I
Von den sieben Kennzeichen der Poesie, die Christopher Caudwell in einem 1937 postum veröffentlichten Essay aufzählt, lautet das erste Poesie ist rhythmisch, das zweite Poesie ist schwer zu übersetzen. Caudwell erläutert: „Wenn Übersetzungen gute Poesie sind, … sind es eigentlich Neuschöpfungen. Die von ihnen neu geschaffene poetische Emotion hat nur selten mit der vom Original hervorgerufenen Ähnlichkeit. „Statt „schwer“ stünde also genauer „schwerlich“, die These meint: Poesie ist nicht übersetzbar.
Dafür lassen sich gute Gründe sammeln. Wir stellen uns einen Nachdichter vor, der Matthias Claudius’ „Abendlied“ in seine Sprache bringen soll:
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Der Nachdichter, nehmen wir an, beherrscht das Deutsche so weit, daß er den Sinn jeder Zeile versteht, oder ihm liegt neben Angaben zu Versmaß und Reim eine wörtliche Übersetzung (Rohübersetzung, Interlinearversion) vor. Diese würde, zurückübersetzt, etwa lauten:
Der Mond ging auf,
goldene Sternchen glänzen prächtig
hell und klar am Himmel;
während der Wald schwarz dasteht und schweigt,
erhebt sich aus den Wiesen
weißer Nebel wie ein Wunder.
Resignation muß ihn befallen: aus oft gebrauchten Floskeln, die eine Art Wetterbericht ergeben, soll er gute Poesie machen! Was kann der Nachdichter tun? Wir sehen drei Möglichkeiten, oder vier.
Erstens. Er lehnt die Arbeit ab. Zweitens. Er stellt, weil ihm Geld, Gewissen oder tiefere Einsicht fehlen, ein ärmliches Surrogat her. (Das widerfuhr Puschkin, der sich nun deutsch wie ein beliebiger drittklassiger Dichter vom Range eines Tieck liest.) Drittens. Er macht das Original zum Anlaß für ein eigenes Werk, das mit jenem gewisse Wendungen, das Reimschema, die Situation o.ä. gemeinsam hat. Man nennt das oft freie Nachdichtung; der Ausdruck ist, je nachdem wie wir „frei“ definieren, leer, logisch widersprüchlich oder sinnlos. Ergebnis des Verfahrens können bedeutende Adaptionen sein, wie in Goethes West-östlichem Divan, oder Texte in der Art der Villon-Verschnitte Paul Zechs, deren Gewissenlosigkeit jeden schütteln muß, der ein Villon-Gedicht wenigstens in der Rohübersetzung gelesen hat. Die vierte Möglichkeit – der Nachdichter findet eine Fassung, deren neu geschaffene poetische Mitteilung der des Originals ähnlich ist – gliche im Sinne Caudwells ungefähr der Chance des Sisyphos, seinen Felsbrocken auf der Bergspitze zum Balancieren zu bringen: Caudwell hält sie für theoretisch. Dies auch, weil, wie unser Beispiel zeigt, ein Gedicht selbst in der Originalsprache nicht umschrieben werden kann: mit anderen oder den gleichen, nur anders geordneten Wörtern wiedergegeben, verliert es sein Leben. Wir alle mußten in der Schule Gedichte nacherzählen, kennen also den Vorgang. Sätze der gewöhnlichen Rede dagegen sind immer umschreibbar: ihr Sinn ist mit anderen Worten exakt auszudrücken. Auch Märchen, wissenschaftliche Abhandlungen und die meisten Romane verlieren, verständig nacherzählt, kaum an Substanz und überstehen darum eine Übersetzung meist ohne größeren Schaden. Wieso aber gleicht ein Gedicht einem hochempfindlichen Organismus, dessen Teile weder untereinander noch gegen fremde auszutauschen sind, ein Roman dagegen mehr einer robusten Pflanze, der man allerhand herausschneiden kann, ohne daß sie eingeht? (Man bedenke, welche Amputationen Defoes Robinson Crusoe in den Fassungen für Kinder aushalten mußte und ausgehalten hat.) Weshalb sind Auswahl und Anordnung der Wörter im Gedicht so endgültig und bleiben, bei Strafe der Zerstörung, die einzig möglichen?
Caudwells weitere fünf Merkmale heißen: Poesie ist irrational (ihre Sätze genügen nicht dem Wahrheitskriterium der Wissenschaft und erheben darauf keinen Anspruch); Poesie ist aus Wörtern zusammengesetzt (statt wie gewöhnliche Rede und Prosa aus Sätzen); Poesie ist nicht symbolisch (ihre Wörter sind nicht reine Zeichen wie die Symbole der Mathematik, die nur für Klassen, Beziehungen von Klassen usw. stehen, als Zeichen aber keinerlei eigenen, „persönlichen“ Wert haben und deshalb restlos übersetzbar sind); Poesie ist konkret (die poetischen Aussagen „Meine Geliebte ist eine rote Rose“ und „Meine Geliebte ist eine weiße Lilie“ enthalten keine Verallgemeinerung, können also gleichzeitig im gleichen Zusammenhang gelten, das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten ist auf sie nicht anwendbar); Poesie wird durch konzentrierte Affekte gekennzeichnet (die kollektive, nicht private Affekte sind).
Caldwell selbst meint, sein Merkmal Poesie ist aus Wörtern zusammengesetzt gehe aus dem zweiten Poesie ist nicht übersetzbar hervor; tatsächlich dürfte es sich eher umgekehrt verhalten. Auch die Merkmale drei, fünf und sechs betreffen das gleiche Problem. Andererseits gehören die Merkmale Poesie ist rhythmisch und Poesie wird durch konzentrierte Affekte gekennzeichnet offenbar zusammen. Wir könnten so formulieren: (1) Poesie vermittelt, weil sie rhythmisch ist, konzentrierte Affekte, (2) Poesie ist aus Wörtern zusammengesetzt, folglich irrational, nicht symbolisch und konkret, folglich nicht übersetzbar. Und, indem wir vermuten, daß (1) und (2) nicht ohne Zusammenhang existieren, sondern einander bedingen: Poesie besteht aus rhythmisch angeordneten Wörtern, darum läßt sie sich nicht übersetzen.
Wir sehen durch sie hindurch. Wohin? Auf die Welt, gespiegelt in einem Ich, das sich zum Sprecher aller gemacht hat, wer immer „alle“ diesem Ich sind. Gedichte sind Spiegel der Seele. Was wird gespiegelt? Unser Ich, das unsichtbar ist und sich sichtbar macht, indem es die Welt in einem ernsten Spiel verzerrt. Die Verzerrungen der Welt in den Bildern und Tönen der Kunst sind die Zeichen, die uns das Ich erkennen lassen – in großer Poesie als Zentrum einer Welt und als Vor-Bild menschlicher Selbstverwirklichung, welche Finsternisse immer geschildert werden. Gedichte sind Gegenstände aus Sprache. Sprache bildet nicht nur Welt ab, sondern auch Beziehung des Menschen zur Welt, die ein assoziierter Kampf um seine Freiheit ist. In diesem Kampf versichert sich das Subjekt nicht nur mit Hilfe der Wissenschaft arbeitend der Dinge, sondern auch mit Hilfe der Kunst tätig anschauend seiner selbst. Poesie verzerrt Welt in der Sprache, indem sie durch die rhythmische Organisation des Verses die Wörter auflädt, so daß diese mehr bedeuten als die Dinge, die sie benennen: das Ich, seine Affekte, Strebungen, Wünsche werden arbeitend anwesend im Benannten. So spiegelt das Gedicht in der Sprache das Ich, setzt es in Schwingungen und erzieht es, damit seine Freiheit möglicher werde.
Rainer Kirsch, Vorwort
Gibt es eine besondere Sprache der Poesie? Welchen Ursprung und gesellschaftlichen Sinn hat Poesie? Was bedeutet Rhythmus für den Menschen? Wie entsteht die poetische Mitteilung, und wie kann der Leser sie erschließen? Aus der Erörterung dieser Grundfragen entwickelt Kirsch seine Auffassung einer adäquaten, nämlich funktionalen Übersetzung. Sowohl durch seine Systematik als auch durch zahlreiche Exkurse und die Fülle an Beispielen und Detailbeobachtungen trägt der Essay zu besserem Poesieverständnis bei. Der Autor, selbst verwickelt in die Geschäfte des Dichtens und Nachdichtens, wendet sich ganz dem Leser zu. Er macht ihm Mut zum Umgang mit Gedichten, die sich jedem erschließen, der durch Lektüre und Analyse die notwendigen Kenntnisse und eine spezifische Sensibilität erwirbt. Ein optimistischer Text also, der sich nicht auf die Position des Eingeweihten zurückzieht. Ein Text, der Maßstäbe setzt, aber keine Grenzen zieht.
Aufbau Verlag, Klappentext, 1976
Rainer Kirsch gehört zu den wichtigen Lyrikern unseres Landes, und er ist einer von den Dichtern, die einen Teil ihrer poetischen Produktion an Übertragungen aus fremden Sprachen wenden: eine Vielzahl russischer und georgischer Gedichte sind von ihm ins Deutsche versetzt worden. Kirsch ist überdies ein glänzender Essayist, ein Kunst- und Künstlerkommentator, der seine Gegenstände auf knappem Raum den einleuchtendsten Schlaglichtern auszusetzen weiß. Arbeiten über Kleist, Rilke, Mickel haben dies in jüngster Zeit gezeigt. In einer kürzlich im Aufbau-Verlag erschienenen Studie vereinigt er beide Qualitäten (es sind nicht die einzigen seines Schaffens: Kirsch ist ein wahrer Universalpoet, der auch Dramen und Erzählungen, Kinderbücher und Libretti verfaßt) und gibt auf einhundertvierzehn Seiten ein theoretisches Resümee seiner Arbeit als Nachdichter, wie man so schön sagt, – eine Poetologie des Lyrikübersetzens. Das Wort und seine Strahlung lautet ihr Titel – eigentlich müßte sie „Der Satz und seine Strahlung“ heißen: Kirschs zentraler Gedanke ist, daß Lyrik übersetzbar sei, weil sie, entgegen einer These von Caudwell (in Illusion und Wirklichkeit), nicht aus Wörtern, sondern aus Sätzen bestehe, aus einem syntaktisch gefaßten, rhythmisch überhöhten Sinnzusammenhang, der als ein solcher in andere Sprachen überführbar sei. Kirsch denkt sich am Ursprung des Gedichtes „eine Horde von Steinzeitmenschen“, die sich, „in einer Höhle um ein Feuer versammelt“, durch einen rituellen Tanz auf die bevorstehende Jagd vorbereiten und in ihre von urtümlichen Schlagzeugen befeuerten Bewegungen „rhythmisch gerufene Wörter“ einfließen lassen. „Der durch die Energiezufuhr des Rhythmus angeregte psychische Strom lädt gleichsam die Wörter auf, bringt sie zum ,Strahlen‘, so daß diese wiederum das Ich in Schwingungen setzen, Bilder, Vorstellungen, Gefühle und Gestimmtheiten heraufrufen.“ Aber es bleibt, schon bei den Steinzeitmenschen, nicht bei einzelnen Wörtern, sondern:
Der vereinheitlichenden Kraft des Rhythmus würde eine bloße Reihung isolierter Wörter widerstreben – die rhythmische Energie würde sozusagen für die Überwindung der syntaktisch-semantischen Klüfte zwischen den Wörtern aufgebraucht und verschwände in den Löchern.
