Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck

Cadenas-Klagelieder im Gepäck

DIE SCHULD DER WORTE

Der Philologe späht sie aus,
schnüffelt in ihrer Vergangenheit herum,
Geburtsort und
-jahr, Stammbaum, dunkle Stellen,
Heimgang, was sie sich wünschen,
wie sie hergekommen sind,
wo sie sich verstecken, um nichts sehen zu müssen,
um welche Uhrzeit die Leiden einsetzen
oder ob sie sich immer noch einsingen.
Er ist längst mit ihnen befreundet.
Er wirft ihnen ja vor, dass aus ihnen Mätressen
geworden sind, die man vermietet
und missbraucht hat,
besonders aber, dass sie die Lippen der sie
benutzenden Diktatoren straffrei davonkommen lassen.

 

 

 

Vorbemerkung

Der venezolanische Dichter Rafael Cadenas (*1930) gilt in der hispanophonen Welt als Klassiker der spanischen Dichtung. Er trat als Kommunist der Militärdiktatur von Marcos Pérez Jiménez (1952–1958) entgegen und war gezwungen, für einige Jahre nach Trinidad und Tobago ins Exil zu gehen. Nach der Rückkehr nach Venezuela studierte er ab 1958 Philosophie und Literatur und wurde Mitglied der literarischen Gruppe Tabla Redonda (Runder Tisch). Cadenas übersetzte u.a. D.H. Lawrence, Tadeusz Różewicz, Walt Whitman, Konstantin Kavafis, Victor Segalen und Fernando Pessoa ins Spanische.
Cadenas’ Gesamtwerk erscheint bei Pre-Textos (Valencia/Spanien), zuletzt unter anderem der Auswahlband Obra entera. Poesía y prosa 1958–1995 (2007) sowie die Lyrikbände Sobre abierto (2012) und En torno a Basho y otros asuntos (2016). Er erhielt mehrere Preise, u.a. den Premio Nacional de Literatura de Venezuela und den Premio FIL de Literatura en Lenguas Romances sowie zuletzt den XII. Premio Internacional de Literatura Federico Garcia Lorca. Auf Deutsch sind bisher lediglich einige wenige Gedichte in der 2012 von Michi Strausfeld herausgegebenen Anthologie lateinamerikanischer Lyrik Dunkle Tiger sowie in der Zeitschrift alba 03/2017 erschienen.
Unsere Auswahl fokussiert Gedichte aus seinem lyrischen Gesamtwerk, bei denen insbesondere der ethische Aspekt seiner Poetik (Literatur als Leben) sichtbar werden soll. Die Auswahlausgabe Klagelieder im Gepäck unternimmt nichts weniger als den Versuch, Rafael Cadenas im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Wir haben Texte ausgewählt, deren Sprachkritik einer Art stammesgesellschaftlichen Perspektive folgt und den Leser gleichzeitig quasidialogisch mitreflektiert und -einbezieht. Klagelieder im Gepäck kann zeigen, dass Gedichte wie Sand im Getriebe jeder Art von Totalitarismus fungieren – und das ganz ohne Verkündigungston oder große Gesten, aber durchaus mit der untrüglichen Einsicht, dass die Sprache der Dichtung mehr von unserer eigenen Sprache erwartet. 

Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff, Vorwort

 

Beitrag zu diesem Buch:

Nora Zapf: „Angestellte des Vergessens“
siganturen-magazin.de

 

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Marcus Roloff – Trailer zu den Frankfurter Lyriktagen 2015.

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