ANDRÉ BRETON UND DER SURREALISMUS
In der Ausgabe von Tropiques vom Oktober 1943 beschreibt Suzanne Césaire1 den Surrealismus als totale Aktivität, „die einzige, die den Menschen befreien kann und in ihm sein Unterbewusstes wecken kann […] die blinden Mythen aufklärt, die ihn genau hierher [Zweiter Weltkrieg] gebracht haben“.2 Stark von der Psychologie Freuds beeinflusst, liegt das Ziel der Surrealisten in der Befreiung der Menschheit durch die Ergründung des Unterbewussten und die damit verbundene Emanzipation des Geistes.
André Breton war selbsternannter Wortführer dieser Bewegung und formuliert im 2. Manifest des Surrealismus 1930, dass es um die Suche eines geistigen „Standortes“ geht, „von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden“.3 Césaire bezeichnet diesen Gedanken als „die poetische Ambition selber“.4 In der Zeitschrift Tropiques wird diese Formulierung weiter ausgeführt und adaptiert, man spricht von der Auflösung der Gegensatzpaare „schwarz-weiß, europäisch-afrikanisch und zivilisiert-unzivilisiert.5 An diesem Beispiel lässt sich die Verstrickung von Bretons Surrealismus und der Négritude wörtlich nachvollziehen. Die Rolle des Poeten und die Aufhebung der von Breton formulierten Gegensatzpaare werden von Suzanne Césaire direkt auf die Problematik der Négritude bezogen.
Neben der revolutionären Kraft von Träumen, Sexualität und Lust werden die sozial-ökonomischen Theorien von Karl Marx adaptiert und die Surrealisten wurden allesamt Mitglieder der Französischen kommunistischen Partei. Dieser Moment bezeichnet die politischen Ambition der eigentlich literarischen Bewegung, die durch ihr Begehren die Welt zu verändern zu „revolutionären Akten der Befreiung“6 bereit war.
In einem Interview von 1978 beschreibt Césaire die erste Begegnung mit André Breton:
Eines Tages betrat er eine kleine Buchhandlung in Fort-de-France, die kurioserweise der Schwester von Ménil7 gehörte. Er warf einen Blick auf die Zeitschrift in der Vitrine und war erstaunt von dem, was er die Qualität, die Dichte der Texte nannte und versuchte sofort Kontakt mit uns aufzunehmen (Ménil und mir).8
Die Rolle von Breton in der folgenden Zeit wird in einer anderen Textstelle beschrieben:
Breton brachte uns Unverfrorenheit [hardiesse]; er half uns eine freimütige Position einzunehmen und verkürzte unsere Suche und unsere Zweifel. Mir wurde bewusst, dass die meisten Probleme mit denen ich mich beschäftigte von Breton und den Surrealisten bereits gelöst wurden… Ich würde sagen, dass das Treffen mit Breton mich in vielen Punkten bestätigt hat, die ich für mich schon erkannt hatte.9
Aus diesen beiden Zitaten gehen zentrale Aspekte des Verhältnisses von Breton und Césaire hervor. Die ausführliche Schilderung der ersten Begegnung und die wörtliche Wiedergabe der Begeisterung Bretons für Tropiques lassen auf einen enormen Stolz auf seine Freundschaft schließen. Dieser findet seinen Ausdruck auch in einer Vielzahl an Widmungen seiner Gedichte an den berühmten Dichter. Seine Präsenz auf Martinique war die eines Helden, Arnold beschreibt seine Funktion als „privilegierten Mediator“,10 mit großem Einfuß auf Césaire und seine Mitstreiter. Auch Breton publiziert in Tropiques, im Jahr 1944 erscheint der Artikel „Un grand poète noir“, in dem Breton das Cahier als das „größte lyrische Monument seiner Zeit“11 bezeichnet. Seine folgende Unterstützung war laut Arnold der entscheidende Faktor, um Césaire als Poet von internationalem Status zu etablieren.
Persönlich und intellektuell ist Césaire Breton sehr zugetan, dennoch betont Césaire seine literarische Eigenständigkeit und lässt sich trotz weit reichender Inspiration und offensichtlicher Verehrung nicht ganz vereinnahmen. Césaire sagt, dass er „niemals zu der surrealistischen Bewegung gehören wollte“12 und betont in dem Interview zu der Gesamtausgabe von Tropiques 1978, dass seine Poesie nicht aus André Bretons Manifest des Surrealismus hervorgeht. Breton hingegen ordnet Césaire direkt in die Reihen der Surrealisten ein. In dem „Prolegomenon zu einem Dritten Manifest des Surrealismus oder nicht“ 1942 schreibt André Breton:
es gibt meinen Freund Aimé Césaire, unwiderstehlich und schwarz, der mit allen abgedroschenen Versen […] gebrochen hat und der auf Martinique die Geschichte schreibt, die wir heute brauchen.