Zusammenfassend:
Die kleinste Einheit sprachlicher Mitteilung ist der Satz, nicht das Wort; sinnvolle Ein-Wort-Äußerungen sind entweder Sätze (,Komm!‘) oder werden aus Kontext und Situation zu Sätzen ergänzt (,Heute‘ zu: ,Sie kommt heute.‘).
„Unser Problem ist also nicht, daß Poesie nicht aus Sätzen bestünde, sondern daß die Sätze im Gedicht anders funktionieren als in gewöhnlicher Rede, Kunstprosa oder wissenschaftlichen Abhandlungen.“
Hier stock ich schon! Man hat mir zu Weihnachten, in Gestalt einer mit einem Text-Poster verbundenen Schallplatte, einen Hauptmeister deutscher Gegenwartslyrik beschert; er heißt Ernst Jandl, steht nicht in dem Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, Leipzig 1972, lebt, wie man hört, als Gymnasiallehrer in Wien und schreibt in der geistigen Spur von Karl Kraus und Christian Morgenstern (auch Nestroy kann in Anspruch genommen werden) Gedichte, in denen Sprach- und Gesellschaftskritik eines miteinander werden – auf eine Spitze getrieben, die den Hörer, auf die sie sich richtet, zwischen Heiterkeit und Erschrecken in eine wenig gemütliche Schwebe versetzt. Dieser erschrickt angesichts der Konzentriertheit, mit der ihm die Dummheit der Welt – die Dummheit in der Welt – hier vor Ohren tritt, und er fühlt sich befreit, da er sie dichtend bemeistert, da er einmal nicht sich ihr, sondern sie sich ausgeliefert findet. Die Hervorbringungen dieses unerbittlichen und keineswegs humoristisch gestimmten – Aufklärers haben die kostbare Eigenschaft, auf den verschiedensten Stufen der Bildung und Erfahrung aufgenommen werden zu können. Ich habe sie (es sind Gedichte, die erst in dem Vortrag des Autors ganz zu sich selbst kommen) einem Tapezierer vorgespielt, der mir – ein vielfach interessierter, aber keineswegs kunsterfahrener Mann – anschließend höchst animiert von den Sprachspielen erzählte, mit denen er und seine Kollegen sich in Arbeitspausen gelegentlich unterhielten, und ich habe sie einem Schulkind von dreizehn Jahren vorgesetzt, das sie stehenden Fußes auswendig lernte. Offenbar: ein wahrer Dichter unserer Zeit – man kann ihn herbeiziehen angesichts der Frage, ob Lyrik aus Wörtern oder aus Sätzen bestehe. Beides, so zeigt sich, kommt vor. Zum Beispiel:
SCHMERZ DURCH REIBUNG
frau
frfrauau
frfrfrauauau
frfrfrfrauauauau
frfrfrfrfrauauauauau
frfrfrfrfrfrauauauauauau
frfrfrfrfrfrfrauauauauauauau
Kein Zweifel, dieser Klagesang besteht nicht aus Sätzen. Ich wüßte nicht, wie man dergleichen übersetzen sollte – wenn man es nicht macht wie Jandl selbst, der einen Sprechtext namens „Teufelsfalle“ „nach motiven der textplastik DEVIL TRAP des engländers JOHN FURNIVAL“ angefertigt hat, ganz im Sinne der schönen, von Rainer Kirsch fußnotierten Anweisung Brechts:
Was im Rhythmus des Originals ein Element der Haltung des Schreibenden ist, sollte man zu übertragen suchen, nicht mehr davon. Seine Haltung zur Sprache wird übertragen, auch wenn man… nur eben dieses Tun nachahmt, sich die Gelegenheit dazu aber nicht vom Original vorschreiben Iäßt.
Es gibt andere Gedichte Jandls, die aus Sätzen bestehen, ohne auf solche zurückgeführt werden zu können, zum Beispiel:
LICHTUNG
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!
Und es gibt wieder andere, auf die Kirschs optimistische Behauptung, Lyrik bestehe aus Sätzen, offenbar zutrifft, etwa:
ANLEITUNG ZUM TOTALEN FRIEDEN
wer
will
sagen
gehen
den
mußt
stumm
machen
wer
will
hören
gehn
den
mußt
taub
machen
wer
will
sehen
gehn
den
mußt
blind
machen
wer
will
laufen
gehn
den
mußt
lahm
machen
wer
will
fliegen
gehn
den
mußt
schwer
machen
(Die Ein-Wort-Verse sind nicht Manier, sondern Sprechvorschrift; man merkt es, wenn man sie vom Autor gelesen hört.) Dieses Gedicht besteht aus richtigen Sätzen; Subjekt, Prädikat, alles vorhanden – ist seine Übersetzbarkeit damit gewährleistet? Es steht besser darum als bei den vorgenannten Beispielen, aber ich denke daran, wie heftig ich zusammenschrak, als mir neulich jemand das Schiller-Zitat präsentierte:
Und der Lebende hat immer recht.
Es ist unheimlich (Kirsch geht anfangs darauf ein, kommt aber ab davon), wie ein Vers durch die Hinzufügung eines einzigen, rhythmisch eingeordneten, keineswegs sinnwidrigen Adverbs bis auf den Grund zerstört werden kann. Wenn Poesie in der eigenen Sprache gegen die geringste Veränderung so empfindlich ist – wer steht dafür, daß mit Wörtern einer andern Sprache etwas annähernd Ähnliches hervorgebracht werden kann?
„Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!“ – so gibt Kirsch sich Miene, diese kitzlige Frage zu beantworten. Die Frage „Sind Gedichtübersetzungen herstellbar?“ ist, da es solche Übersetzungen seit alters gibt, natürlich rhetorisch (Kirsch, der sie stellt, merkt das auf Seite 11 selbst); sie verwandelt sich bei schärferem Hinsehen in die andere: „Was für Übersetzungen sind herstellbar?“, „Was kann eine Übersetzung leisten?“, ganz einfach: „Was ist eine Übersetzung?“ Die Antwort ist nicht schwer. Eine Übersetzung ist keine Reproduktion des Originals in dem Medium einer andern Sprache, sie ist kein Abguß in anderem Material – von Marmor in Bronze, von Gips in Gold. Sondern sie ist eine Annäherung an den an der Form haftenden Sinn des Originals (Kirsch nennt diese Einheit von Sinn und Form die poetische Mitteilung) mit den Mitteln einer andern Sprache. Der quantitative Charakter dieser Bestimmung hebt die Grundsatzfrage nach der Möglichkeit von Übersetzung auf; diese Frage wäre sinnvoll nur, wenn sie auf identische Übertragung, auf Reproduktion also, zielte, und wäre dann ohne weiteres zu verneinen. Annäherung aber, eine Ähnlichkeit der Gebilde im Material der verschiedenen Sprachen ist immer und apriori möglich; noch die miserabelste Übersetzung ist Übersetzung, wenn sie einen wesentlichen Zug mit dem Original teilt (wenn aber nicht, ist sie keine Übersetzung), und noch die beste Übersetzung, mit der größtmöglichen Annäherung, ist bloß Übersetzung, das heißt etwas Ähnliches, also etwas anderes. Die ideale Übersetzung (von der Kirsch, dem logischen Problem ausweichend, meint, daß sie so selten sei wie die ideale Erzählung oder der ideale Essay) kann es nicht geben: sie müßte vollkommene Annäherung, also Identität, herstellen. Auf Lyrik bezogen: Das übersetzte Gedicht wird immer ein Gedicht des Übersetzers sein, von einem Originalgedicht in dessen Sprache dadurch unterschieden, daß es eigene Worte für fremde Gedanken, genauer: für von fremden Worten eingegebene Gedanken findet. So löst sich der sich prinzipiell gebende Ansatz in die praktische Frage auf, wie eine gute Lyrik-Übersetzung beschaffen und was bei ihrer Anfertigung zu beachten sei. Kirsch schöpft aus reicher Kenntnis und Erfahrung; was er ihr an Verallgemeinerungen abgewinnt, ist von großem Interesse. Es mündet in die Forderung, eine Nachdichtung (Kirsch verwendet die Termini Übersetzung, Übertragung, Nachdichtung mit Recht synonym) müsse „die poetische Mitteilung herstellen“, „also ein gutes neues Gedicht sein“. „Da sie aber an Stelle von etwas steht, sollte sie nicht vortäuschen, sie wäre ein originales Werk. Züge von Fremdheit, die auf das Alter der Vorlage, die Herkunftssprache oder andere Besonderheiten weisen,… machen sie reicher und genauer.“ Walter Benjamin, in dem Vorwort zu seiner Baudelaire-Übersetzung („Die Aufgabe des Übersetzers“, 1923), hat das mit andern Worten gesagt:
Es ist… das höchste Lob einer Übersetzung nicht, sich wie ein Original ihrer Sprache zu lesen. … Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht…
Kirsch zieht diesen Aufsatz nicht heran und kommt dadurch auch um das schöne Pannwitz-Zitat, das Benjamin zu dieser Frage beibringt:
Unsere Übertragungen, auch die besten, gehn von einem falschen Grundsatz aus, sie wollen das Indische, Griechische, Englische verdeutschen, anstatt das Deutsche zu verindischen, vergriechischen, verenglischen. Sie haben eine viel bedeutendere Ehrfurcht vor den eigenen Sprachgebräuchen als vor dem Geiste des fremden Werks… Der grundsätzliche Irrtum des Übertragenden ist, daß er den zufälligen Stand der eigenen Sprache festhält, anstatt sie durch die fremde gewaltig bewegen zu lassen.
