Zeit, als er die monologische Lyrik theoretisch formuliert, schreibt er auch jene Gedichte, die sich lustvoll dem Kitsch annähern. Da muss es einen Zusammenhang geben.

Grünbein: Das könnte man auch am Beispiel Hofmannsthals zeigen. In Überwindung der Krise, wie sie im Brief des Lord Chandos zum Ausdruck kommt, hört er auf, Gedichte zu schreiben und beliefert die Operette mit schwungvollen Libretti, mit diesem Leichten, das so schwer zu machen ist. Er war einer der klügsten und talentiertesten Dichter der österreichischen Moderne. Sehenden Auges desertiert er aus der Einzelzelle der Lyrik ins Opernhaus und versorgt sein bürgerliches Publikum, den Rest der versprengten Hofgesellschaft mit dem Traumstoff der leichten Muse. Genau da liegt auch die Ursache dessen, was Sie den Bennschen Kitsch nennen, jenes Element von schlagerseliger Versöhnung das einer wie Rühmkorf mit den Zeilen verspottet: „Die schönsten Verse der Menschen / Sind die Gottfried Bennschen“. Die Übermacht der enttäuschten Träume steigert das Verlangen nach dem Rauschgift der Poesie ins Unermessliche. Was die Begehrensstruktur des Kapitalismus betrifft, so ist es noch immer dasselbe Lied. Je härter die Verhältnisse, je trostloser und kälter, umso mehr Rauschgift wird gebraucht, um den permanenten Druck auszuhalten. So wird der Lyriker schließlich zum Rauschgiftdealer.

Böttiger: Da greift Benn auch theoretisch ein bisschen kurz.

Grünbein: Man könnte radikal gegen Benn fragen: Warum noch schreiben? Weil – und jetzt kommt eben der utopische Überschuss – offenbar das Leben des Einzelnen immer noch größer und vielgestaltiger ist als die Megäre Gesellschaft. Das heißt, wenn einer wie Benn nach Feierabend die Tür der Arztpraxis schloss, konnte er aus der Schublade mit den Rezepten endlich das Notizbuch hervorziehen und anfangen, seine Gedichte zu schreiben. Nachdem der letzte Patient gegangen war, blieb nurmehr der Arzt zurück, der im Selbstversuch weitermachte. „Ärzte im Selbstversuch“ hieß eins meiner Lieblingssachbücher damals im Osten. Da wurden die heroischen Experimente beschrieben, mit denen die Pioniere der Zunft an der Vermehrung des medizinischen Wissens arbeiteten, oft unter Aufgabe der eigenen Gesundheit. Sie spritzten sich irgendein neues Serum oder schnitten sich beherzt ins eigene Fleisch. Manche operierten tatsächlich bei vollem Bewusstsein an ihren Eingeweiden. Ein solcher Arzt im Selbstversuch war für mich immer der große Benn. Jeden Versuch, ihn lächerlich zu machen oder seine Leistung für die deutsche Poesie in Abrede zu stellen, muss ich entschieden zurückweisen. Benn war auf seine Weise genauso mutig und wegweisend wie einer dieser verrückten Selbstverstümmler, die mit ihren Versuchen der Menschheit dienten. Allein darum, weil er den Vers-Trieb, das Prozessieren gegen sich selbst nie unterdrückt hat, bleibt dieser Mann ein Vorbild für alle Zeiten. Alle seine Selbstauskünfte deuten darauf hin, dass er nicht restlos erklären konnte, warum dieser Trieb, in lyrischen Mustern und Formen sich auszudrücken, in ihm wachblieb. Er war Theoretiker genug, dem Geheimnis immer wieder zu Leibe zu rücken. Natürlich ging das nur mit fixen Ideen. So gibt es bei ihm die Vorstellung eines zoologischen und geografischen Hintergrundes der Poesie. So sah er sich innerlich ausgerichtet nach Süden. Ganze Wortfelder sah er geordnet durch einen besonderen psychischen Komplex. Es beschäftigte ihn, warum die Phantasie sich ausgerechnet an einem Wort wie „blau“ entzündete oder an einem Strauß Astern in einer Vase. Solcherlei unwillkürliche Auslöser gibt es in der Diktatur genauso wie in einer vollkommen rationalen Gesellschaft, in der von der Wiege bis zum Grab alles bürokratisch geregelt ist. Es sind die Reste eines Überhangs von Natur, der als Wortmagie wiederkehrt. Benn ist trotz aller gegenteiligen Beteuerungen immer noch der Romantiker, der den Mund einfach nicht halten kann.

Böttiger: Aber er zwingt sich auffällig dazu, die Lyrik als monologisch und vergeblich zu entwerfen.

Grünbein: in denselben Moment, in dem er mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen will, muss er das denunzieren. Er denunziert seine eigenen Gedichte, aber er tut das so offensichtlich, dass man die Dialektik heraushört.

Böttiger: Es läuft also darauf hinaus, dass bei den scheinbar unvereinbaren Gegenpositionen von Mandelstam und Benn der Ausgangspunkt doch derselbe Impuls ist.

Grünbein: Unter anderem deshalb, weil der Grundwiderspruch des Einzelnen zur Gesellschaft nie aufzuheben ist. Lyrik bleibt, was sie ist, ein Brückenbau. Und da ist noch etwas, das sich nicht einfach auflösen lässt. Mandelstam hat es in seinem Essay über Dante zu formulieren versucht. Mit dem Dichter der Göttlichen Komödie verschieben sich ein für allemal die Koordinaten des Schreibprozesses. Bei ihm wird das dialogische Prinzip zur inhärenten Formel. Alles wird hier durchs Prisma der Mitteilung gebrochen. Der Dichter selbst ist ganz Ohr für die vielen, widerstreitenden Stimmen, er lauscht den Verdammten und den Erlösten, und er lässt sich an die Hand nehmen von einem der ihm voraus ging, der größer und weiser ist als er selbst. Vergil zeigt ihm die Reiche der Welt. Er wird, blasphemisch genug, zum Apostel der Höllenreise, die natürlich nur scheinbar unter die Erde geht. In Wirklichkeit ist es der Gang durch ein posthumes Diesseits. Erst am Fuße des Läuterungsberges verlässt der Lehrer den Schüler, und später nimmt ihn die tote Geliebte in Empfang, Beatrice, und zeigt ihm das schlechthin Unbekannte, das Paradies. In allem jedoch wirkt das Zwiegespräch. Es bringt im Langgedicht, im Poem, die dramatische Form zum Vorschein. Die göttliche Komödie wird zur Inszenierung des Dialogs eines christlichen Dichters mit einem heidnischen Kollegen. Der Leser wird hier zum eingeschlossenen Dritten, indem er dem Dialog zweier großer Gestalten der Weltliteratur lauscht.

Böttiger: Da fällt es schon extrem schwer, eine Gemeinsamkeit mit Benn herauszudestillieren!

Grünbein: Einer wie Benn hätte ein großes Epos des 20. Jahrhunderts schreiben können, wäre er wie T.S. Eliot durch die jüngste Höllenlandschaft gegangen, wie dieser im Schlepptau Dantes. Das heißt, die Grundsituation des literarisch inszenierten Gesprächs hat sich überhaupt nicht verändert. Es wäre doch vorstellbar, dass Benn Dante zum Kronzeugen der christlichen Kultur genommen hätte (mit einer Verbeugung vor Nietzsche), im Gespräch mit ihm, beim Spaziergang durch die verwüstete Welt der Moderne versucht hätte, sein pessimistisches Weltbild zu entwickeln. Rein theoretisch, literaturtheoretisch wäre das möglich gewesen.

Böttiger: Benn hat sich aber halt doch dazu entschieden, als Einzelkämpfer durch die Linien zu kommen.

Grünbein: Das ist eine Frage der Ausdauer. Im 20. Jahrhundert wird selbst das apokalyptische Denken zusehends kurzatmiger. Wir befinden uns heute in einer seltsamen Synthesephase. Scheinbar lässt sich das alles, und zwar von jedem Dichter, immer nur in Bruchstücken darstellen, immer auf dem Sprung vor der nächsten Katastrophe. Mit einem Mal gerät die eine Zeile antik und beschwört einen neuen noch unbekannten Polytheismus, hinter dem sich der elan vital versteckt, und schon die nächste ist wieder einem einzelnen Gott verpflichtet oder gibt sich aufgeklärt und moralisch, während die dritte Zeile bereits einen radikalen Atheismus predigt. So geht es immer munter weiter, im Karussell herum.

Böttiger: Und Mandelstam und Benn werden postmodern mitgeschleift.

Grünbein: Ich hoffe doch, dass die Zukunft Mandelstam gehört und nicht Benn.

Böttiger: Wie vage ist diese Hoffnung?

Grünbein: Entwerfen wir doch mal ein imaginäres Epos der Zukunft. Da würde Benn spätestens im fünften oder sechsten Gesang in der Hölle der Monologisten schmoren. Beckett hat diese Position in der Figur des Belaqua, die wiederum Dante entlehnt ist, genau beschrieben. Dieser Belaqua ist ein Wesen, das in einer Felsnische hockt. Selbstzufrieden, genügsam im Mangel und abgeschlossen vom Rest der anderen dämmert er in der Hölle sehr philosophisch vor sich hin. Das wäre dann die Bennsche Position. Benn ließe sich in der Rolle des Belaqua porträtieren. Es wäre ein Scherenschnitt, wie ihn die Goethezeit liebte.