Was Césaire von den Pariser Surrealisten unterscheidet und ihn gleichzeitig für sie so faszinierend macht, hängt mit der Négritude zusammen. Andererseits hat er von den gleichen Vorbildern gelernt wie die Surrealisten. In diesem Zusammenhang verweist Césaire auf französische Schriftsteller wie Rimbaud, Mallarmé und Symbolisten wie Claudel und Lautréamont. Dem letzteren ist ein Artikel von Césaire in Tropiques 1943 gewidmet, der mit den Worten überschrieben ist:
Die Poesie von Lautréamont – schön wie die Verordnung einer Enteignung.13
Césaire schreibt ihm die Entdeckung der Kraft von Parodie zu und sieht in ihm den Erfinder der modernen Mythologie. Lautréamont und Rimbaud bezeichnet er in eben diesem Text als komplementär.14 Lautréamont liefert die Technik oder den Stil mit seiner neuartigen Poesie des Unbewussten, der Assoziation und der Halluzination.15 Rimbaud hingegen liefert die Theorie oder das Prinzip: „die Poesie Rimbauds ist nicht sein Stilmittel, sondern die Revolte“16 schreibt Césaire in einem Brief an René Depestre. Unter diesen beiden Haupteinflüssen stehend kreiert Césaire laut Arnold einen „neuen Hybriden“17 in seiner Poesie, speziell im Cahier.
Césaire hat folglich eine Version der modernen Literatur geschaffen, die ihn mit den europäischen Surrealisten und André Breton verbindet. Gregson Davis bezeichnet Césaires Lyrik als die karibische Form des Surrealismus“,18 die kulturspezifisch geprägt ist. Während der europäische Surrealismus gegen die Werte der eigenen Kultur gerichtet ist und seine Techniken als intellektuelle Experimente verstanden werden können, ist Césaires Surrealismus als Instrument oder Waffe zu verstehen, die auf ein spezielles Ziel gerichtet ist und direkt mit der Négritude verbunden ist. Césaires Poesie ist direkter mit der sozialen und politischen Problematik seiner Umwelt verknüpft. ,,Ein Martinikaner, der Kunst um der Kunst Willen macht! Das heißt, dass er sich die Welt um sich herum niemals angeschaut hat“19 schreibt Césaire. Der Unterschied von Césaire zu den Pariser Surrealisten kommt in der Nutzung der Technik des automatischen Schreibens zum Vorschein. Während es bei den Pariser Surrealisten bei dieser Technik im Prinzip darum geht, Bilder, Ausdrücke und Introspektiven unreflektiert wiederzugeben, bleibt der Stil Césaires immer Zielgerichtet.
Im Allgemeinen trage ich die Sachen sehr lange in mir […] dann kommen sie heraus und ich veräußere sie. In dem Moment ist es Poesie.20
Césaires Stil widerspricht somit Bretons Auffassung vom automatischen Schreiben. Er setzt den surrealistischen Stil und die surrealistische Technik für seine Zwecke auf seine spezielle Art ein und unterscheidet sich damit von der „Passivität des Autors, der auf sein Unterbewusstsein hört“21 und den Pariser Surrealisten.
Jean-Paul Sartres schreibt, dass „die schwarze Poesie französischer Sprache in unseren Tagen die einzige große revolutionäre Dichtung ist“.22 Er bezieht sich damit auf Césaire und den eben beschriebenen Unterschied, den er selber mit folgenden Worten beschreibt:
Man kann hier von einer zweckgebundenen, ja sogar gelenkten automatischen Art des Schreibens sprechen, nicht weil sie aus einer Überlegung entsprungen wäre, sondern weil Worte und Bilder fortwährend dieselbe leidenschaftliche Besessenheit zum Ausdruck bringen. Der weiße Surrealist findet in seinem Inneren Entspannung, Césaire dagegen unnachgiebiges Fordern und unbeugsamen Groll.
Janheinz Jahn dagegen sieht in genau dieser Differenz den Anker für seine Argumentation, die Césaire an den Anfang der neoafrikanischen Dichtung stellen will und nicht in den Rahmen „einer der kurzlebigen europäischen Literaturepochen“.23
In diesem Buch geht es um postkoloniale Identitätsdiskurse auf Martinique. Aimé Césaire und die Frage, wie Poesie und Politik in seinem Leben zusammenwirken, bilden den Kern der Analyse. Die Identitätsdiskurse auf Martinique sind international mit vielen anderen Bewegungen und Ideologien verknüpft, deren Bedeutung es zu verstehen gilt. Um der Abhandlung einen Rahmen zu geben, drehen sich die hier dargestellten politischen und literarischen Diskurse im weitesten Sinne um zwei Begriffe: Négritude und Créolité.