Der Begriff der poetischen Mitteilung des Gedichtes, als der in ihm waltenden Einheit von Sinn und Form, wird von Kirsch auf das schlüssigste entfaltet. Es ist ein fruchtbarer Terminus, geeignet, das Gegenüber von Form und Inhalt aufzulösen, an dem Benjamin festhält, indem er es glossiert. Nach der profunden Analyse von vier Übersetzungen eines leider wenig interessanten Gedichtes von Villon faßt Kirsch das Verhältnis von Form und Inhalt, „Aussage“ und „Dichterischem“ in die dialektische Bestimmung:
Wenn der – Hegelsche – Satz (der Satz, daß die Form die ihres Inhalts sei) für Poesie einen Sinn hat, dann den, daß ,die Form‘ (das strukturierte Gesamt in einem Werk verwendeter Verfahren) den Inhalt des Gedichts (die poetische Mitteilung) erst hervorbringt. Anders wäre ,der Inhalt‘ gleich der Interlinearversion, und niemand brauchte Nachdichtungen. Insgeheim indes ernennt der mehr gegen als mit Hegel zitierte Satz ,die Form‘ zu… einer Art Zaubermütze, die der Dichter auf die Interlinearversion stülpt und damit Prosa zur Poesie hext: die Form muß dann nach ihrer Funktion nicht befragt werden, da sie überall gleich funktioniert.
Kirsch weist, namentlich an der verschiedenen Bedeutung des Reimes im Französischen und im Deutschen, nach, daß dem nicht so ist, und resümiert am Ende des 5. Kapitels:
Für die Übersetzbarkeit von Gedichten hätten wir so bisher zwei Gründe gefunden. Der erste wäre, daß Poesie nicht ,aus Wörtern‘, sondern aus Sätzen besteht, und daß sich diese Sätze von solchen der gewöhnlichen Rede nicht prinzipiell unterscheiden. Der zweite ist, daß die besonderen Ordnungsweisen (Verfahren), die die Poetizität eines Textes herstellen, keine festen Werte sind, sondern daß ihr Beitrag zur poetischen Mitteilung abhängt von der Struktur einer Nationalsprache, der nationalen poetischen Tradition und der Stellung im Verfahrensgefüge: Verfahren werden im Dienst einer poetischen Mitteilung funktional verwendet. Ist das richtig, sind sie aber austauschbar. Ein Verfahren kann das andere ersetzen, wenn es für die poetische Mitteilung annähernd das gleiche leistet wie das originale, die Funktion eines Verfahrens kann in der Übertragung von anderen Bauteilen des Gedichts übernommen werden.
Also nichts mit dem Unfaßbaren, Geheimnisvollen der Poesie. Form, das ist ein „hierarchisch geordnetes Ensemble“ von Verfahrensweisen, man kann es (Kirsch führt das im 7. Kapitel aus) teils intuitiv, teils analytisch erfassen und, wenn man über die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, auf der Höhe der „Sprache zeitgenössischer Poesie“ (was das sei und daß keine andere in Frage komme, erfahren wir bei Gelegenheit der Villon-Analyse) nachbauen – der Nachdichter als ein Verfahrenstechniker des lyrischen Wortes. Man sieht: ein entschlossener Rationalist nimmt hier die Feder, um auf einem Gebiet, auf dem der analytische Verstand sich gemeinhin als unzuständig abgewiesen findet, Ordnung und Zuversicht zu schaffen. Wenn Kirsch von der „Valenz“ eines lyrischen Verfahrens in den „Poesiesystemen“ der verschiedenen Sprachen spricht oder in einer Fußnote bemerkt: „Celans funktionale Assonanzentechnik ist in der jüngeren DDR-Nachdichtung inzwischen weiter entwickelt worden“, so hat man den Eindruck, Laboranten der Wortkunst über die Schulter zu sehen: Radiochemikern des strahlenden Wortes. Und das ist ein heilsamer Eindruck gegenüber dem landläufigen Vorurteil von der Libertinität der poetischen Existenz, der Freiheit des Dichters, die Dinge – diese oder jene – so oder so, mehr verständlich oder weniger, auszudrücken. Der Künstler ist dem Wissenschaftler näher, als man gemeinhin glaubt; so wenig ein Physiker heute von dem Phänomen des Lasers absehen kann, so wenig kann ein Lyriker über eine Erscheinung wie Celan hinweggehen. Wie Wissenschaft eine globale Verrichtung ist und nur als solche funktionieren kann, so ist Kunst dies, auch die in sprachliche Grenzen gebundene der Literatur, und kann nur in diesem Bezug sich als nationale schöpferisch entfalten. „Heute“, sagt Kirsch, im Anschluß an einen Satz aus dem Kommunistischen Manifest;
Heute ist Literatur Weltliteratur, und alles in Kunstabsicht Geschriebene hat an ihrem, im Gang der Geschichte jeweils anders leuchtenden Kosmos sich zu messen…
In diesem frischen, weiträumigen Ton räumt Kirsch manchen Gedankenschutt weg – in, aber auch neben dem Gang seiner Untersuchung; der Wert des Büchleins liegt nicht zuletzt in den Abschweifungen, die es sich gönnt. Der Keller der Fußnoten ist reich bestückt; es fehlt nicht an kaustischen Weltbemerkungen, und auch schäumender Sekt ist in den Regalen bereitet: an einer Stelle erwägt der Autor, ob Musik nicht vielleicht „das vielfach vermaschte, hierarchisch geordnete Zusammenspiel von Molekülen, Molekülketten, Zellen, Organen, das heißt Grundstrukturen des Lebensprozesses“ spiegle. In die Darstellung eingelassen sind eine Reihe von Einzelinterpretationen, die den theoretischen Gedankengang sowohl fundieren, als auflockern. Ein schönes Gedicht von Mickel, ein schlechtes von Hans Baumann, eine glänzende ,Nachdichtung‘ von Adolf Endler, eine fragwürdige von Ernst Schwarz, eine miserable von Paul Zech – alle diese Texte werden in ihren Vorzügen respektive Fehlern sinnreich ausgebreitet. Die theoretische Explikation, in die diese Exempel eingebettet sind, greift mit souveräner Gebärde nach neuester Wissenschaft – Verhaltensforschung und Linguistik, Psychologie und Informatik werden herangezogen, um uns über Ursprung und Bedeutung von Sprache, Musik, Rhythmus zu unterrichten. Auf den immer noch unerschlossenen Zusammenhang von Lyrikhören und Adrenalinausschüttung fällt beiläufig ein Licht (Hanns Eisler wollte dergleichen immer von der Musik wissen), und nebenher bekommen wir auf einleuchtende Weise das Krimi-Bedürfnis des modernen Menschen erklärt: als naturgeschichtlich begründete Reaktion auf die Sicherheit, mit der die technische Zivilisation ihre Bewohner umgürtet.
Kirschs Darstellung gipfelt in einer Zusammenfassung aller jener Faktoren, deren Bedeutung für die poetische Mitteilung er zuvor entwickelt hat. Hier findet sich der so häufig mißverstandene Begriff der Verfremdung auf seine etymologische Wurzel zurück- und in seiner umfassenden Bedeutung ausgeführt:
Während… in gewöhnlicher Rede benannte Dinge und Sachverhalte normalerweise nur wiedererkannt, das heißt weitgehend automatisch aufgenommen werden, läßt das Gedicht sie… plötzlich sehen. Bereits 1916 hat das Viktor Schklowski Verfremdung (ostranenie) genannt; der Ausdruck meint, daß uns Bekanntes plötzlich ,fremd‘ wird, als sähen wir es zum ersten Mal. Da es nun naheliegt, rhythmische und andere sprachliche Verfahren, die sich als poetisch wirksam erweisen, wiederholt zu verwenden, ergibt sich die Tendenz, Verfahrensensembles zu kanonisieren; diese Tendenz wirkt in der Regel, bis ein Verfahrensensemble sich beim Publikum eingeschliffen hat, folglich nicht mehr verfremdend wirkt. Ist dieser Punkt erreicht, muß der Dichter, will er Neues so sagen, daß es als Neues wahrgenommen wird, das Verfahrensensemble umorganisieren, also aus dem Kanon ausbrechen.
Nun wissen wir also endgültig, warum im Theater eine Spielweise, die sich vor zwanzig Jahren zu Recht verfremdend nannte, heute gar nicht mehr so wirkt.
Dreifach ist nach Kirsch die Funktion des Rhythmus im Gedicht: er bewirkt „eine allgemeine Erhöhung der Affektlage (Erregungsbereitschaft)“, eine Verlangsamung der Aufnahmegeschwindigkeit und „eine affektive Bewertung des semantischen Materials“. Was „im Roman die Gesamtheit der Fabel, im Drama Zusammenprall, Weg und Schicksal der Figuren leisten, bewirken im Gedicht wenige in Verse gebrachte Sätze“: daß wir nämlich „Wortfolgen, die in gewöhnlicher Rede vielleicht nicht anders lauten würden, in einem anderen Licht sehen…: die Sätze eines Gedichts bedeuten plötzlich, welch kleiner Erfahrungsaussschnitt immer geschildert wird, die Welt, wie sie von einem Subjekt erlebt wird. Dieses ,so ist die Welt‘ ist als Hintergrund aller Kunst eigen: jedes Kunstwerk, das den Namen verdient, ist als Ganzes genommen Metapher.“
Man sieht: es ist nicht nur ein aufklärender, es ist auch ein aufgeklärter Rationalist, der von der Dichtkunst Muse hier den Schleier lüftet und ihr strukturiertes Gesamt (Kirsch geht so weit, dergleichen als ein „Holon“ zu bezeichnen) in a) bis e) aufteilt. Ein aufgeklärter Rationalist: auch die dem Kunstwerk im allgemeinen und dem Gedicht im besonderen eignende Unbestimmtheit, jene „poetische Vieldeutigkeit“, die von der Phantasie des Lesers besetzt wird, hat bei ihm ihren Platz, der nicht im Rätselhaften belassen wird. „Poetische Vieldeutigkeit“, meldet eine Fußnote, „ließe sich informationstheoretisch beschreiben als Bandbreite der assoziativen Aura, linguistisch als Menge der objektiv… intendierten Konnotationen…“ Der rationale Impetus, der hier unter dem Strich auch einmal eine Kapriole schlägt, hat als ein Guß kalten logischen Wassers eine Art poetologischer Kneippkur, vor einem so schleierhaften Metier wie dem dichterischen zweifellos etwas Erfrischendes. Ästhetik unter konsequent anthropologischem Aspekt, als ein naturwissenschaftlich gespeistes Forschungsgebäude, in dem das Unbegreifliche, das uns hinanzieht, unter a1 und e2 vorkommt – das ist, wenn es so intelligent betrieben wird wie von diesem poeta doctus, lüftend in mancherlei Sinne.