Böttiger: Und wo würde man in dem imaginären Epos Mandelstam finden?

Grünbein: Mandelstam ist immerfort unterwegs. Er hat recht bald die Hölle durchquert. Nun hängt er irgendwo auf dem Läuterungsberg fest und blickt hinaus oder voraus in die Welt des Paradieses. Denn das Paradies ist der Horizont aller Dialoge. Entgegen der landläufigen Meinung wird die Flaschenpost schließlich nicht aus dem Meer gefischt, sondern aus dem gemeinsamen Himmel.

Aus: TEXT+KRITIK: Durs Grünbein – Heft 153, edition text + kritik, Januar 2002

Mandstam. Meine Zeit, mein Tier

9
Nachtigallenfieber
(Petrograd/Krim/Moskau 1917–1918) 

Die Februarrevolution 1917 in Petrograd. Lynchmord in der Erzählung Die ägyptische Briefmarke. „Die kommenden Hinrichtungen hab ich geahnt.“ Der Dekabrist: ein Traum von Freiheit und Bürgerrechten. Juni 1917. Flucht auf die Krim. Asphodelen, „zärtliche Europäerinnen“ und Odysseus. Beschwörung „reiner Dauer“ und kultureller Kontinuität. Rückkehr nach Petrograd. Der Oktoberputsch der Bolschewiken. Gegen das „Joch von Bosheit und Gewalt“. November-Gedichte auf die „Verlierer der Revolution“. Der „junge Levit“ im Untergang Jerusalem-Petersburgs. „An Kassandra“: die Revolution als „Sieg mit abgeschnittenen Händen“. Ein Einzelner unter Wölfen. Winterliche Gespräche mit Achmatowa. Gedichtfieber gegen Gewehrsalven. Die Tscheka und der „Rote Terror“. Der russische Bürgerkrieg. März 1918: „Petropolis, dein Bruder, stirbt.“ Mai 1918: „Die Dämmerung der Freiheit“, Ambivalenz und „Pathos des Willens“. Beschimpfung der „Zoten-Hauptstadt“ Moskau. Juni 1918: Mandelstam in Lunatscharskijs Volkskommissariat für Bildungswesen. Zusammenstoß mit dem Tschekisten Bljumkin. Kein Frühstück mit Trotzkij. „Telephon“: Gedicht eines Selbstmörders. „Politische Depression“ und Beginn des „inneren Exils“. Inspiriert vom verbannten Ovid: das „Tristia“-Gedicht. Ein zyklisches Geschichtsbild. Der Essay „Staat und Rhythmus“. Ein Hellene unter barbarischem Himmel. Die Repression gegen Sozialrevolutionäre. Der Fluchtweg nach Süden.

Im Februar 1917 hungerte und fror die russische Bevölkerung. Jeden Tag kam es zu Unruhen und Streiks. Rußland war ein Land im Krieg: gegen außen, wo der Weltkrieg weitertobte, und gegen innen. Die hungernden Arbeiter wollten Brot, die erschöpften Soldaten forderten das Ende des Krieges. Die Frauendemonstrationen des 23. Februar beschleunigten das Ende der Zarenherrschaft. Am 25. Februar gab Nikolaj II. den Befehl, die Unruhen mit allen Mitteln zu unterdrücken, und beging denselben Fehler wie am „Blutsonntag“ des Jahres 1905. In der Nacht zum 27. Februar meuterte die Petrograder Garnison und machte mit den demonstrierenden Arbeitern gemeinsame Sache. Der politische Druck von unten nahm immer mehr zu. Schließlich wurde die Provisorische Regierung unter dem Fürsten Lwow gebildet: Der Zar mußte am 2. März die Abdankungsurkunde unterzeichnen. Rußland war für wenige Monate eine Republik, doch Ruhe und Ordnung lagen in weiter Ferne. Die Ereignisse waren nur der Beginn einer alles umfassenden Auflösung.
Diese Atmosphäre zwischen zwei Revolutionen wird Mandelstam in der Erzählung „Die ägyptische Briefmarke“ (1928) in einen Wirbelsturm von Bildern verwandeln. Es ist die Zeit der „Limonadenregierung“ (Das Rauschen der Zeit, S. 201), die hilflos zusieht, wie das Land im Chaos versinkt. Parnok, Mandelstams Antiheld und Alter ego, beobachtet in einer der Episoden eine aufgebrachte Menschenmenge und bemüht sich als einziger, sie von einem Lynchmord abzuhalten. Er versucht erfolglos, die Polizei zu rufen, den Staat zu alarmieren, doch „der Staat war verschwunden, schlief wie ein Karpfen“ (Das Rauschen der Zeit, S. 209). Die Zeitungen jener Zeit sind voll von Berichten über Lynchmorde und grausame Abrechnungen. Gewaltexzesse, Roheit und Verlust der Moral, die die allgemeine Auflösung begleiten, ekeln Parnok zutiefst:

Sie riechen wie aufgeblähte Därme, dachte Parnok, und unversehens fiel ihm das schreckliche Wort „Innereien“ ein. Es wurde ihm beinah schlecht (…) Petersburg hatte sich zum Nero ausgerufen und war so ekelhaft, als löffelte es eine Suppe aus zerdrückten Fliegenleibern. (Das Rauschen der Zeit, S. 205/209)

Mandelstam flieht im Juni aus dem gewalttätigen Petrograd wiederum auf die Krim, wo er die beiden vorangehenden Sommer verbracht hatte. In der Hauptstadt hielt ihn nichts mehr zurück. Sein Studium an der Universität war endgültig gescheitert, am 18. Mai 1917 bekam er eine Abgangsbescheinigung. Auf der Krim wollte er zu sich kommen, neue Kräfte sammeln, sein Leben überdenken. Im Januar 1931 wird er sich in einem Gedicht an jene Flucht erinnern:

Die kommenden Hinrichtungen hab ich geahnt. Vorm Gedröhne Floh ich zu den Nereiden, hin zum Schwarzen Meer… (Mitternacht in Moskau S. 47) 

Kurz vor der Abreise schrieb er im Juni 1917 ein politisches Gedicht: „Der Dekabrist“. Es war eine Besinnung auf den am 14. Dezember 1825 auf dem Petersburger Senatsplatz niedergeschlagenen Dekabristenaufstand gegen die Autokratie des Zaren. Die Anführer wurden gehenkt, die Mehrzahl der Aufständischen zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert. Das Gedicht beschwört den historischen Traum von der „süßen Freiheit der Bürgerrechte“. Abgedruckt wurde es nach dem Oktoberputsch der Bolschewiken am 24. Dezember 1917 in der Petrograder Zeitung Neues Leben. Mandelstam versuchte, die Zeitgenossen und das neue Regime an die hohen Ideale der Dekabristen zu erinnern. Kein Zufall, sondern bewußte Anknüpfung: Sein Gedicht entstand genau hundert Jahre nach Alexander Puschkins „Ode Freiheit“ (1817). Doch die „Bürgerrechte“ dürfen im Gedicht auf die Dekabristen nicht triumphieren, das Chaos wird noch lange herrschen, wie die Schlußstrophe (die Majakowskij mit Begeisterung rezitierte!) besagt:

Der große Wirrwarr kam, und wem es klagen –
Die Kälte wächst, gefroren sei
Der Wirrwarr jetzt, und schön, es herzusagen:
Rußland, Lethe, Lorelei.
(Tristia, S. 37)

Der Weltkrieg ging weiter. Zwischen Rußland und die deutsche Lorelei legte sich die Lethe, der Unterweltsfluß des Vergessens. Die Provisorische Regierung wollte die Fortsetzung des Krieges im Namen eines „revolutionären und nationalen Ehrgefühls“, doch die Kerenskij-Offensive vom 18. Juni 1917 wurde für die Russen ein Fiasko. Inzwischen organisierten die Bolschewiki in Petrograd Massendemonstrationen von Arbeitern und Soldaten.
Auf der Krim kriecht Mandelstam da und dort bei Petersburger Bekannten unter. Geld hat er keins. Zuerst fährt er nach Aluschta, am 22. Juni nach Koktebel (wiederum zu Woloschin), Ende Juli erneut nach Aluschta, dann folgt Feodossija bis zum September. Eine kleine Odyssee, doch Hauptsache: auf der geliebten Krim. Anfang August ist er in Aluschta auf der Datscha von Salomeja Andronikowa zu Gast, der Adressatin des „Solominka“-Gedichts von Dezember 1916. An Salomejas Namenstag am 3. August kommt es zur Aufführung einer von Sommergästen kollektiv verfaßten Scherzkomödie: Kaffeehaus der Gebrochenen Herzen, oder Savonarola auf Tauris. Mandelstam tritt als der naschhafte Dichter Don José della Tige d’Amande auf, in der pseudo-adeligen französischen Verballhornung seines Familiennamens als „Mandelstengel“ (Tige d’amande). Doch der Sommer bestand nicht nur aus Leichtsinnigkeiten.
Mandelstam schrieb am 11. und am 16. August zwei seiner schönsten Krim-Gedichte, Besinnungen auf den Tod, auf das Leben. Das spätere zuerst: Die Asphodele, die Lilie der Unterwelt, mit der laut der griechischen Mythologie der Hades besät ist, wird in einer magischen Beschwörung gebannt.