Hinter dem Begriff der Négritude verbirgt sich ein Konzept der kulturellen Selbstbehauptung aller afrikanischen Menschen und Menschen afrikanischer Herkunft. Die Créolité ist ein Konzept, das chronologisch und inhaltlich auf die Négritude folgen soll und das Denken einer neuen Generation von Intellektuellen auf Martinique beschreibt. Dabei wird versucht, die karibische Geschichte und Gegenwart als Bezugspunkte einer „kreolen“ Identität zu etablieren.
Aimé Césaire ist der bei weitem bedeutendste Autor der Identitätsdiskurse auf Martinique. Die Zeugnisse seiner Aktivität reichen von den frühen dreißiger Jahren bis in die neunziger Jahre und umfassen Gedichte, Theaterstücke, politische Schriften und Interviews. Die französischen Zitate wurden, soweit nicht anders vermerkt, von mir ins Deutsche übersetzt. Die Quellen umfassen nebst einer Vielzahl von Sekundärliteratur auch avantgardistische Diskurse aus Frankreich und anderen Teilen der Welt, um die Tragweite und den Kontext der Thematiken zu verdeutlichen. Außerdem liegt der Darstellung eine persönliche Erfahrung durch Leben und Arbeit auf Martinique zugrunde, sowie eine Vielzahl von Gesprächen und Interviews mit Manuel Césaire und anderen Persönlichkeiten auf Martinique. Die Interviews sind zum Teil komplett und zum Teil in Form von Auszügen nummeriert im Anhang des Buches zu finden.
Im ersten Kapitel werden gesellschaftliche und wirtschaftliche Basisinformationen über Martinique kurz zusammengefasst.
Im zweiten Kapitel wird die theoretische Grundlage für die folgende Analyse geschaffen. Zentrale Begriffe werden erläutert, damit Inhalte und Funktionen der Identitätsdiskurse auf Martinique besser analysiert und erklärt werden können. Die kollektive Identität und das kulturelle Gedächtnis stehen im Mittelpunkt dieser Darstellung und werden im Kontext definiert. Die Bedeutung von Geschichte als soziales Konstrukt und die Imagination von Identität sollen erklärt werden, um Unterschiede und Bedeutung von Konzepten wie Négritude und Créolité später darzustellen.
Im dritten Kapitel soll zuerst der historische Hintergrund der Diskurse aufgezeigt werden. Es handelt sich hier um eine Kurzfassung, die die Entstehung der sozialen Strukturen sowie den historischen Konflikt hinter den Identitätsdiskursen auf Martinique offen legen soll. Nach den Besonderheiten einer französischen Kolonial- und Kulturpolitik soll dann das politische Feld und damit die Relevanz der Identitätsdiskurse auf Martinique dargestellt werden.
Im vierten Kapitel stehen Werk und Leben von Aimé Césaire im Mittelpunkt. Zuerst wird seine Biographie beschrieben, um die wichtigsten Einflüsse und Werke des Politikers und Poeten darzustellen, danach wird das Konzept der Négritude eingeführt und damit das Herzstück seines Schaffens betrachtet.
Im fünften Kapitel geht es um Césaire als Avantgardisten eines europäischen Diskurses. Hier soll an erster Stelle das Paris der dreißiger Jahre beschrieben werden, eine Stadt in der sich unterschiedliche avantgardistische Strömungen sammeln und entwickeln. Die schon erwähnte Wortschöpfung „Négritude“ wird somit in den intellektuellen und künstlerischen Kreisen des damaligen Paris angesiedelt, um ferner Césaires Rolle als Avantgardist während seines achtjährigen Aufenthalts in Paris zu beschreiben. Der zweite Teil dieses Kapitels beschreibt explizit das Verhältnis von Césaire zum französischen Surrealismus und André Breton als Wortführer dieser Bewegung. Im letzten Teil wird die Interpretation von Janheinz Jahn dargestellt, der sich gegen die Kategorisierung von Césaire als Surrealist auflehnt und in ihm einen Vertreter der neoafrikanischen Dichtung sieht. In seiner Argumentation kommen Bedeutungsebenen zum Vorschein, die aus surrealistischer Perspektive verloren gehen.
Im sechsten Kapitel geht es um die Verbindung von Aimé Césaires schriftstellerischer und politischer Karriere. An erster Stelle wird die Entwicklung einer Poesie beschrieben, die politisches Handeln als notwendige Konsequenz mit sich bringt. Danach soll der prägende Einfluss des zweiten Weltkrieges geschildert werden, eine Phase, in der auf Martinique ein Bewusstsein entsteht, das Césaire trägt und von ihm getragen wird.