Das Bestreben, mit der vorgesetzten Aufgabe ganz und gar zu Rande zu kommen, führt, im Zusammenhang mit der inneren Unstimmigkeit dieser Aufgabe (nämlich die Möglichkeit der idealen Übersetzung zu erweisen) im 6. Kapitel freilich an die Grenzen des Verfahrens. Kirsch geht auf eine Grundfrage des Übersetzens zu, die Benjamin in die Unterscheidung des „Gemeinten“ von der „Art des Meinens“ gefaßt hat:
In ,Brot‘ und ,pain‘ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben…
Hier ist darauf gedeutet, daß „die Worte einen Gefühlston mit sich führen“, der an ihnen selbst, an dem Geist der jeweiligen Sprache haftet und sich nicht übertragen läßt, wenn man das Gemeinte, den Gegenstand, in das Wort der anderen Sprache faßt. Kirsch, der das Wort vom Gefühlston in ganz anderem Zusammenhang, bei der Untersuchung der Funktion des Rhythmus, einsetzt (man hat den Eindruck, als ob der Benjamin-Aufsatz unbewußt in ihm spuke), befaßt sich mit diesem Problem nicht anhand von Benjamin, sondern von Wilhelm v. Humboldt, der ihm mit andern Worten Ausdruck gegeben hat:
Ihre (der Sprachen) Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst…
„… jede (Sprache) zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt.“
Kirsch faßt diese Sätze nicht in ihrem wesentlichen und tiefen, sondern in einem platten und vordergründigen Sinn und widerlegt sie in diesem. Er weist darauf hin, daß Weltansichten nicht an Sprachen gebunden seien (was nicht trifft, denn es geht hier um Sprache als Weltansicht); auf die Meinung, ein ins Russische übersetzter Shakespeare sei ein russifizierter Shakespeare, reagiert er mit der Erwägung, daß Pasternaks Shakespeare-Übersetzungen zu klangschön geraten seien. Das heißt, er lenkt das qualitative Problem in ein quantitatives um (so auch, wenn er sich anschickt, den mit Weltsicht einer nationalen Sprache korrespondierenden Begriff des Nationalcharakters „statistisch“ aufzulösen) – dies deshalb, weil er es für einen Einwand gegen die Übersetzbarkeit dichterischer Texte hält. Die prinzipielle Schranke, auf die mit der unbestreitbaren Feststellung, Shakespeare auf russisch sei nicht mehr Shakespeare, hingewiesen ist, bezeichnet aber Wesen und Reiz von Übersetzung, die Anverwandlung, nicht Reproduktion bedeutet. Shakespeare russisch gegenüber Shakespeare englisch ist etwas bezüglich Verschiedenes, wie eine Klaviersonate, eingerichtet für Streichquartett. Die Verschiedenheit in der „Art des Meinens“, die Benjamin an ,pain‘ und ,Brot‘ exemplifiziert, lenkt Kirsch ab in eine der verschiedenen „assoziativen Streubreite“ dieser Wörter, wie sie auch innerhalb einer Nationalsprache vorfalle:
Für den Elsässer… hat das Wort ,Kartoffel‘ ein anderes Erlebnisfeld als für den Sachsen, bei dem Satz ,Es gibt Klöße‘ stellt der Thüringer sich etwas anderes vor als der Bayer. … Die Konsequenz der These wäre, daß überhaupt kein Mensch einen anderen verstehen kann, weil jeder… beliebige gesprochene und geschriebene Sätze immer auf seine Weise begreift.
Das ist messerscharf geschlossen, aber es trifft an der Humboldt-Benjaminschen Feststellung vorbei, die nicht Gegenständen, sondern deren Sprachgestalt gilt.
Von dem Problem der Streubreite kommt Kirsch zu der Feststellung, „daß zwar die gesamte zu einer Zeit bekannte Realität von den Wörtern der einen wie anderen Sprache ,abgedeckt‘ wird, der Geltungsbereich der einzelnen Wörter (die bezeichnete Klasse von Gegenständen, Tätigkeiten usw.) aber in verschiedenen Sprachen nicht gleich sein muß. Sprachen als Ganzes sind also – bei annähernd gleicher Entwicklung der Produktivkräfte – kongruent, die einzelnen Wörter müssen es nicht sein.“
Bei Benjamin lesen wir an anderer Stelle, statt wie hier von der Einheit des sprachlich Gemeinten, von der des sprachlichen Meinens. Dieses andere Denken von Einheit geht nicht von dem Gegenstand (der Aussage), sondern von dem Mittel (der sprachlichen Erscheinung) aus:
Worin kann die Verwandtschaft zweier Sprachen, abgesehen von einer historischen, gesucht werden? … alle überhistorische Verwandtschaft der Sprachen beruht darin, daß in ihrer jeden als ganzer jeweils eines, und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache.
„Übersetzung also… verleugnet nicht ihre Richtung auf ein letztes, endgültiges und entscheidendes Stadium aller Sprachfügung. In ihr wächst das Original in einen gleichsam höheren und reineren Luftkreis der Sprache hinauf, in welchem es freilich nicht auf die Dauer zu leben vermag, wie es ihn auch bei weitem nicht in allen Teilen seiner Gestalt erreicht, auf den es aber dennoch in einer wunderbar eindringlichen Weise wenigstens hindeutet als auf den vorbestimmten, versagten Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen.“
Die Vorstellung einer „wahren Sprache“, die zugleich die „Sprache der Wahrheit“ sei, pointiert die Erkenntnis, daß ein Übersetzen, das sich damit begnügt, Sinn und Mitteilung, wie dicht, wie komplex bedingt diese immer erfaßt seien, zu übertragen, die also die fremde Textgestalt der eigenen Sprache tunlichst anverwandelt, nichts für die Annäherung und gegenseitige Befruchtung der Sprachen als von Mitteilungsweisen leistet. Daß also Shakespeare, ins Russische versetzt, erst dann produktiv übertragen sei, wenn nicht nur ein russisch gewandeter, ins Russische gewandter Shakespeare dabei herauskommt, sondern der Geist des Englischen sich dabei dem des Russischen verbindet. Kirsch sieht dieses Problem auch, aber es stellt sich ihm rein praktisch, als Dichter. Benjamin wird es zum zentralen theoretischen. Daß „das große Motiv einer Integration der vielen Sprachen zur einen wahren“, „in welcher… die Sprachen selbst miteinander, ergänzt und versöhnt in der Art ihres Meinens, übereinkommen“ – daß diese Konstruktion so fiktiv nicht ist, wie sie sich ausnimmt, zeigt ein Blick auf die Musik, auf eines ihrer höchsten Werke. In der „Kunst der Fuge“ hat Bach die Stimmen pur, das heißt abstrakt, notiert, ohne Bezug auf bestimmte Instrumente. Jede klangliche Realisierung muß das Werk aus der absoluten musikalischen Sprache, in der es geschrieben ist, in die empirische einer bestimmten Instrumentierung übersetzen. So gelten Benjamin die bestehenden Sprachen als Instrumente, deren Sosein aufgehoben ist in der Sphäre einer einzigen „reinen“ Sprache und deren transponierendes Zueinander-in-Beziehung-Setzen müßig wäre, wenn es nicht den Bezug auf dieses Überwirklich-Gemeinsame durchblicken ließe.
Es bleibt erstaunlich: der Dichter – Kirsch – spricht wie ein Wissenschaftler, der Wissenschaftler – Benjamin – wie ein Dichter über das Übersetzen. Bei der Betrachtung dieses eigenartigen dichterischen Geschäftes hält Kirsch sich an Gegenwart, Sinnvermittlung, Kommunikation – Benjamin, Übersetzer auch er, ans Große Alte („Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat“) und an Übersetzung als reine Form. Streng logisch der Poet, streng sibyllinisch der Philosoph. Wir halten es mit beiden, indem wir es für wünschenswert halten, die Art ihres Meinens – die, immerhin, durch die eine Sprache, in der sie sich äußert, die deutsche, vermittelt ist – füreinander durchlässig zu machen: die, welche die Vordergründe aufklärt, und die, welche die Hintergründe deutet.
Friedrich Dieckmann, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1978
– Gespräch mit Rainer Kirsch. –
Gisela Roethke: Mich interessiert, ob es Brüche gab in Ihrem Leben und Schreiben, die aus bestimmten politischen oder persönlichen Entwicklungen resultieren.
Rainer Kirsch: Aus der Ferne erscheinen einem „Brüche“ ja leicht als Kontinuität, weil: alles geht wie es geht, und hinterher wirkt es ganz logisch. Aber sicher war der sowjetische XX. Parteitag ein Bruch, er hat mit ausgelöst, daß ich anfing zu schreiben. Andererseits: Ich war damals einundzwanzig, in dem Alter schrieben viele junge Leute Gedichte, sozusagen als Selbstvergewisserung beim Erwachsenwerden. Der nächste Bruch war dann der Rausschmiß von der Jenaer Universität.
Roethke: Sie studierten Philosophie, und es ging um Ernst Bloch?