Noch weit entfernt die Asphodelen,
Ihr Frühjahr glashell-grau – noch weit.
Noch sind sie da, noch will nichts fehlen,
Der Sand, er knirscht, die Welle steigt.

Doch meine Seele, Persephone
Betritt jetzt ihren leichten Kreis,
Im Totenreich mußt du ganz ohne
Die sonngebräunten Arme sein.
(Tristia, S. 43) 

Das Motiv der sonnengebräunten Arme ist mit der Erinnerung an Marina Zwetajewa verknüpft, mit den Lockungen des Eros. In jenem Gedicht der Erinnerung von Januar 1931 wird nicht nur von „kommenden Hinrichtungen“ und von der Flucht ans Schwarze Meer die Rede sein, sondern auch von schönen Frauen:

Damals, die Frauen Europas, die zärtlichen Schönen –
Wieviel Verwirrung und Schmerz haben sie mich gelehrt!
(Mitternacht in Moskau, S. 47). 

Eine dieser „zärtlichen Europäerinnen“ war Wera Sudejkina, die schöne Frau des Malers Sergej Sudejkin, der die Decke des Petersburger Bohème-Tempels Streunender Hund ausgemalt hatte.1 Zu Gast in ihrer Datscha schrieb Mandelstam kurz vor dem 11. August 1917 eine zeitlos-klassische Ruhe verströmende Besinnung auf das Wesen der Zeit. Er beschwört einen Moment der „reinen Dauer“. Das gedehnte Versmaß, der antike Anapäst, besagt das ruhige Dahinfließen der Zeit, den Zeitstrom:

Schwere Fässer, die Tage, sie wälzen sich ruhig durchs Feld. (Tristia, S. 39)

Wera Sudejkina emigrierte nach der Revolution und wurde die zweite Ehefrau Igor Strawinskys. Mandelstams Besuch wird ihr im Gedächtnis bleiben, samt einem Gang mit dem Dichter zum Weinberg:

… mehr hatten wir ihm nicht zu zeigen. Und nichts, um ihn zu bewirten, außer Tee mit Honig. Ohne Brot. Aber das Gespräch war lebendig, nicht über Politik, sondern über Kunst, Literatur, Malerei… Am 11. August kam er wieder und brachte uns sein Gedicht mit.

Aus der Flasche ein Strom: wie der goldene Honig da floß
So gedehnt und so lang, daß die Hausherrin Zeit fand zu sprechen:
Auf das traurige Tauris verbracht, wie es das Schicksal beschloß,
Wird der Tag uns nie lang – und sie wandte den Kopf, tat es lächelnd.
(…)
Nach dem Tee gingen wir in den Garten, den riesigen, braunen,
An den Fenstern die Storen, die dunklen, wie Wimpern gesenkt,
An den Säulen vorbei gingen wir, sie zu sehen: die Trauben,
Und von luftigem Glas waren schläfrige Berge besprengt.

Und ich sagte: der Weinberg – er lebt, eine uralte Schlacht
Wo die lockigen Reiter sich schlagen in kräuselnder Ordnung.
Hier im steinigen Tauris ist Hellas, sein Wissen noch wach –
Diese vornehmen rostigen Beete, die Flächen, die goldnen.
(Tristia, S. 39) 

Der Honig, den die Hausherrin aus der Flasche strömen läßt, birgt antike Reminiszenzen, die Mandelstam faszinieren. Seit Platons Dialog Ion sind die Bienen und der Honig Sinnbilder für den Dichter und die Poesie. Honig war nicht nur das universale Heilmittel der antiken Medizin, sondern auch Sinnbild für den Übergang in eine andere Welt, Grabbeigabe, Opfergabe für Todesgöttinnen. Der Honig, die Trauben, der Weinberg (als Domäne des Gottes Dionysos) – all dies brachte Mandelstam die Gaben Griechenlands in Erinnerung, mythische, literarische. Penelope erscheint verhalten, die Gattin des Odysseus, ein Sinnbild der Treue und der Beständigkeit. Jason, der mit den Argonauten das Goldene Vlies aus Kolchis zurückzuholen hatte, erscheint ungenannt, nur in der Frage „Wo nur bist du, du Goldenes Vlies?“ Und schließlich der listenreiche Odysseus, erfüllt von Raum und Zeit. Keine Rede von einer Irrfahrt, sondern von einer Reifung in den Stürmen:

Und im Zimmer, dem weißen, da steht wie ein Spinnrad die Stille
Wo es duftet nach Essig, nach Farbe, nach frischestem Wein.
Und du denkst an die Griechin, im Haus die von allen geliebte,
Jene andre – nicht Helena – wie lange sie webte allein?

Wo nur bist du, du Goldenes Vlies, wo nur ist deine Heimat?
Schwere Wellen, die Reise war lang, nur das Rauschen, es bleibt,
Und den Schiffsbauch verlassend, die im Meer wundgeriebene Leinwand,
Kehrt Odysseus zurück, reich erfüllt nur vom Raum, von der Zeit.

Mandelstam schuf mit seinem Gedicht der reinen Dauer einen Kontrapunkt zum Umsturz der Zeit, der gerade im Gange war: Es war die Beschwörung einer abendländischen kulturellen Kontinuität. Der Tod und das Reich der Toten aber sind nicht nur im Asphodelen-Gedicht gegenwärtig, sondern auch im Odysseus-Gedicht, als verhaltene Bedrohung.2
Für die politischen Ereignisse fand Mandelstam sehr bald eigene Worte. Am 11. Oktober 1917 war er in Petrograd zurück. Die Agonie der Regierungs- und Staatsmacht dauerte fort, die Armee befand sich im Zustand der Auflösung, eine Polizei gab es nicht mehr. Der Provisorischen Regierung, seit dem 8. Juli unter dem Ministerpräsidenten Alexander Kerenskij, war es nicht gelungen, ihre Macht zu festigen, den Krieg zu beenden, die Unterstützung der Massen zu gewinnen. Am Vorabend von Mandelstams Rückkehr, dem 10. Oktober 1917, beschlossen die Bolschewiken in Petrograd auf einer Geheimsitzung des Zentralkomitees den bewaffneten Aufstand zur Machtübernahme. Als Termin war der 25. Oktober (7. November neuen Stils) vorgesehen, der Planer der Geschehnisse war Lew Trotzkij. Doch was später von den Bolschewiki als heroische Großtat dargestellt und von Regisseuren wie Eisenstein in seinem Jubiläumswerk Oktober (1927) zum 10. Jahrestag als „Sturm auf den Winterpalast“ filmisch aufgebauscht wurde, war in Wirklichkeit ein simpler, unspektakulärer Putsch. Trotzkij ließ rasch alle wichtigen Punkte der Stadt besetzen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Nur der von Kadetten und Frauensoldaten verteidigte Winterpalast, wo sich die Provisorische Regierung aufhielt, wurde erst einen Tag und eine Nacht später eingenommen.
Im Tagebuch der Dichterin Sinaida Gippius3 hat sich unter dem Datum des 27. Oktober eine Schilderung des „revolutionären“ Geschehens erhalten, die weit entfernt ist von späteren Propaganda-Inszenierungen:

Noch einmal kurz zum Winterpalast… Die Kadetten und Frauen verteidigten sich, so gut sie konnten, gegen die von hinten anrückenden Soldatenbanden (und machten sie nieder), bis die Minister sich entschlossen, dieser blutigen Sinnlosigkeit ein Ende zu setzen. Die Aufständischen waren ohnehin schon mit Hilfe von Verrätern in das Palastinnere eingedrungen… Sobald die Revolutionstruppen (…) den Palast überflutet hatten, begannen sie sofort, zu zerstören und zu plündern, brachen die Vorratskammern auf, rafften Silber zusammen. Was sie nicht mitnehmen konnten, zerstörten sie… Das Frauenbataillon, darunter viele Verwundete, schleppten sie in die Pawlowsker Kaserne und vergewaltigten sämtliche Frauen…

Am nächsten Tag war Rußlands erste bürgerlich-sozialistische Regierung wie vom Erdboden verschwunden. Einige Minister wurden inhaftiert, Kerenskij aber konnte aus der Stadt fliehen und tauchte unter. Im Nu war der Spuk vorbei. Es war das Phantom einer Revolution, kein Aufstand der Massen. Noch einmal Sinaida Gippius:

Petersburgs Bevölkerung schweigt düster und zornig, unfreundlich wie der Oktober. Was sind das für widerwärtige, schwarze, schreckliche und beschämende Tage…

In Moskau aber kam es zu schweren Kämpfen: Die Stadt war erst eine Woche später, am 2. (15.) November 1917, in der Hand der Bolschewiken. Schon am 26. Oktober (8. November neuen Stils) wurde der Rat der Volkskommissare als Regierungsorgan geschaffen, wurden das Dekret über die Beendigung des Krieges und das Dekret über Grund und Boden verkündet.
Dem Triumph folgte die schmähliche Schlappe. Bei den Wahlen für die Verfassunggebende Versammlung vom 25. November (8. Dezember) erhielt Lenins Partei nur 25% der Stimmen, Sozialrevolutionäre und Menschewiken zusammen jedoch 62%. Die Bolschewiken rissen die Macht dennoch an sich und lösten am 6. (19.) Januar 1918 die Verfassunggebende Versammlung mit Hilfe roter Truppen kurzerhand auf.
Mandelstam war einer der ersten, die auf den Oktoberumsturz dichterisch reagierten, wenige Tage nach dem Ereignis. Es war ein zornig-bitteres Gedicht gegen das „Joch von Bosheit und Gewalt“ und eine Hommage an Kerenskij. Lenin wird als Usurpator, als „Oktober-Günstling“ gegeißelt. Das Gedicht wurde schon am 15. November 1917 in der Zeitung Wolja Naroda (Volkswille), einem Organ der Sozialrevolutionäre, abgedruckt:

Als er das Joch von Bosheit und Gewalt
Uns brachte, Günstling des Oktober,
Ein Mörder-Panzerwagen borstig, kalt
Und kleinstirnig ein MG-Schütze tobend

Kerenskij kreuzigen! – hinschreiend hetzt,
Der böse Mob noch Beifall klatschte:
Da ließ Pilatus uns das Herz aufs Bajonett,
Das Herz stand still, das Herz war Asche…
(Tristia, S. 179) 

Alexander Kerenskij, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, gehörte der Partei der Sozialrevolutionäre an, deren Idealen Mandelstam als jugendlicher nahegestanden hatte. Für manche Intellektuelle verkörperte er die liberalen Ideale des 19. Jahrhunderts. Mandelstam bezeichnet ihn im Gedicht als „Peters Welpen“: Er erscheint als Erbe der zivilisatorischen Anstrengungen Peters des Großen. Der untergetauchte und von den Bolschewiken gesuchte Kerenskij verließ Rußland unerkannt im März 1918 und ging ins Londoner Exil.
Das Gedicht ist Mandelstams erste und schärfste Mißbilligung des Oktoberputsches, die keine Zweifel über seine Einstellung zuläßt:

Im Staat die Stürme jetzt, die Larven wüten.

Noch in der geheimdienstlichen Ermittlung, die zu Mandelstams zweiter (endgültiger) Verhaftung am 2. Mai 1938 führte, wird ihm die frühe Feindseligkeit gegen die Bolschewiki angekreidet:

Der großen proletarischen Revolution gegenüber verhielt er sich äußerst negativ, nannte die sowjetische Regierung eine „Regierung von Usurpatoren“ und verleumdete in seinen literarischen Werken jener Zeit die Sowjetmacht. (Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, S. 300)

Mandelstam verweigerte den Jubelgesang. Alexander Bloks Poem „Die Zwölf“ wurde zum Evangelium der Revolution. Es zeigt eine durch Petrograd ziehende Patrouille von zwölf Rotgardisten, denen sich Jesus Christus anschließt und sie so zu seinen „Aposteln“ macht. Majakowskij schrieb noch im November 1917 das Gedicht „Unser Marsch“ und trug es in den Kneipen vor. Aber der „Trommler der Revolution“ war auch deren Jubiläumsschreiber: Seine „Ode an die Revolution“ erschien zum ersten Jahrestag am 7. November 1918, sein Poem „Gut und schön!“ (Majakowskij: „die Oktoberrevolution, in Bronze gegossen“) zum Zehn-Jahre-Jubiläum 1927.
Anna Achmatowa schreibt in ihren Tagebuchblättern:4

Mandelstam begegnete der Revolution als reifer und, wenn auch in einem kleinen Kreis, bekannter Dichter. Als einer der ersten schrieb er Gedichte über politische Themen.

Das Kerenskij-Gedicht ist eines von dreien, die Mandelstam im November 1917 den „Verlierern der Revolution“ widmete. In einem erscheint das Ich als „später Patriarch im Moskau der Zerstörung“ (Tristia, 181), vergleicht sich mit dem Patriarchen Tichon, der am 6. Januar 1918 das Anathema gegen die Bolschewiken aussprechen wird. Ein anderes war Anton Kartaschow gewidmet, dem Historiker der russisch-orthodoxen Kirche und am 1. September 1917 eingesetzten Minister für Religionsfragen in der Provisorischen Regierung. Es war das Gedicht „Inmitten all der Priester ein junger Levit“ (Tristia, S. 47).5
Im Israel der Tempelzeit war der Levit ein den Priestern (Kohanim) untergeordneter Tempeldiener und stammte ursprünglich aus dem Stamme Levi. In Mandelstams Gedicht bekommt er Züge des Propheten Jeremias, eines Warners und Rufers, der die Zerstörung Jerusalems voraussagte:

Er sprach: das Gelb des Himmels – voll Gefahr.
Die Nacht schon überm Euphrat: Lauft, ihr Priester!

Vom Euphrat her griffen die Babylonier an, was im Jahr 587 v.Chr. zur Zerstörung des Ersten Tempels führte. Laut Nadeschda Mandelstams Zeugnis sah sich Mandelstam selber als der Levit, der vor dem Untergang Jerusalem-Petersburgs und vor der Zerstörung der Kultur warnt. Die letzte Strophe:

Er stand mit uns am Wasser, stand mit uns
Als wir ins Leinen, kostbarstes, den Sabbat hüllten
Und mit dem Siebenarmigen Leuchter rund
Die Nacht Jerusalems, den Rauch des Nichts erhellten
… (Tristia, S. 47) 

Es ist das am stärksten von jüdischen Elementen geprägte Gedicht Mandelstams. Es spricht von den Priestern des Tempels und einem Leviten, von der Nachtjudäas und einem zerstörten Tempel, von Sabbat und Menorah, dem siebenarmigen kultischen Leuchter der jüdischen Liturgie. Laut Nadeschda Mandelstam aber ist es gerade eines der christlich inspirierten Gedichte: Der ins kostbare Leinen gehüllte „Sabbat“ sei der vom Kreuz abgenommene Christus. Der Untergang Jerusalems/Petersburgs werde mit der Grablegung Christi überblendet. Daß der am reichsten mit jüdischen Kultelementen besetzte Text Mandelstams die Grablegung Christi beschwört, ist nur scheinbar ein Widerspruch: Erneut offenbart sich die dichterische Synthese von Judentum und Christentum, von Altern und Neuem Testament, in seinem Werk.
Zu den „Verlierern der Revolution“ gehörten laut Mandelstam auch die Dichter. Das „Joch von Bosheit und Gewalt“ mußte auch sie drücken. Kein Wunder, wendet er sich im Dezember 1917 an seine Dichterkollegin und Vertraute, um sich über das Verlorene auszusprechen. Das Anna Achmatowa gewidmete Gedicht „An Kassandra“ beschwört schon im Titel eine Seherin und Unheilsverkünderin, die Tochter des Priamos, die den Untergang Trojas voraussagte.

Ich hab sie nicht gesucht, in blühenden Momenten,
Kassandra, deine Augen, deinen Mund,
Doch in Dezembernächten – schlaflos, ohne Ende –
Quält uns nun die Erinnerung!

Im Jahre Siebzehn, im Dezember
Verlorst du – liebend – alles, was du zählst:
Der eine wird vom Volk geplündert,
Der andre plündert sich schon selbst…

Wenn Leben stets in Fieberträumen enden,
Wenn hohe Häuser Schiffe sind, ein ganzes Nest –
So flieg, du Sieg mit abgeschnittenen Händen,
Hyperboreerland der Pest!
… (Tristia, S. 51) 

Daß die Revolution hier als ein „Sieg mit abgeschnittenen Händen“ erscheint, macht „An Kassandra“ zusammen mit dem Kerenskij-Gedicht zu Mandelstams negativsten Äußerungen über den Oktoberumsturz.6 Auch dieses Gedicht erscheint im Organ der Sozialrevolutionäre Wolja Naroda (Volkswille) am 31. Dezember 1917.
Es zeigt noch einmal einen Einzelnen unter Wölfen (im ersten Gedicht war es ein „freier Bürger“ unter „wütenden Larven“), eine Verkörperung des Individuums, das sich gegen Machtwillkür auflehnt und neben Freiheit auch Bürgerrechte einfordert (wie das nur eine Woche zuvor, am 24. Dezember 1917, in der Petrograder Zeitung Neues Leben abgedruckte, aber schon im Juni entstandene Gedicht „Der Dekabrist“). Von diesem Einzelnen unter Wölfen führt ein feiner Faden zu jenem berühmten Gedicht Mandelstams vom März 1931 auf das „Wolfshund-Jahrhundert“ (Mitternacht in Moskau, S. 57), in dem er zweimal bekennen wird:

Doch ich bin nicht von wölfischem Blut.

Auf einem Platz mit Panzerwagen, Reitern –
Ein Mensch, ich seh ihn, da: er hetzt
Die Wölfe fort mit lodernd hellen Scheiten:
Heißt Freiheit, Gleichheit und Gesetz!