An dritter Stelle steht das Verhältnis von Marxismus und Négritude. Hierbei geht es um die Begriffe Klasse und Rasse, um den Poeten Césaire, dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Rolle als Politiker zufiel, und der schließlich voller Enttäuschung aus der kommunistischen Partei austrat. Der vierte Teil des fünften Kapitels handelt vom Wechsel Césaires in das Genre des Theaters und von seiner Beurteilung der politischen Entwicklung in Afrika.
Im siebten Kapitel werden das Konzept der Créolité und die Autoren des Manifestes dieser Bewegung dargestellt.
Im achten Kapitel bildet eine Vielzahl von Interviews die Grundlage für die Analyse von aktuellen Stimmen zu den Identitätsdiskursen auf Martinique. An erster Stelle steht die Kritik der Créolité, während im zweiten Teil auf die Bedeutung und Funktion der Identitätsdiskurse eingegangen wird.
Im Resümee werden aktuelle Geschehnisse einbezogen um die Gegenwärtigkeit der Problematiken zu verdeutlichen und mögliche Perspektiven zu beurteilen.
Quirin Wildgen, Vorwort
Einleitung
1. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Basisinformationen
2. Theoretische Grundlagen
3. Geschichte von Martinique und politische Situation heute
3.1. Von den Arawaks bis zur Abschaffung der Sklaverei
3.2. Von 1848 bis Heute
3.3. Das Besondere am französischen Kolonialsystem auf Martinique
3.4. Politische Institutionen in Frankreich und auf Martinique
3.5. Kategorisierung des politischen Feldes auf Martinique
3.5.1. Die Departementalisten
3.5.2. Autonomisten
3.5.3. Die Independisten
4. Aime Césaire und die Négritude
4.1. Biographie
4.2. Das Konzept der Négritude
4.2.1. Die Veränderung des Europabildes
4.2.2. Das neue Bild von Afrika – Der Beweis einer Existenz afrikanischer Kultur und der deutsche Ethnologe Leo Frobenius
4.2.3. Négritude als Geschichtsschreibung
5. Césaire als Avantgardist eines europäischen Diskurses
5.1. Das Paris der dreißiger Jahre und die Entstehung des Begriffs „Négritude“
5.2. André Breton und der Surrealismus
5.3. Janheinz Jahn und die Négritude als neoafrikanische Dichtung
6. Der Dichter und die Politik
6.1. Die Entwicklung einer Poesie, die politisches Handeln als notwendige Konsequenz mit sich bringt
6.2. Die prägende Rolle des zweiten Weltkrieges
6.3. Négritude und Marxismus
6.4. Die politische Unabhängigkeit in Afrika und Césaires Theaterstücke
7. Die Créolité
8. Aktuelle Stimmen zu den Identitätsdiskursen
8.1. Kritik der Créolité
8.2. Bedeutung und Funktion der Identitätsdiskurse auf Martinique
9. Resümee
10. Literaturverzeichnis
11. Anhang
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und der kolonialen Vergangenheit macht die Insel in der Karibik zu einem besonderen Teil europäischer Geschichte. Aimé Césaire schreibt diese Geschichte in seiner surrealistischen Poesie neu und entwickelt ein neues Selbstverständnis dieser lang von Kolonialismus und Rassismus gedemütigten Gesellschaft. Es gelingt ihm, sein internationales Ansehen als Literat und europäischer Avantgardist auf die politische Sphäre Martiniques zu übertragen. So wird aus dem Poet ein Politiker. Dieses Buch versucht den Weg von Césaires „Négritude“ zur „Créolité“ nachzuvollziehen, aktuelle Stimmen einzufangen und somit die Entwicklung der Identitätsdiskurse auf Martinique darzustellen.
Peter Lang Verlag, Klappentext, 2010
Leider kein wissenschaftlich besonders brauchbares Buch. Im Kapitel über die Geschichte Martiniques benutzt der Autor fast keine Fußnoten, so dass man nicht nachvollziehen kann, woher er die Informationen über die frühe Besiedelung der Insel hat. Im biographischen Kapitel nutzt er als Quelle Césaires Gedicht „Zurück ins Land der Geburt“, welches als Gedicht nicht als Quelle biographischer Umstände tauglich ist( Vgl. Arnold: A. J. Modernism and Negritude. S. 3).
Außerdem enthält der Text viele Tipp- und Zeichensetzungsfehler.
Ganz nett, um einen Überblick über Césaires Leben und Werk zu bekommen, aber für den wissenschaftlichen Gebrauch nicht zu empfehlen. Deshalb habe ich es wieder zurück geschickt.
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