Kirsch: Um Bloch sehr am Rande. Es ging eigentlich um den XX. Parteitag, und wie man sich dazu stellen solle. Außerdem um Gedichte, die ich an die Institutswandzeitung gehängt hatte. Sie hingen dort einen Tag, dann brach in Ungarn der Aufstand aus, und die Texte wurden plötzlich als geistige Vorbereitung zur Konterrevolution gelesen. Daß ich sie aufgehängt hatte, kam so: Es gab damals eine von der FDJ herausgegebene Studentenzeitung namens FORUM, die 14tägig erschien und im Zuge des ideologischen Tauwetters auch neue Gedichte druckte. Eins darunter war von mir, es hieß „Einsamkeit“ und ging:
Am Rand der Nacht zerbröckelt grau die Erde
Und tropft hinab ins Nichts. Die Flut schlägt dumpf.
Verstummt und gläsern stapft die blinde Herde.
Der Mond bleckt kalt. Die Himmel hängen stumpf.
Verirrtes Wort in ausgebrannten Welten
Zerflattert jäh am Fels. Der Ton bricht matt.
Die Nebeltiere in verharschten Zelten
Zerschweigen ihn. Man walzt die Straße glatt.
Roethke: Na ja, die frühen Anfänge.
Kirsch: Immerhin ist ein gewisser Formwille erkennbar.
Roethke: Und daß Sie Georg Heym gelesen hatten.
Kirsch: Van Hoddis, Trakl und Heym sowieso, aber auch Stephan Hermlin. „Verharschte Zelte“ klingt hermlinsch. – Das stand also im FORUM, unser ganzes Philosophisches Mini-Institut las es, und meine Kommilitonen fragten ratlos, was es bedeute. Da las ich ihnen ein zweites Gedicht vor, das ich auch ans FORUM geschickt hatte, ohne daß es gedruckt wurde, es hieß „Revoluzzeure“:
Sie tragen
Ihr Bewußtsein im Knopfloch
Und das Parteibuch
Entsichert in der Hosentasche.
Schwingend
Die Keule ihrer Erfahrungen
Predigen sie stolz
Den letztverordneten Katechismus.
Hätten sie ein Gehirn
Sie ließen es rot anstreichen
Und trügen es als Fahne
Vor sich her.
„Ja ja ja“, riefen alle, „jetzt verstehen wir auch das erste.“ Der Wandzeitungsredakteur bat mich, ihm beide Texte nebst einem kleinen Kommentar zu geben, heftete alles an und freute sich, so einen interessanten Beitrag zu haben. Aber am nächsten Tag war Ungarn, etliche Kommilitonen umstanden kämpferisch grunzend die Wandzeitung, und einer riß meine Gedichte ab. Das Ganze gab dann für mich ein Parteiverfahren.
Roethke: Das wie endete?
Kirsch: Glimpflich, mit einer Rückversetzung in den Kandidatenstand. Aber der SED-Kreisleitung schien das zu milde. Und als die Sache neu verhandelt wurde, hatte ich inzwischen ein zusätzliches Vergehen auf dem Kerbholz – ein moralisches. „Moralisch“ meinte damals im Parteijargon: die sexuellen Bräuche betreffend. Das wurde in den fünfziger Jahren überaus ernst genommen; betrogene Ehefrauen konnten sich bei der Partie über ihre fremdgehenden Gatten beschweren. Die wurden meist verdonnert, nach gehöriger Selbstkritik „die Ehe zu festigen“, konnten aber auch strafversetzt werden. Ich war unverheiratet, hatte indes eine Freundin jüngeren Semesters, und das Philosophische Institut fuhr damals jeden Frühsommer zur Prüfungsvorbereitung in ein Erholungsheim im Thüringer Wald. Dort schlief meine Liebste in einem Vierbettzimmer, ich schlich mich nachts zu ihr, und wir vergnügten uns, glaube ich, ziemlich leise; gleichwohl beschwerten sich die drei anderen am nächsten Tag, sie hätten Ungeheuerliches leiden müssen. Das wurde nun bei der Neuverhandlung des Parteiverfahrens „dazugerechnet“.
Roethke: Sie hatten sich als „dekadent“ erwiesen?
Kirsch: So hieß damals ein Modevorwurf. Die politische Verfehlung wäre allenfalls hingegangen; aber das! Man kann sich schwer vorstellen, welche Unduldsamkeit da hochschwappte. Ein Assistent, der in Moskau studiert hatte, erzählte mit bebender Stimme, im dortigen Studentenheim hätte ein Ehepaar gewohnt, dessen Zimmertür stets unverschlossen blieb – weder tags noch nachts habe man sie bei einem anstößigen Beieinander betroffen.
Roethke: Wie traurig!
Kirsch: Aber auf der Versammlung saßen hundert halbwegs intelligente Menschen, die haben das geschluckt.
Roethke: Keiner hat gelacht?
Kirsch: Wir lachen heute darüber, obwohl es bei Talk-Shows und Presse„enthüllungen“ ähnlich Irrwitziges gibt. Meine Sache endete mit Parteiausschluß und Relegation, und ich durfte mich, wie damals üblich, „in der Produktion bewähren“. 1957 bis 1960 habe ich je ein Jahr in einer Druckerei, einem Chemiewerk und in der Landwirtschaft gearbeitet. Das hatte insofern sein Gutes, als es mich aufs Schreiben warf. Man braucht ja in der Literatur, um halbwegs Professionalität zu erlangen, Vorübungen; es gibt aus dieser Zeit ungefähr vierzig Gedichte, die meisten eher unpolitisch. Jedenfalls hege ich gegenüber denen, die mich damals geext haben, keine Rachegefühle. Stellen Sie sich vor, ich hätte mein Philosophie-Examen gemacht –.
Roethke: Und eine Universitätslaufbahn eingeschlagen.
Kirsch: Ja, aber als was? Als Lehrer im Grundstudium für Marxismus-Leninismus. Da wäre ich auch irgendwann rausgeflogen, der Umweg blieb mir erspart. Übrigens habe ich die körperliche Arbeit nie als demütigend empfunden, sie war nur – ausgenommen die Arbeit auf dem Acker, die habe ich manchmal genossen – langweilig. Das Eigentliche kam danach: ein bißchen ausruhen, dann Klavier üben und schreiben. Ich wundere mich heute, wie ich bei einem so vollen Sechzehnstundentag auch noch fertigbrachte, mich zu verlieben.
Roethke: Sie und Sarah haben 1958 geheiratet…
Kirsch: Ich habe 1958 die Biologiestudentin Ingrid Bernstein geheiratet; ein Bekannter aus meiner Jazz-Zeit nannte sie, als ich sie ihm vorstellte, spontan Sarah, und der Name blieb. Wir waren damals auf stille Weise projüdisch, und Ingrid klang so naiv nordisch.
Roethke: Zählt die Heirat für Sie zu den Brüchen?
Kirsch: Überhaupt nicht.
Roethke: Und Ihre beiden Scheidungen?
Kirsch: Die trafen mich auf je verschiedene Weise. Aber von einer gewissen Stufe der Professionalität an schlägt, ob Sie sich elend fühlen oder prächtig, nicht auf die Texte durch. Womöglich trinkt man mehr und merkt dann, wie wichtig der eigene Körper ist, geht also mehr an die Luft und fängt an Sport zu treiben. Den Text berührt das nicht, der muß werden wie er muß. Der nächste Bruch, chronologisch zu bleiben, war die Hermlin-Lesung 1962.
Roethke: Stephan Hermlin war Sekretär für Sprache und Dichtkunst der Akademie der Künste und hatte im SED-Zentralorgan NEUES DEUTSCHLAND junge Leute aufgefordert, ihm Gedichte einzusenden…
Kirsch: Ja, er bekam an tausend Gedichte, und las ungefähr fünfzig auf einem Akademie-Abend vor vierhundert Leuten. Sarah und ich waren unter den Autoren, die er ausgewählt hatte. Die Veranstaltung wurde ein ideologisches Ärgernis, es gab heftige Angriffe im SONNTAG, einer kulturpolitischen Wochenzeitung. Aber man konnte, in einer relativ unduldsamen Zeit, öffentlich antworten! Ich habe das getan, der SONNTAG-Chefredakteur druckte es mit einer Gegen-Antwort. Wir „jungen Lyriker“ wurden dadurch erstmals einem größeren Publikum bekannt. Das weckt natürlich leicht Illusionen.
Roethke: Welche Illusionen?
Kirsch: Daß man Politikern nur geduldig erklären müsse, was zu einem richtigen Sozialismus gehört, dann würden sie schon loslegen. Und daß Massen mittels Kunst rasch und und wirksam zum Mitdenken anzustiften gingen. Beide Irrtümer verflüchtigten sich mit dem berühmten 11. ZK-Plenum 1965. Damals änderten sich auch Ton und Gegenstände meiner Gedichte; den Bruch markiert das Gedicht „Auszog das Fürchten zu lernen“ das sich heute als Pendant liest zu Karl Mickels „Odysseus in lthaka“.
Roethke: Hat der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 bei Ihnen einen weiteren „Schub“ ausgelöst, wie das bei manchen DDR-Autoren der Fall war?
Kirsch: Wenn Sie „Auszog das Fürchten zu lernen“ lesen, wissen Sie, daß es keines Schubs bedurfte. Zwei Großmächte hatten sich verabredet, den status quo aufrechtzuerhalten. Es war schon viel, daß dabei kein Blut floß.
Roethke: Damals, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, haben Sie eine Reihe von Porträts geschrieben. Ich finde interessant, wie Sie da vorgehen, Sie schieben immer wieder eigene Betrachtungen ein.
Kirsch: Porträts zu machen, hatte mir der Aufbau-Verlag vorgeschlagen.
Roethke: Das gehörte noch zum Programm von Bitterfeld, oder?
Kirsch: Eher zu den Nachwehen. Die Erste Bitterfelder Konferenz hatte ja verlangt, Schriftsteller sollten zu den Arbeitern gehen, um das „wirkliche Leben“ kennenzulernen. Das versuchten etliche, nur entsprach das Ergebnis nicht den Erwartungen. Selbst Reportagen von Parteitreuesten enthielten noch zu viel Kritisches. Also korrigierte die Zweite Bitterfelder Konferenz die Erste; die Schriftsteller, forderte Ulbricht, sollten sich, statt sklavisch Tatsachen abzuschildern, auf die Ebene der Planer und Leiter begeben. Als Sarah und ich 1961 für ein Jahr LPG-Mitglieder in Schafstädt wurden, haben wir nicht Rüben gehackt, sondern bei Vorstandssitzungen und Brigadebesprechungen zugehört und versucht, ein bißchen Kulturarbeit zu machen; manchmal haben wir auch die Stenotypistin vertreten. Aber 1967 hat von Bitterfeld schon kaum mehr wer geredet. Die Aufbau-Leute hatten sich vielmehr auf den „Kern“ von Bitterfeld besonnen – daß ein Autor sich ihm unbekannten Bereichen zuwendet, ist ja nicht töricht. Und auf einmal geisterte ein Name durch die Gespräche: La Bruyère, Der hatte als klassisch geltende Porträts geschrieben. „Rainer“, sagte der Aufbau-Lektor und schwenkte ein Schnapsglas, „sei ein Kerl und werde der La Bruyère unserer Zeit.“ Weshalb, schließlich, sollte ich das nicht versuchen?