Die Betonung von Freiheit und Gesetz ist auch eine Besinnung auf Alexander Puschkins Ode „Freiheit“ von 1817. Kein Wunder, daß schon die folgende Strophe die „Sonne Alexanders“, den großen Vorläufer beschwört. Es ist ein visionäres Gedicht, auch was die Zukunft der angesprochenen „Kassandra“ Achmatowa betrifft. In der letzten Strophe sind alle Schicksalsschläge vorausgesehen, die Achmatowa wird erleiden müssen: Publikationsverbote, mehrfache Inhaftierung ihres aus erster Ehe mit Nikolaj Gumiljow stammenden Sohnes Lew, Demütigungen und Erniedrigungen – bis hin zu jenen im Zusammenhang mit dem Parteierlaß vom 14. August 1946, als sie hochoffiziell von dem Politbüro-Mitglied Schdanow als „halbe Nonne, halbe Hure“ verunglimpft wurde.7 Diese letzte Strophe spielt an auf das Schicksal der Seherin Kassandra, die nach der Einnahme Trojas von griechischen Soldaten vergewaltigt, nach Mykene in die Sklaverei verschleppt und schließlich ermordet wurde. Die Schändung Kassandras ist Mandelstams Bild für den barbarischen Angriff der neuen Skythen auf Kunst und Schönheit:

Und irgendwann, in dieser Wahnsinns-Metropole
An der Newa, beim Fest der Skythenschar –
Bei einem widerlichen Ball und zum Gejohle
Reißt man das Tuch von deinem schönen Haar…

Im ersten Winter der Revolution war Anna Achmatowa Mandelstams wichtigste Gesprächspartnerin. Das „Wir“-Gefühl der Akmeisten von 1912/1913 wurde erneuert und in das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft übergeführt, eine dichterische Solidarität und Freundschaft bekräftigt. Achmatowa veröffentlichte 1917 gerade ihren dritten Gedichtband Der weiße Schwarm. Sie lebte schon seit mehreren Jahren nicht mehr mit ihrem ersten Ehemann Nikolaj Gumiljow zusammen: 1918 läßt sie sich scheiden und heiratet den Assyriologen Wladimir Schilejko. In ihren Tagebuchblättern schreibt sie vom intensiven Austausch mit Mandelstam in jenem Winter: 8

Mandelstam kam mich oft abholen, und dann fuhren wir mit der Droschke durch die unglaublichen Schlaglöcher des Revolutionswinters, vorbei an den berühmten Feuerstellen, die fast bis in den Mai hinein brannten, und hörten von irgendwoher das Knattern der Gewehrsalven. So besuchten wir die Veranstaltungen in der Akademie der Künste, wo es Abende zugunsten der Verwundeten gab und wir beide mehrmals bei Gedichtlesungen auftraten. Ossip Emiijewitsch war mit mir auch auf dem Konzert der Butomo-Neswanowa im Konservatorium, bei dem sie Schubert sang. Aus dieser Zeit stammen alle an mich gerichteten Gedichte.

Den starken Eindruck des Schubert-Konzerts vom 30. Dezember 1917 hält ein Gedicht von Januar 1918 fest, in dem Motive aus den Schubert-Liedern „Die schöne Müllerin“ (Wilhelm Müller), Der „Erlkönig“ (Goethe) und „Der Doppelgänger“ (Heine) verwoben sind. Es ist, als ob die beiden Dichter im „Rausch der Musik“ (Tristia, S. 53) das Gegengift gegen die herrschenden „Gewehrsalven“ gesucht hätten. Einmal war Achmatowa krank und hatte Fieber, Mandelstam besuchte sie und heizte mit ihr zusammen den Ofen ein. Darauf entstand im Februar das geheimnisvolle Gedicht „Wenn die Uhr tickt: Grillenlieder“ mit seinen Bildern von Feuer und Fieber. Die letzte Strophe beschwört das „Nachtigallenfieber“, das besessene, fieberhafte Dichten in den Wirren der Revolutionszeit, das auch eine Bannung des allgegenwärtigen Todes sein will:

Schuldlos ist der Tod – kein Biegen
Gibt es, davon heilt dich nichts,
Daß im Nachtigallenfieber
Heiß das Herz, noch heißer ist
. (Tristia, S. 57) 

Die beiden trugen sich gegenseitig Gedichte vor: auch ein Gegengift gegen Gewalt, Plünderungen, Anarchie. Mandelstam war zeitlebens fasziniert von Anna Achmatowas gravitätisch-würdevoller Art des Gedichtvortrags. Er hing dieser neuen Verkörperung der Seherin Kassandra an den Lippen, wenn sie eigene und fremde Gedichte las. Diese Faszination versucht ein Gedicht dieser Zeit zu ergründen:

Wie herrlich du die Wörter sprichst –
So rufen wilde Vögel, soll ichs deuten:
Lebendig aus der Stimme brichts
Wie Seide und wie Wetterleuchten.
(Tristia, S. 55)

Es ist beinah ein Liebesgedicht daraus geworden… Vielleicht suchte Mandelstam in jenen Winternächten nicht nur kollegiale Gespräche über Poesie:

Und wieviel Wind da, Luft und Seide
Bei Dir, in Deinem Flüstern wohnt –
Wie Blinde trinken wir nun beide
Die Nacht lang Sonnenleere…

Achmatowa, die bald Wladimir Schilejko heiraten sollte, wurden die nächtlichen Treffen und fieberhaften Gedichtlesungen allmählich zu viel:

Ich mußte Ossip erklären, daß wir uns nicht so oft treffen sollten, daß das den Leuten Material liefern könnte für eine falsche Interpretation unserer Beziehungen. Darauf, etwa im März, verschwand Mandelstam… und war ganz unerwartet sehr beleidigt.

Den Rang Achmatowas hatte Mandelstam in einer (zu Lebzeiten unveröffentlichten) Besprechung des 1916 in Petrograd erschienenen Almanachs der Musen früh erkannt:

Die Stimme des Verzichts wird stärker und stärker in den Gedichten der Achmatowa, und schon jetzt ist ihre Poesie nahe dabei, eines der Symbole für Rußlands Größe zu werden. (Über den Gesprächspartner, S. 73)

Mandelstam hatte das Glück, mit den beiden bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts eine Zeit intensiven Austauschs zu erleben: nach Marina Zwetajewa von Januar bis Juni 1916 auch mit „Kassandra“ Anna Achmatowa von Dezember 1917 bis Februar 1918, in den finsteren Nächten des ersten Revolutionswinters, in gemeinsamer Hingabe an das „Nachtigallenfieber“.
Am 7. Dezember 1917 beschloß der Rat der Volkskommissare unter Lenins Vorsitz die Schaffung der „Tscheka“ („Sonderkommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage“) und ernannte den „eisernen“ Felix Dserschinskij zu deren Chef. Die Geheimpolizei wurde ein „unfehlbares“ Organ mit unbeschränkten Vollmachten, auch zu Erschießungen ohne Gerichtsverhandlung, erst recht ab dem 5. September 1918, als Lenin offiziell den „Roten Terror“ entfesselte, nachdem die Anarchistin Fanny Kaplan auf den Revolutionsführer ein Attentat verübt hatte. Nach der Ermordung des Petrograder Tscheka-Chefs Urizkij am 30. August 1918 durch Leonid Kannegisser wurden sofort fünfhundert Geiseln erschossen. Aber schon bei seiner Ernennung verkündete Dserschinskij vor den Volkskommissaren unmißverständlich:

Ich fordere die organisierte Gewalt gegen die Aktivisten der Konterrevolution.

Bereits 1918 verkündeten die Bolschewiki:

Mit eiserner Hand werden wir die Menschheit ins Glück jagen!

Am 19. Januar 1918 lösten sie die Verfassunggebende Versammlung auf. Am 3. März wurde der Friedensvertrag von Brest-Litowsk geschlossen, der Erste Weltkrieg war für Rußland zu Ende. Doch das Jahr 1918 brachte den Beginn eines neuen, grausamen Konflikts, den russischen Bürgerkrieg zwischen den „weißen“, zaristischen Truppen und der von Trotzkij organisierten Roten Armee. Die Schauplätze waren zunächst Sibirien und das Ural-Wolga-Gebiet. In der Hauptstadt Petrograd waren die Auswirkungen des Bürgerkriegs schwere Versorgungsprobleme, Hunger und Kälte.
Mandelstam machte sich keine Illusionen. Die Agonie der geliebten Stadt Petersburg hatte begonnen. Schon im Jahr vor den Revolutionen, im Mai 1916, bezeichnete er die Stadt als Herrschaftsbereich der Unterweltsgöttin Proserpina, als eine Totenstadt. Aus Petropolis wurde Nekropolis – so hatte der von Mandelstam verehrte Tschaadajew die Stadt in seinen Philosophischen Briefen (1830) genannt.