Roethke: Haben Sie dann La Bruyères Schriften studiert?
Kirsch: Das will ich noch immer nachholen.
Roethke: Trotzdem habe ich vor kurzem Ihre über zwanzig Jahre alten Porträts gespannt gelesen, und öfter laut gelacht bei der Lektüre.
Kirsch: Dann funktionieren sie wohl noch. Ich hatte ja für jedes nicht nur die Großform zu erfinden, auch die Binnenstruktur sollte für „drive“ sorgen. Wer einen Chirurgen oder Verhaltensforscher porträtiert, kommt um trocken Fachliches nicht herum, braucht also allerei Gedankenkurven. Dramaturgie, meint mein Kollege Hacks, ist geschicktes Verteilen der einem Kunstwerk unvermeidlich innewohnenden Langeweile.
Roethke: Die Porträts sind zwischen 1967 und 1971 entstanden, aber erst 1974 veröffentlicht. Gab es Schwierigkeiten mit dem Druck?
Kirsch: Ja, der Aufbau-Lektor war überaus ängstlich und hatte dafür Gründe. „Die Geschichte verläuft in Zickzackbewegungen, bei Zack mußt du den Kopf wegnehmen“, ging ein DDR-Spruch damals. Mein Schweißtechniker-Porträt etwa lebt vom Wechsel zwischen Alltagsbericht, Biografie und Rückgriffen auf die alttestamentlichen Propheten, erst im Schlußsatz kommt alles zusammen; da wollte dieser Lektor den Prophetenstrang raushaben! Ich hatte mich also schon abgefunden, daß aus dem Buch nichts wird, und ärgerte mich entsprechend. Schließlich habe ich die drei fertigen Porträts auf Matrize tippen lassen – von der Sekretärin im hallischen Schriftstellerverband, die machte das nach Feierabend – und siebzig Manuskripte an Bekannte verschickt. Zufällig gelangte ein Exemplar zu Hubert Witt, der bei Reclam Leipzig Lektor war. Und als 1973 meine Komödie „Heinrich Schlaghands Höllenfahrt“, die Reclam hatte drucken wollen, verboten wurde, lief der Verlagsleiter Hans Marquardt, ein kunstliebender Pommer, den Zuständigen die Tür ein und verlangte, dann müsse eben etwas anderes von Kirsch kommen. Die Porträts erschienen dann unter dem Titel Kopien nach Originalen bei Reclam Leipzig und parallel bei Wagenbach in Westberlin.
Roethke: Ich will nicht auf dem Begriff „Bruch“ bestehen; immerhin – gab es bei Ihnen etwas ähnliches nach der Biermann- Ausbürgerung?
Kirsch: Es gibt zwei Texte vom November 1976, die sich darauf beziehen.
Roethke: Sie meinen „Kleists Selbstmord“?
Kirsch: Und das Sonett „Gedächtnis Mandelstams“. Das – außer einem Brief an den Ministerpräsidenten – waren meine Reaktionen. Im übrigen dachte ich wie viele meiner Freunde:
Jetzt schmeißen die Biermann raus, und wir sollen hinterher.
Unter uns galt dann die stillschweigende Abrede: Wer in der DDR nicht mehr arbeiten kann, geht; wer kann, bleibt. D.h. die Wegsiedelnden nahmen keinem Gebliebenen übel, daß er blieb, und umgekehrt. Das galt lange, bis Mitte der achtziger Jahre – auch wenn es manche jetzt nicht mehr wahrhaben wollen. Ein Kollege reist sogar herum und verkündet, jeder Autor, der nicht vor der Wende in den Westen ging, sei „irreparabel geschädigt“. Zum Glück habe ich schon in zu DDR-Zeiten gelernt, Sprüche von Chefideologen mit Humor zu tragen.
Roethke: Damit wären wir beim ganz großen Bruch, bei der Wende…
Kirsch: Manche nennen sie Revolution, manche ein Nebenereignis der Eurasischen Wirren, die am 17. Juni 1953 einsetzen. Andere, wie Karl Heinz Bohrer vom MERKUR, bedauern neuerdings, daß beim Umsturz kein Blut floß. Deutschland, meinen sie, wäre heute sauberer, wenn „das Volk“ neben ein paar Machthaltern möglichst viele DDR-Intellektuelle aufgehängt hätte. Natürlich hätte dann die Sowjetarmee eingegriffen, und nichts wäre, wie es ist. D.h. der Tötungswunsch ist Sehnsucht nach den alten identitätsstiftenden Zuständen. Ost definierte sich an West, West an Ost, man trieb Handel, alles war übersichtlich. Der Pauschalvorwurf an die Ost-Intelligenzia, sie hätte den Staatssozialismus stabilisiert, ist, meint mein Freund Friedrich Dieckmann, eigentlich der Vorwurf, daß sie ihn zu wenig stabilisiert hat. Denn nun hat der Westen den ganzen Schlamassel am Hals, und kommt mit nichts mehr zurecht.
Roethke: Es ist sicher schwierig, kühl über Wirren zu urteilen, in denen man noch steckt. Trotzdem: Schreiben Sie nach 1990 anders?
Kirsch: Mit mehr Gelächter gegenüber den Weltläuften und mit mehr liebevollem Ingrimm? Falls das geht, ja, im übrigen nein.
Roethke: Und Ihre Lebensgewohnheiten? Haben sich die geändert?
Kirsch: 1990, als ich zum Vorsitzenden, des inzwischen aufgelösten DDR-Schriftstellerverbandes gewählt wurde, habe ich das Musizieren aufgegeben. Statt dessen spiele ich Tischtennis und treibe eine chinesische Gymnastik namens Tai-chi. Mehr an Änderungen habe ich nicht zu melden – außer daß ich Auto fahren gelernt habe und einen Computer benutze. Geändert haben sich die Umstände, vor allem der Rang, den das Gemeinwesen Dichtern zubilligt. In der DDR – wie in fast allen Ostländern – waren Schriftsteller angesehene Leute. Das Publikum nahm sie als „Mund“, der Staat respektierte sie mehr oder weniger zähneknirschend, beides bedingte einander. Und ich hatte mein Œuvre – anfangs durch zufällige Aufträge, dann aus Neugier und Umsicht – breit angelegt; ich habe Nachdichtungen gemacht, Hörspiele, Kinderbücher, Erzählungen, Essays, Libretti, Stückübertragungen. Das wurde allmählich ein Lebenswerk und bot, in Maßen, ökonomische Sicherheit. Zerschlug sich ein Projekt, erschien anderswo anderes; für das, was ich neu machte, konnte ich mir immer genügend Zeit nehmen.
Roethke: Das ist jetzt natürlich schwierig, wo viele Verlage eingegangen sind oder ums Überleben kämpfen.
Kirsch: Ich bin ein zäher Arbeiter, für Verlage mithin heute eher eine Last. Früher wurden die Bücher ja gekauft. Mein erster Gedichtband brachte es auf achtzehntausend Exemplare, jedes der neun Kinderbücher einschließlich der West-Teilauflagen auf über hunderttausend. Außerdem handele ich nicht über Themen, sondern über Gegenstände, das gilt als altmodisch. Und endlich kann ich weder mit Enthüllungen dienen noch mit Zerknirschung darüber, daß ich in einem gescheiterten Staat gut gedichtet habe.
Roethke: Lesen hatte ja in der DDR auch darum einen hohen Stellenwert, weil andere Medien nicht boten, was in Literatur zwischen den Zeilen stand, und wonach die Leute gieperten.
Kirsch: Das stimmt zum Teil. Etliches stand auch in den Zeilen. Und die ganze DDR guckte Westfernsehen – die Gegend um Dresden, wo das aus technischen Gründen nicht ging, hieß „Tal der Ahnungslosen“. Aber es ist ja ein Gerücht, die Medien böten derzeit an Mitteilung und Analyse annähernd, was Literatur zu leisten vermöchte. Vielmehr herrscht Flachheit, und die Tabus sind Legion. Nehmen Sie den Zustand des Wirtschaftsjournalismus, der das Elend der „Wirtschaftswissenschaften“ spiegelt. Nicht einmal die Deutsche Bank scheint zu wissen, wie ihr Geld funktioniert, und falls sie es ahnt, verschweigt sie es sorgfältig.
Roethke: Aufs Thema zurückzukommen – Ihr ökonomisches Hinterland ist weggebrochen.
Kirsch: Und ich habe mein Leben nicht geändert. Was glauben Sie, wie viele Wohlmeinende mir nach der Wende empfahlen, ein bißchen achtloser zu schreiben! D.h. der Vorschlag war, ich solle aufhören, ich zu sein, um mir diesen Luxus durch Pfusch wieder zu verdienen. Mir roch derlei Dialektik schon zu DDR-Zeiten übel, ich bin außerstande, mich ihr anzubequemen. Freilich gehört man dann zu den Armen im Lande.
Roethke: Das hat, fürchte ich, in Deutschland Tradition.
Kirsch: Eine trübe Tradition. Bei Arno Schmidt, der selber so lange arm war, daß er seine späte – einem Mäzen verdankte! – Wohlhabenheit kaum genießen konnte, können Sie lesen, wie Herder in Weimar gelebt hat. Da bin ich noch besser dran als Herder. – Was sich zweitens geändert hat an Randbedingungen, ist: DDR-Künstler hatten, je später desto leichter, „den Westen“ als eine Art Beschwerde-Instanz. Zur Not siedelten sie über und blieben im gleichen Sprachraum. Statt daß nun Normalität einkehrt, läuft die Sache umgekehrt.
Roethke: Umgekehrt?
Kirsch: Früher wurde, was wir machten, oft im Westen gelobt, weil es kritisch war oder aus dem Kanon brach; gelegentlich sparte man sich die Frage, ob es sich um Kunst handele. Heute werden wir für die gleichen Werke verdroschen, ohne daß jemand eine Zeile liest. Was nämlich gedruckt war, heißt es, hatte die Zensur passiert – folglich hatte entweder die Behörde verstümmelnd eingegriffen, oder der Verfasser sich selber zensiert. Ein Muster solch unwiderlegbarer Beweise ist übrigens Freuds Theorem vom Ödipus-Komplex: Je inständiger ich beteure, ich hätte nie meinen Vater kastrieren wollen, desto gewisser zeigt das nach Freud –
Roethke: – daß Sie den Wunsch verdrängt hatten.
Kirsch: Im Ernst, bei der Seelenkunde zu bleiben, drohten einem Ost-Autor zwei Sorten Neurosen. Die erste, wenn er sich von der Sicherheit bespäht sah; man konnte zusammenzucken, sobald das Telefon läutete, am Telefon bloß verdeckt reden und dann grübeln, ob gerade das ein Fehler war. Man konnte sich aber auch sagen: Vielleicht werde ich abgehört, vielleicht nicht – es ist mir scheißegal.
Roethke: Es gibt da eine Erinnerung von Stefan Heym –
Kirsch: Wie er den Sicherheitsleuten, die vor seinem Haus im Auto saßen, Kaffee brachte? Die heutigen Vergangenheitsbewältiger würden mindestens verlangen, daß er da ein Abführmittel reingemischt hätte. Die haben eine Ur-Angst vor jeder Sorte innerer Heiterkeit. – Neurose 2 wäre die Furcht vor Selbstzensur. Jemand schreibt einen Satz, überlegt, ob er sich dabei etwa zensiert hätte, schreibt den Satz um, fragt sich erneut usf.; hastdunichtgesehen ist er sein eigener Verfolger und auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Nur, sobald Sie das einmal durchdacht haben, sind Sie gefeit. Zu meinen, ich hätte wegen der Zensur auch nur einen Vers anders geschrieben, oder ihn mir verkniffen, finde ich eher albern. Wurde ein Text nicht gleich gedruckt, war das ärgerlich, aber er blieb Teil des Werks; verdarb er durch „Ablagern“, war es um ihn nicht schade.
Roethke: War das womöglich ein Grund, Kurzformen zu bevorzugen? Wenn jemand vier Jahre lang an einem Roman arbeitet, und der kommt dann nicht, ist das doch viel schlimmer, als wenn ein paar kürzere Texte liegenbleiben, andere aber erscheinen.
Kirsch: Das klingt einleuchtend. Aber ich bin ein Lessing-Typ – nur gelegentlich wird mir ein Vers oder eine Formulierung „geschenkt“. Da kriegt man eine eingewurzelte Scheu vor ausgedehnten Texten. Meine längste Erzählung hat fünfzig Seiten, der längste Essay hundertdreizehn. Mit Zensur hat das höchstens insofern zu tun, als ich zu jedem Wort und Komma stehen können wollte. Ist das erst Arbeitsgewohnheit, gilt es immer. Was nicht heißt, daß ich nicht manchmal im Gedruckten eine verbesserungsbedürftige Stelle finde; das trifft mich dann wie ein Schlag in den Magen.
Roethke: Es wird aber heute gesagt: Wenn auch manche Autoren im einzelnen Text keine Kompromisse gemacht haben, so doch vorher, bei der Wahl der Themen bzw. Gegenstände. Es wurde z.B. selten über den Strafvollzug in der DDR geschrieben.
Kirsch: Ich schreibe ja auch nicht über die Treuhand-Behörde, obwohl die eine ziemlich schauerliche Institution ist, und nicht über meine Parteiverfahren. Ich schreibe, fürchte ich, überhaupt nicht „über“.
Roethke: Das Wort „Parteiverfahren“ kommt immerhin in einem Ihrer Gedichte vor.
Kirsch: Stimmt, in „Ernste Mahnung 75“, und in gebührend komischem Zusammenhang. Auch Stalin kommt vor, im „Memorial“ für einen russischen Kollegen, und ein veritables Staatsverlies in meiner Oper Das Land Bum-bum Aber kein Autor der Welt hat die Pflicht, bestimmte Wirklichkeitsausschnitte zu schildern. Vielmehr geht das meiste, was er weiß, fühlt, ahnt, als stille Erfahrung ins Werk ein. Hätte Goethe die Sitzungen des Weimarer Kabinetts „offenlegen“ sollen? Was er von Politik wußte, steht im Egmont.
Roethke: In dem Zusammenhang fällt mir Irmtraud Morgners Roman Rumba auf einen Herbst ein, eine formvollendete Prosaarbeit. Da war damals das Manuskript verschwunden. Sie hatte nur noch Teile davon, die sie dann in andere Romane eingebaut hat. Und erst jetzt ist der ursprüngliche Roman erschienen.
Kirsch: Na, ein verschwundenes Manuskript ist schon ein Alptraum. Als mir Morgner davon erzählte, habe ich ihre Stoizität bewundert, und fortan meine Manuskripte an verschiedenen Orten hinterlegt. Aber generell gilt, wer von einem Text überzeugt ist, kann warten. „Überzeugt“ meint nicht „stur“, ich hole mir gern Rat, bei zwei, drei Freunden oder dem oder jenem Lektor. Aber das hat allein damit zu tun, den jeweiligen Text genauer und dichter zu machen.
Roethke: Mir fällt auf, wie bewußt Sie mit Formen und Traditionen arbeiten. Wurde das am Johannes-R.-Becher-Institut gelehrt? Sie haben dort drei Jahre studiert.
Kirsch: Weiß der Himmel, woher meine Neigung zu Formstrenge kommt – übrigens stellt sich „Form“ mitunter schon durch Wegstreichen alles Überflüssigen her. Ich erinnere mich an ein Wintergedicht, das ich meinem Vater ins Feld schrieb, da muß ich neun Jahre gewesen sein; es war jambisch und wechselte zwischen Vier- und Einhebern. Und dann las ich sehr früh Rilke. Zur Konfirmation kriegte ich eine deutsche Poesie-Anthologie geschenkt, die habe ich bestimmt dreißigmal gelesen. Bei manchen Autoren genügt ja, wenn Sie fünf Gedichte kennen, z.B. bei Heine oder Georg Heym. Bei Brecht müssen Sie mehr kennen, Brecht hat, wie Goethe, vielerlei Redeweisen benutzt. In Jena, als ich anfing zu schreiben, hatte ich eine Verskunde aus der Bibliothek meines Vaters. Nicht daß ich mich danach gerichtet hätte – mich interessierte das wie Harmonielehre fürs Musizieren. Ein Choralsatz spielt sich ja viel leichter, wenn Sie wissen, was harmonisch darin vorgeht.
Soviel zur Neigung; bekräftigt oder geweckt wurde sie, als Anfang der sechziger Jahre DDR-Germanisten sich angewöhnten, den „jungen Lyrikern“ väterliche Ermahnungen zu widmen. Man bemängelte, wir kennten die deutsche Klassik nicht, z.B. schrieben wir keine Sonette. Das verdroß mich; also las ich die Klassiker viel gründlicher, als es gemeint war, und probierte, mit dem klassischen Kanon zu wirtschaften, bis es knirschte. Wobei meine ersten Sonette in ihrer Abstraktheit – nicht im Ton – noch Becher ähneln, von dem ich mich doch abstieß. Kurz, meine Reaktion war: „Wie, das soll ich nicht können? Da, nehmt und lest.“ 1964 habe ich ein Poem im elegischen Versmaß verfaßt und später aus Kunst-Gründen ausgesondert; seitdem „gehört“ mir aber das Distichon, d.h. ich kann damit spielen. Karl Mickel hat einmal während eines Verlagsabends einem unverschämten Kunstbeamten drei Minuten lang in freihändigen Blankversen geantwortet – er hatte das drauf wie ein Boogie-Woogie-Pianist das Blues-Muster.
Roethke: So etwas ist aber in den Jahren am Literatur-Institut besonders ausgebildet worden?
Kirsch: Das hätte kaum wer kapiert. Das Institut war nach dem Vorbild des moskauer Gorki-Instituts gegründet. Der Gedanke war, beim Schreiben sei, wie in anderen Künsten, manches lehrbar und lernbar, und Allgemeinbildung könne niemandem schaden. Als Sarah und ich 1963 nach Leipzig kamen, hatten wir 20 Wochenstunden. Es gab Vorlesungen über Geschichte der Ästhetik, klassische deutsche und sowjetische Literatur, Stilistik, Musik, bildende Kunst. Und „Schöpferische Seminare“, da wurden Arbeiten der Studenten besprochen. Das Poesie-Seminar leitete der Dichter Georg Maurer, der, behagte ihm etwas, mit hochgerissenen Brauen und abwärts gekrümmten Mundwinkeln zu lachen pflegte. Bot jemand einen schwachen Text an, in dem z.B. Birken vorkamen, verlor er darüber kein Wort, sondern brachte Baum-Gedichte aus der Weltliteratur mit und verlockte uns zu Kurzanalysen. D.h. wir lernten begreifen, wie ein Gedicht „arbeitet“, und daß man sich darüber vernünftig äußern kann, statt bloß zu staunen oder zu mißbilligen.
Roethke: Und Sie haben sich dort ein Formenrepertoire erarbeiten können, ein Handwerkszeug für später.
Kirsch: Das konnte ich aber nicht, weil es mir nahegelegt wurde, sondern weil ich dafür Muße hatte. Wirklich „erarbeitet“ man sich eine Form, wenn man sie braucht. Den lyrischen Trimeter z.B. kapiere ich erst, seit ich ihn 1986 für „Die Tangentialen“ erfunden habe. Trotzdem war die Muße wichtig. Wir bekamen ein kleines, indes ausreichendes Stipendium; verhandelten wir mit Verlagen, konnten wir bei Änderungswünschen immer sagen: „Schön, dann lassen wir es.“ Es ist enorm wichtig, wenn man das als junger Mensch lernt. Daß man Nein sagen kann, ohne sich dabei tief unglücklich vorzukommen! – Natürlich hatte das Institut auch üble Seiten; es gab Opportunisten unter den Lehrern, und ein paar begabte Studenten wurden rausgeschmissen. Das waren zähe Kämpfe. Mir selber wurde aus politischen Gründen das Diplom verweigert, was mich aber wenig kratzte.