Glashell Petropolis: hier gehen wir zugrunde,
Proserpina vor uns, sie herrscht und teilt,
In jedem Atemzug nur tote Luft getrunken,
Und jede Stunde ist uns Sterbezeit…
(Tristia, S. 23) 

Die Verwahrlosung und Verödung der einstigen Pracht schritt rasch voran. Mandelstam schrieb im März 1918 ein Gedicht voller apokalyptischer Bilder, einen Nekrolog mit dem viermal wiederholten Refrain:

Petropolis, dein Bruder, stirbt. (Tristia, S. 59)

Das von Peter dem Großen mit ungezählten Menschenopfern aus den Newa-Sümpfen hervorgepreßte „Fenster nach Europa“ hörte bald auch auf, Hauptstadt zu sein. Im März 1918 verlegten die Bolschewiken den Sitz der Regierung nach Moskau. Ende des Monats verkündete Lunatscharskij, der Volkskommissar für Bildungswesen, ein Kompromißangebot gegenüber der „schöpferischen Intelligenzia der Bourgeoisie“. Zwar wurden in erster Linie die Proletkult-Dichter gefördert, aber Lunatscharskijs Signal bedeutete immerhin einen Hoffnungsschimmer für Künstler und Intellektuelle. Im April 1918 bekam Mandelstam kurzzeitig eine Anstellung im Pressebüro der Zentralkommission für die Evakuierung Petrograds. In dieser Funktion fährt er mehrmals nach Moskau.
Im Mai 1918 schreibt er das Gedicht „Die Dämmerung der Freiheit“, mit dem er, so meint es ein Klischee, die „Revolution begrüßte“.9 Doch ein Triumphgedicht für die Bolschewiken war es kaum. Das Zwielicht der Dämmerung herrscht von Anfang an:

Die Dämmerung der Freiheit laßt uns preisen
Ihr Brüder, dieses großes Dämmerjahr!
Hinabgetaucht der schwere Wald der Reusen
Ins Brodeln, nachtschwarz, unzähmbar.
In taube Jahre gehst du, geht die Reise
O Sonne, Volk, du Richterschar!
… (Tristia, S. 63) 

Auch im Russischen kann „Dämmerung“ (sumerki) Anbruch oder Niedergang bedeuten. Kein Wunder, mußte für Mandelstams letzten Gedichtband von 1928 der Titel und die ersten beiden Verse (dreimal „Dämmerung“) auf Veranlassung der Zensur entfernt werden. Vielfältig sind die bedrohlichen Zeichen. Noch ist unbekannt, was die Reusen aus dem schwarzen Wasser zutage fördern werden. Von „tauben“, von „dumpfen“, nicht von klingenden Jahren ist die Rede. Für den hellhörigen Dichter Mandelstam, der gerade dem Gehörsinn den höchsten Rang unter den Sinneswahrnehmungen einräumte, ein gefährliches Beiwort!
In der zweiten Strophe sinkt das „Schiff der Zeit“ zu Grund, ein Schiffbruch wird manifest. In der dritten werden die „Schwalben“ – ein Sinnbild für die Seelen, aber auch für die Dichter (Hölderlin: „Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter“) – zu „Kampflegionen“ gebunden. Gleichzeitig verdunkelt sich die Sonne immer mehr, bis zur Unsichtbarkeit:

Und am Himmel seht
Ihr keine Sonne mehr.

Überhaupt spricht das Gedicht – wie schon „An Kassandra“ von Dezember 1917 – vorwiegend von Verlusten: der Freiheit, des Klangs, der Zeit, des Lichts.
Trotz aller Verdüsterung verkündet die letzte der vier Strophen die Aufforderung an die Zeitgenossen, den Umschwung dennoch zu wagen:

Nun los, versuchen wirs: das Steuer linkisch wenden
Wir um, und mags auch knirschen sehr!
Die Erde schwimmt. Nur Mut, ihr Männer!
Wir sind der Pflug, der in die Meere fährt
Daß wirs im Lethe-Frost noch wissen werden:
Zehn Himmel war uns diese Erde wert.

Vom blinden Enthusiasmus der Proletkult-Dichter war Mandelstam weit entfernt, auch wenn er bewußt rhetorische Anleihen bei ihnen machte: die Beschwörung der aufgehenden „Sonne“ der Revolution, die Anrede der „Brüder“, die „Kampflegionen“. Sein Gedicht ist eine Warnung vor naiver revolutionärer Euphorie – und Ausdruck eines tragischen Bewußtseins kommender Härte und Schwere. Ende der zwanziger Jahre sagte Mandelstam zu dem Dichter Postupalskij:

Entscheiden Sie selber, ob es in diesen Versen mehr Hoffnung oder mehr Hoffnungslosigkeit gibt. Aber die Hauptsache ist das Pathos des Willens.10

Mandelstams zwiespältiges Revolutionsgedicht hatte wenig gemein mit dem hochgemuten Enthusiasmus des „Trommlers der Revolution“ Majakowskij. Allerdings wurde dessen Begeisterung von der Macht schlecht vergolten. Bekannt ist Lenins Kommentar zu Majakowskijs jubel-revolutionärem Poem „Hundertfünfzig Millionen“ (1919/1920):11

Unsinn, dumm, Erzdummheit und Manieriertheit. (…) Lunatscharskij aber gehört für den Futurismus verprügelt. Lenin.

Selbst dem einstigen Futuristen nahestehende Zeitgenossen bezeichneten Majakowskijs Verhältnis zur Wirklichkeit als „unglaublich naiv“ – so Roman Jakobson.
Mandelstams hochkomplexes Gedicht erschien am 24. Mai 1918 in der Petrograder Zeitung Banner der Arbeit, einem Organ der Linken Sozialrevolutionäre. Diverse namhafte Dichter veröffentlichten in dieser Zeitung ihre Gedichte auf die Revolution. Alexander Bloks berühmtes Poem „Die Zwölf“ erschien dort am 3. März. Wenige Tage vor Mandelstams Gedicht, am 19. Mai 1918, wurde Sergej Jessenins utopisches Poem „Inonija“ (Andersland) abgedruckt, der Traum des von Jeremias inspirierten „Propheten Jessenin Sergej“ von einem Bauernparadies.
Einen Monat nach Abdruck von Mandelstams Gedicht wurde die Zeitung im Zuge der Repression gegen die Linken Sozialrevolutionäre verboten. Wer waren die Linken SR? Auf dem Kongreß der Sozialrevolutionären Partei im Juni 1917 waren sie von der Mutterpartei ausgeschlossen worden und konstituierten sich darauf als eigenständige Partei. Sie lehnten eine Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung ab und waren maßgeblich am Oktoberputsch der Bolschewiken beteiligt. Im März 1918 jedoch schieden sie unter Protest gegen der Vertrag von Brest-Litowsk aus der Regierungskoalition mit den Bolschewiken aus. Im Juli 1918, nach einem mißglückten Putschversuch, wurden sie von den Machthabern in die Illegalität abgedrängt.
Mandelstams tragisch-beherzter Aufruf, den Umschwung trotz allem zu wagen, war ein einmaliges Signal. Daneben entstanden im Mai 1918 vorwiegend düstere Texte. Während der Verlegung der Hauptstadt waren die Regierungsstellen provisorisch im Moskauer Hotel Metropol untergebracht. Den Blick von einem Balkon auf das gegenüberliegende Bolschoj-Theater zeigt eines der Gedichte. „Finsterfröhliche“ Massen entströmen dem Theater wie ein „nächtlicher Begräbniszug“. Eine „nächtliche Sonne“ begräbt der „von Spielen erregte Mob“, und Moskau ersteht als ein „neues Herkulanum“ (Tristia, S. 61) ,jene beim Vesuvausbruch im Jahre 79 n.Chr. unter den Schlammfluten versunkene Stadt. Die Stadt Petersburg überblendet Mandelstam in den „Tristia“-Gedichten mit einem antiken Petropolis, mit Rom, Venedig, Jerusalem und Troja; Moskau hingegen mit einer im Schlamm erstickten römischen Provinzstadt. Der kultivierte Petersburger Dichter fühlt sich fremd in dieser neuen Hauptstadt. Er haßt sie sogar:

Wie fremd ist alles in der Zoten-Hauptstadt:
Die Erde ist hier trocknes hartes Brot
Und ungestüm der Marktplatz, gierig grapschend,
Der Räuber-Kreml steht und droht
… (Tristia, S. 183) 

Als vulgär, gierig und räuberisch charakterisiert er die Hauptstadt der Bolschewiken, als „dunklen Wald“, der die Welt lenken will, „als breites Bauernweib, das halbe All erdrückend“. Mandelstam zeichnet die Stadt als opportunistisch und kriecherisch, der Macht ergeben:

Im Feilschen ist sie eine schlaue Füchsin,
Doch vor dem Fürsten unterwürfig klein.

Nur die Moskauer Kirchen, die ihm Marina Zwetajewa im Februar 1916 ans Herz gelegt hatte, will er in diesem scharfen satirischen Porträt ausnehmen:

Nur ihre Kirchen – wohlriechende Waben
Wie wilder Honig, verloren tief im Wald.

In der ihm fremden Stadt erhält Mandelstam am 1. Juni 1918 auf Empfehlung Lunatscharskijs eine Anstellung. Er sollte in der Abteilung „Reform der Höheren Schulen“ des Volkskommissariats für Bildungswesen die Unterabteilung „Künstlerische Erziehung der Studierenden“ leiten. Vielleicht hatte ihm sein Gedicht „Die Dämmerung der Freiheit“ zu der Arbeit verholfen. Doch er wird es nur wenige Monate auf der neuen Stelle aushalten. Mandelstam gehörte nicht zu jenen erleuchteten Büroangestellten, die einige der besten Teile der Moderne des 20. Jahrhunderts schufen, wie etwa Konstantinos Kavafis, Franz Kafka oder Fernando Pessoa. Mandelstam war für eine geordnete Arbeit in einem Amt völlig ungeeignet, schlicht ein beruflicher Versager – wenn man vom Dichterberuf absieht.
Als sei es ein böses Omen für alle späteren Ereignisse, kommt es noch im selben Monat Juni 1918 zu einem ersten Zusammenstoß mit einem Vertreter der staatlichen Gewalt. Im Moskauer „Poeten-Café“ prahlte der Tscheka-Agent Bljumkin öffentlich damit, über Leben und Tod zu verfügen.12 Er fuchtelte mit einem Bündel angeblich von Dserschinskij im voraus unterschriebener Erschießungsbefehle. Nur einen Namen einzutragen brauche er, dann sei irgendein „schwächlicher Intelligenzler“ in einer Stunde liquidiert. Überliefert ist der Vorfall in Petersburger Winter (1928), den Erinnerungen Georgij Iwanows, eines 1923 nach Paris emigrierten Akmeistendichters, der allerdings viele Ereignisse fabulierend ausschmückte.

Und Mandelstam, der vor dem Bohrer des Zahnarztes zittert, als sei es die Guillotine, springt plötzlich auf, läuft auf Bljumkin zu, entwindet ihm die Erschießungsbefehle und reißt sie in Stücke.

Nadeschda Mandelstam widmet im Kapitel „Du sollst nicht töten“ ihrer Memoiren dieser Episode einigen Raum. Sie berichtet von Mandelstams tiefem Widerwillen gegen die Todesstrafe, gegen Erschießungen. Bljumkin soll nach Mandelstams Protest gegen seine mörderische Prahlerei den Revolver gezückt und gedroht haben, Mandelstam selber auf der Stelle niederzuschießen. Nur wenige Tage später, am 6. Juli 1918, erschoß Bljumkin den deutschen Botschafter Graf von Mirbach. Das Attentat war als Auslöser eines Putschversuchs der Linken Sozialrevolutionäre geplant und wurde zu deren „politischem Selbstmord“ (Günther Stökl).
Seine Drohung gegen Mandelstam wird Bljumkin in den folgenden Jahren mehrmals wiederholen. Der aufgebrachte Dichter lief nach dem Vorfall aus dem Café zu Larissa Reissner, die mit dem Bolschewiken Fjodor Raskolnikow verheiratet war und Zugang zu Vertretern der Macht hatte. In ihrer Begleitung ging Mandelstam am 1. Juli 1918 zum Tscheka-Vorsitzenden Dserschinskij13 und beschwerte sich über Bljumkin. Doch entgegen der Zusage des „eisernen“ Volkskommissars wurde der Tscheka-Revolverheld nicht behelligt und in der Mordsache Mirbach 1919 sogar offiziell amnestiert.
Die Verrohung schritt weiter voran, und der Terrorist Bljumkin wußte sich vom Zeitgeist gerechtfertigt. Nadeschda Mandelstam schreibt lakonisch dazu:

Gleich einer Infektion verbreitete sich unter uns die Kopfjägermentalität.

Wladislaw Chodassewitsch berichtet in seinen „Nekropolis“-Memoiren von einem Abend, bei dem der Dichter Sergej Jessenin und der mit ihm befreundete Bljumkin – derselbe Bljumkin! – zugegen waren.14 Jessenin flirtete mit einer Frau und fragte sie:

Wollen Sie mal bei Erschießungen zusehen? Ich kann das für Sie über Bljumkin sofort arrangieren.

Nadeschda Mandelstam schildert Mandelstams instinktives Bestreben, sich von der Macht fernzuhalten. Eine lindere Episode aus jener Zeit: Als Angestellter des Pressebüros der Evakuierungskommission habe Mandelstam sogar einmal eine Nacht im Kreml verbracht, in der Wohnung des Offiziellen Gorbunow. Am Morgen, im Speisesaal des Kreml, hieß es, auch Trotzkij würde gleich auftauchen, um hier zu frühstücken. Mandelstam sei aufgestanden, habe schnell seinen Mantel über den Arm geworfen und sei geflüchtet. Jetzt, wo der Teller einmal voll gewesen wäre, ließ er ihn im hungernden Moskau lieber stehen.
Diesen Fluchtimpuls konnte er später nicht einmal erklären, genausowenig wie seine instinktive Auflehnung gegen Bljumkins mörderische Prahlerei und seinen Einsatz für einen ihm völlig unbekannten Menschen, den der Revolvermann erschießen wollte. Zweifellos jedoch war Mandelstam nach dem Zusammenstoß mit Bljumkin traumatisiert. Er hatte Angst vor der Rache des Tschekisten. Der Widerspruch zwischen Mandelstams Überempfindlichkeit und Ängstlichkeit einerseits, und seinen Zornesausbrüchen, seinen Anwandlungen von beinah selbstmörderischer Zivilcourage andererseits, wird ein Leitmotiv dieses Dichterlebens bleiben. Der Vorfall versetzte ihn in Angst und Niedergeschlagenheit. Das mysteriöse „Telephon“-Gedicht von Juni 1918 legt nahe, daß er sich vielleicht sogar mit Selbstmordgedanken trug:

In dieser Schreckenswelt der Wilden –
Du Freund von Nachtbegräbnis, Klageton,
Im hohen strengen Arbeitszimmer
Des Selbstmörders – das Telephon!
(Tristia, S. 185). 

Aus dem Sommerurlaub kehrte Mandelstam im August 1918 mit großer Verspätung an seine Arbeitsstelle im Volkskommissariat für Bildungswesen zurück und bekam einen Verweis wegen „inakzeptablen Fehlens“ und Vernachlässigung seiner Pflichten. Auch die Verspätung ist vermutlich ein Zeichen seines Traumas. Am 20. Oktober 1918 vermerkt der Dichter Alexander Blok in seinem Tagebuch einen Besuch Mandelstams bei ihm in Petrograd, bei dem er „interessant“ über das Attentat auf Mirbach erzählt habe. Vielleicht sprach Mandelstam wiederum eher über den Mörder, der seine Angstträume heimsuchte.
Nach seiner Verhaftung im Mai 1934 wird Mandelstam im Verhör zu Protokoll geben, eine „politische Depression, hervorgerufen durch die schroffen Methoden der Verwirklichung der Diktatur des Proletariates“, habe bei ihm Ende 1918 eingesetzt.15 Der Zusammenstoß mit Bljumkin spielte dabei gewiß eine entscheidende Rolle. Ein Zeugnis für die wachsende Entfremdung von dieser Zeit, für das Gefühl eines beginnenden „inneren Exils“, ist auch Mandelstams auf 1918 datiertes „Tristia“-Gedicht. Es war inspiriert von Ovid und dessen Exildichtungen Tristia, und „Epistulae ex Ponto“ (Briefe vom Schwarzen Meer). Der von Kaiser Augustus im Jahre 8 n.Chr. „ans Ende der Welt“, nach Tomis verbannte Ovid hatte Mandelstam schon 1914 und 1915 beschäftigt. Nun fühlt er sich ein in Ovids letzte Nacht in Rom vor dem Gang ins Exil, wie sie der römische Dichter in der 3. Elegie des Buches I der Tristia, schildert („Cum subit illius tristissima noctis imago / quae mihi supremum tempus in urbe fuit…“):

Ich lernte Abschied: eine Wissenschaft,
In Klagen – nachts – von unbedecktem Haar.
Gekau der Ochsen. Warten. Und kein Schlaf
Den letzten Gang der Wache nehm ich wahr.
Und folg dem einen Kult: der Nacht der Hähne,
Als ich die Lasten hob, den Schmerz – für lang,
Das Aug ins Ferne sah durch seine Träne,
Und Schluchzen mischte sich zum Musensang
. (Tristia, S. 65) 

Ein wichtiges Verfahren von Mandelstams Gedichten aus dem Umkreis der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges ist die Überblendung der russischen Gegenwart mit antiken Motiven und mythischen Figuren (Odysseus, Kassandra, Persephone/Proserpina u.a.). Es ist nur eines der Signale dafür, daß Mandelstam – gegen den blinden Fortschrittsglauben und die Propaganda von der „lichten Zukunft“ – ein zyklisches Geschichtsbild entwickelte, überzeugt war von der Wiederkehr ähnlicher Konstellationen. Im selben „Tristia“-Gedicht heißt es:

Und alles war schon und wird wiederkehren:
Dein Glück – nur der Moment, da du’s erkennst.

Die Wiederkehr spiegelt sich im Gedicht selber. Es zeigt eine Vielzahl literarischer Reminiszenzen, die gebrochenen Stimmen „wiederkehrender“ Vorläufer – Homer, Tibull, Ovid, Batjuschkow, Puschkin – und ist doch Mandelstams eigene Zusammenschau lyrischer Themen wie Abschied, Exil, Liebe, Weissagung und Tod.
Die beiden wichtigsten Gedichte des Jahres 1918, das mit Proletkult-Versatzstücken arbeitende Revolutionsgedicht „Die Dämmerung der Freiheit“ und das von Ovid inspirierte „Tristia“-Gedicht, sind nur scheinbar unvereinbare Gegensätze. Beide sprechen von tragischen Verlusten und der Ungewißheit des Kommenden. Noch ist ungewiß, welches „neue Leben“ der Hahn im zweiten Gedicht verkündet, welche „Trennungen“ und „Abschiede“ bevorstehen… Die Wissenschaft des Abschieds aber wird Mandelstam im Leben wie in den Gedichten der kommenden Jahre in bitteren Lektionen sich weiter aneignen müssen.
Bei aller „politischen Depression“ leistete Mandelstam in den letzten beiden Monaten des Jahres 1918 seine Arbeit im Volkskommissariat für Bildungswesen. Im Rahmen der Hochschulreform beschäftigt er sich intensiv mit Rhythmik und mit dem Entwurf eines Instituts für rhythmische Erziehung. Solche Bemühungen entsprachen einer gewissen Mode. Der Schweizer Pädagoge und Komponist Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950) hatte ein rhythmisches Erziehungssystem begründet, das Körperbewegung, psychische Impulse und Musik harmonisch vereinigen sollte. In der Stadt Hellerau bei Dresden eröffnete er 1910 seine erste Bewegungsschule. Nicht zuletzt im revolutionären Rußland fand Jaques-Dalcroze eifrige Nachahmer. In Petrograd und Moskau entstanden Rhythmik-Studios, die auch von neugierigen Dichtern wie Alexander Blok, Michail Kusmin und Wladimir Pjast nicht verschmäht wurden.
Der Wille zu Bewegung und Rhythmus war das, was der Dichter Mandelstam mit der sich neu formierenden Gesellschaft teilen konnte. Im Rahmen seiner Vortragstätigkeit schrieb er den Essay „Staat und Rhythmus“. Auffällig darin ist – bei aller Rücksicht auf das „Kollektiv“ – Mandelstams Beharren auf der „Persönlichkeit“ des Einzelwesens:

Während wir die Gesellschaft gestalten (…), vergessen wir oft, daß allem zuvor die Persönlichkeit gestaltet werden muß. (Über den Gesprächspartner, S. 77)

Mandelstam schreibt von der italienischen Renaissance im Namen des Individuums und von der Wiedergeburt im Namen des Kollektivs, der russischen Revolution. Bezeichnend ist seine Feststellung, daß beim zweiten Phänomen die „Philologie“ – die „Liebe zum Wort“ – unterlegen sei, klar gelitten habe. Mandelstam konstatiert lakonisch den „antiphilologischen Charakter unserer Epoche“, einen „Verrat an der Philologie“ (Über den Gesprächspartner, S. 79). Von da ist es nicht mehr weit zu seiner radikalisierten Unterscheidung der Menschen in „Freunde“ und „Feinde des Wortes“ im nächstfolgenden Essay „Das Wort und die Kultur“ von 1921. Orakelhaft klingt in Staat und Rhythmus der Satz:

Über uns ein barbarischer Himmel, und dennoch sind wir Hellenen.

Das Thema der kommenden Barbaren war längst ein literarischer Gemeinplatz. Die zivilisationsmüden symbolistischen Dichter hatten die Barbaren kommen sehen und sie früh begrüßt. Walerij Brjussow beschloß sein Gedicht „Die künftigen Hunnen“ (1904/1905) mit einem Willkommensgruß, Alexander Blok identifiziert sich mit den „Skythen“ in einem seiner letzten Gedichte vom 30. Januar 1918:

Wir sind Skythen, Asiaten!

Beide hatten sich den Bolschewiken früh empfohlen. Brjussow wird rasch Parteimitglied und Leiter der Abteilung Literatur im Volkskommissariat für Bildungswesen, der sensiblere Blok aber, der im Januar 1918 in seinem Essay „Intelligenzia und Revolution“ die Zeitgenossen aufgerufen hatte, die „Musik der Revolution“ zu hören, wird bald in der neuen „skythischen“ Luft ersticken. Ossip Mandelstam, der nirgendwo in seinem Werk weder Hunnen, Skythen noch Barbaren begrüßt hatte, wird weiter versuchen, unter einem barbarischen Himmel ein Hellene zu bleiben: ein Europäer ohne modische Zivilisationsmüdigkeit.
Im Februar 1919 wurden die Linken Sozialrevolutionäre von den Bolschewiken mit einer Verhaftungskampagne unter Druck gesetzt. Mandelstam hatte genug Gründe, sich vor dieser Repressionswelle zu fürchten. Seine gegen die Bolschewiken gerichteten Gedichte – das Kerenskij-Gedicht vom „Joch der Bosheit und Gewalt“ und das unheilvolle „An Kassandra“ – waren im November und Dezember 1917 in Organen der Sozialrevolutionäre erschienen. Vielleicht war es die Angst vor der Repression, die Mandelstam aus seiner Anstellung in Lunatscharskijs Volkskommissariat davonlaufen ließ. Oder wurde er wegen notorischer „Vernachlässigung seiner Pflichten“ vor die Tür gesetzt? Oder war der Reflex, jede ordentliche Arbeitsstelle nach ein paar Wochen wieder aufzugeben, einfach zu stark?
Einmal mehr jedenfalls tritt er den gewohnten Fluchtweg an, den Weg nach Süden. Mitte Februar 1919 fährt er in die Ukraine, nach Charkow. Moskau wird er fast zwei Jahre später erst wiedersehen. Kurz vor seiner Abreise, am 30. Januar 1919, war in Woronesch, in der Zeitschrift Sirene, die sein Akmeistenkollege Wladimir Narbut herausgab, Mandelstams schon 1913 entstandenes Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ erschienen. Es war ein Signal aus einer anderen Zeit, eine anachronistische Sirene. Ein alter, unverhallter Aufruf zur Bejahung des Lebens. 

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Meine Zeit, mein Tier. Ossip Mandelstam. Eine Biographie, Ammann Verlag, 2003

 

 

SCHLAFPLATZ
an Ossip Mandelstam

Die Wohnung, Schatten, hier,
ich geh durch enge Ritzen Luft,
die Körper, liegend, da und dort verstreut,
von Bücherstößen, Wänden, Eisenteilen
ein sickernd-fahles Licht,
ich dräng voran zur letzten Hinterkammer,
mein kahles Gähnen – stockt, ich tret
herzu, wühl mich in Zeitungshaufen.

Die Nacht ist lastend. Bis der Körper sich
den Rückweg tappt, auf rauhe Decken fällt.

Roland Erb

 

KEINER HAT DEN ANDEREN BESTOHLEN –
(drei Gedichte für Ossip Mandelstam)
16

I

Keiner hat den anderen bestohlen –
Dass wir getrennt sind, sei mir recht!
Ich küsse Sie ganz unverhohlen,
Und sind Sie noch so weit entfernt…

Unsere Talente sind verschieden,
Und meine Stimme ist bisweilen leis.
Was schon kann ich Ihnen
17 bieten,
Mein Vers ist ungeschlacht und dreist!

Ich mach das Kreuz für Ihren Höhenflug:
– Heb ab, mein Adlerjunge, in die Lüfte!
Kaum einer, der die Sonne so wie du ertrug.
War dir mein Blick zu schwer beim Driften?

Niemand verfolgte Ihren Flug so zärtlich
Wie ich, und niemand – so bedingungslos…
Ich küsse Sie, auch wenn wir nun getrennt sind
Durch so viele Jahre – es ist unser beider Los.

12. Februar 1916

II

Wie du den Kopf zurückwirfst! Stolz
Bist du – ein Lügner und ein Schwätzer!
Was für ein Februar – er war mir hold
Und machte dich „zu“ meinem Weggefährten!

Wir lassen in der Tasche Münzen klimpern
Und stossen langsam unsre Atemwolken aus.
So schlendern wir durch unsre Heimatstadt,
Als wären wir Touristen und nicht bereits zu Haus.

Wessen Hände, Schönheit, streiften zärtlich
Deine Wimpern? Und deinen Mund –
Wer hat ihn erstmals und wie heftig,
Wie oft und wann zuletzt geküsst? Nun,

Das ist mir egal! Ein Traum, den ich mir spare,
Meine Sehnsucht habe ich bezwungen.
In dir verehre ich den Götterjungen, zehn Jahre
Ist er alt, ich habe mir dies ausbedungen.

Wir halten ein am Fluss, in dem die bunten
Lichter der Laternen schwappen.
Behutsam führ ich dich zum Platz hinunter,
Wo einst die Zarenknaben trabten…

Pfeif auf das Ungemach der Jugendjahre
Und nimm dein Herz selbst in die Hand…
– Befreie dich, sei souverän, verfahre
Wildentschlossen und – sei mir nicht gram.

18. Februar 1916

III

Woher mein Zartgefühl für dich wohl rührt?
Denn deine Locken sind ja nicht die ersten,
Die ich streichle, und Lippen habe ich geküsst,
Die waren tiefer als die deinen, schwärzer.

Sterne kamen, funkelten, verlöschten.
– Woher rührt aber meine Zärtlichkeit?
Auch deine Augen funkelten, erloschen,
Und meine Augen waren für sie stets bereit.

Nie habe ich in dunkler Nacht so viele
Lieder mitbekommen und verwahrt.
– Von daher meine zärtlichen Gefühle?
Der Sänger hatte sich mir offenbart!

Woher also mein zärtliches Gedenken?
Und was soll ich damit beginnen? Denken
Weiterhin an dich, du Wanderer und Sänger,
An deine Wimpern? Ja, du hast die längsten!

18. Februar 1916

Marina Zwetajewa
Übersetzung von Felix Philipp Ingold

 

Frank Diamand: Die Jahrhunderte umgeben mich mit Feuer. Osip Mandelstam, 1976.

 

Joseph Brodsky spricht über Mandelstam.

 

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Zum 70. Todestag des Autors:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

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Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

 

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deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Rainer Kirsch: SZ ✝ MZBZDW

 

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Rainerkirsch“.

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