Roethke: Aus dem, was Sie schreiben, scheint mir indirekt deutlich, daß Sie ein bestimmtes elitäres Bewußtsein entwickelten. Wenn Sie 1987 in der DDR ein Gedicht „Der Pöbel“ nannten, war doch schon der Titel eine Herausforderung.
Kirsch: Das war eine lange Arbeit in freundlichen Sommerferien-Umständen. Schon der Entschluß, Distichen zu reimen – eigentlich eine Sünde – brauchte Zeit, und ich weiß noch, wie erlöst ich war, als mir die Überschrift einfiel. Aber wenn Sie „elitär“ sagen… Wir hatten ja in den sechziger Jahren öfter Besuch aus dem Westen, meist Linke, denen wir nie links genug waren. Die verabscheuten z.B. Goethe, weil er elitäre klassische Texte verfaßt hatte, statt Jakobiner zu werden und in Deutschland Revolution zu machen. (Allerdings besprachen wir das friedlich beim Wein; heute bin ich den gleichen Leuten nicht rechts genug, und jeder Schwachsinn, der ihnen gegen Ost-Künstler einfällt, steht am nächsten Morgen in der Zeitung.) Jedenfalls war „elitär“ für mich schon damals kein Schimpfwort. Gemeinwesen brauchen Eliten, das Elite-Prinzip ist ein revolutionäres Prinzip. Gefährlich wird es, wenn die Zugehörigkeit zur Elite festfriert, also jemand Entscheidungsgewalt hat, weil er von Adel oder reich oder in der Nomenklatur ist, nicht, weil er von einer Sache etwas versteht.
Roethke: Sie sind für eine Leistungselite.
Kirsch: Wenn die Leistung mit einem Minimum an Weltvernunft und Nächstenliebe einhergeht. Wobei nicht alle Leistung Verdienst ist – schon wollen zu können ist eine Mitgift, die einer wegwerfen oder pflegen kann. Also, falls Sie mögen, sind meine Texte elitär, insofern in ihnen Kunstanstrengung steckt. Für die, die sich darauf einlassen, sind sie aber eher leicht. Der Gegenbegriff zu „elitär“ wäre in dem Sinne „populistisch“. Und natürlich war die Überschrift „Der Pöbel“ bewußt gewählt. Der faschistoide Ruck, der jetzt Europa heimsucht, war in der DDR Anfang der achtziger Jahre zu spüren. Ich erinnere noch mein Entsetzen, als ich eine Horde von Youngstern durch die berliner Friedrichstraße ziehen sah; die grölten wieder und wieder:
Gebt Gas, gebt Gas, wenn der BFC durch die Gaskammer geht.
Der BFC war ein Fußballklub, der der Staatssicherheit gehörte. Die Youngster, hieß es, gehörten auch der Staatssicherheit.
Roethke: Vielleicht wollten sie auch nur provozieren durch Parolen, von denen sie wußten, daß sie „die da oben“ besonders schmerzten. Das scheint mir heute bei jugendlichen „Neonazis“ oft der Fall zu sein.
Kirsch: Womöglich haben Sie recht. Immerhin hatten die keine Gaskammern. Jetzt haben sie Baseballschläger und schlagen mitunter Ausländer tot.
Roethke: Gräßlich. Ist es trotzdem eine Art Bestätigung, wenn man etwas im Gedicht vorausgesagt hat, und es trifft dann ein?
Kirsch: Ein Triumph, wenn die Welt sich verhält, wie ich sie beschreibe? Daß „Der Pöbel“ im friedlichen Ambiente entstand, habe ich betont, weil Poesie heute als Spiegel privater Seelenwirrnisse gilt. Manche behaupten gar, sie dichteten zwecks Selbstheilung, was stimmen mag; die Frage ist, warum lassen sie es dann drucken? Neulich hörte ich im Radio einen Musikkundigen über Mozarts „Requiem“ handeln. Da geht ja die Mär:
Auf dem Sterbebette hat Mozart sein eigenes Leichenbegängnis komponiert.
Quatsch, sagte der Professor: Mozart war krank, aber arbeitsfähig, und hatte das Honorar für das Requiem im Safe; wäre ein heiteres Singspiel bestellt gewesen, hätte er eben das geliefert. Mir fällt da ein „Streit“ aus DDR-Zeiten ein: Michail Scholochow, der Verfasser des Stillen Don, hatte auf einem sowjetischen Kongreß verkündet, er sei zuvörderst Kommunist, und erst dann Schriftsteller.
Roethke: Also der alte Prioritätenstreit zwischen Theologie und artes liberales…
Kirsch: Klar, nur die Talare wechseln, heute tragen die Gottesgelehrten zerknitterte Hemden. Jedenfalls ging das groß durch die DDR-Medien, alle Kunstschaffenden, wurde erwartet, sollten sich „bekennen“. Ein beleibter Kollege rief auf einer Versammlung: „Wenn ich schreibe, bin ich heiß!“ und wandte sich damit gegen wen? Gegen Anton Tschechow! Der hatte einst gesagt, am Schreibtisch sei er „eiskalt“: Weder die Trübnis der Weltläufte, noch die eigene Tagesgestimmtheit dürften ihm in den Text schwappen, er sei Künstler und brauche für jeden Satz klares Urteil. Das ist, in meinem Verständnis, Professionalität.
Roethke: Sie haben relativ früh, 1978, einen nicht „eiskalt“, aber doch kühl folgernden Essay zum Begriff des Nationalen geschrieben. Was brachte Sie darauf?
Kirsch: Ein österreichischer Verlag hatte deutsche Autoren aus Ost und West eingeladen, sich zum Themenkreis Heimat, Volk, Nation zu äußern, das Buch erschien dann unter dem Titel Deutschland, Deutschland. Aber außer daß ein Kunstideologe mich landauf, landab „Theoretiker der nationalen Frage beim Klassenfeind“ schimpfte, ist mein Beitrag kaum zur Kenntnis genommen worden. Die ZEIT wollte ihn drucken, ließ es aber, weil der Chefredakteur keinen Ärger mit der DDR mochte. Die DDR-Führung verfocht ja damals die These, es entstünden zwei deutsche Nationen, eine kapitalistische und eine sozialistische.
Roethke: Die Entspannungspolitik ging der ZEIT demnach vor…
Kirsch: Verständlicherweise. Nur versicherten mir damals eine Menge West-Leute, es gäbe zwei deutsche Sprachen. Das waren alles Akademiker, die hatten keine Ahnung von Linguistik. Manche kannten Chomsky, aber bloß die politischen Traktate.
Roethke: Daß Sie der Zwei-Nationen-Theorie widersprachen, scheint mir eher ein Nebenergebnis Ihres Essays. Wichtiger finde ich den verhaltenstheoretischen Denkansatz – gerade heute, wo ringsum Menschen im Namen der Nation einander umbringen.
Kirsch: Sicher wäre der Ansatz wichtig, aber wir leben unter der Fuchtel feuilletonistischer Marktschreierei. Professoren reden vom „Ende der Geschichte“ und werden ernstgenommen. Das ist ja eine Art Geistes-GAU: der Größte Ausdenkbare Unfug.
Roethke: „Die crux bei der Wirkung von Heimvalenzen“, schrieben Sie damals, „ist, daß der positiven Gefühlsbesetzung des Reviers eine gleichstarke Abweisung des Fremden entspricht.“ Das klingt ziemlich erschreckend; wie, meinen Sie, kann die Menschheit damit fertigwerden?
Kirsch: Wenn, dann durch Kultur des Umgangs miteinander. Was wir Kultur nennen, sind ja Mindestübereinkünfte, die wieder und wieder gelernt werden müssen. Daß, wenn ich hungrig bin und neben mir ißt jemand, ich dem das nicht wegreiße. Oder ich begegne einer reizenden Frau und falle nicht über sie her, bzw. umgekehrt. All das ist niemandem angeboren. „Was, ermangeln sie der Gesittung, sind Staaten anderes als große Räuberbanden?“ wußte schon Quintilian. Wer uns Ostlern jetzt den Totalen Egoismus predigt – daß man sich „knallhart verkaufen“ müsse, daß Zartsinn und Rücksichtnahme überlebensschädigend seien und die Botschaften der Weltkunst albern –, selbst der kann das bloß predigen, weil jene Übereinkünfte noch als Inseln im Gemeinwesen bestehen.
Roethke: Sie reden für Tugenden und Ideale?
Kirsch: Ganz altrömisch.
Roethke: Gar für Utopien?
Kirsch: Utopien sind ausgemalte Ideale. Was, wenn sich unversehens alle nach den Neuen Erfolgreichen richten? Dann können sich auch Normalverdiener nur noch mit Leibwächtern über die Straße trauen, und Leibwächter sind mögliche Maffiosi. Niemand geht sehenden Auges in den Abgrund, es reicht, wenn es als unschicklich gilt, die Augen offenzuhalten.
neue deutsche literatur, Heft 489, September 1993
Richard A. Zipster: DDR-Literatur im Tauwetter. Band III. Stellungnahmen
ZUM TODE VON RAINER KIRSCH IM JAHRE 2015
Wir legen uns nicht an mit Ihnen, Kirsch
In unserm Haus herrscht überhaupt kein Herr.
Dem Singsang fällt die Widerrede schwer
Und wird doch immer wieder leicht so unwirsch.
Wenn uns der Rhythmus in die Eier zwingt
Verlornen Lebens voll, wie Satansreigen
Dann holn wir aus zum Schlag und ganz zu eigen
Wird was Sie sagen unsres, das gelingt.
Auf vielen Stühlen hat was pendelt Platz
Ein lila Schwein soll sein, na bitte sehr
Wir leben noch so lang nach Ihnen her
Der rüde Kick kommt aus dem Nebensatz
So unerwartet mitten ins Geflecht
Genehmen Weilens, und erbärmlich schlecht.
Andreas Paul
Sabine Brandt: Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.7.1994
Wolfgang Platzeck: Mit sanfter Gewalt
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 17.7.1999
Thomas Kunze: Der Markt ist so rücksichtslos wie die Zensur
General-Anzeiger, 17./18.7.1999
Michael Braun: Petrarca aus Sachsen
Badische Zeitung, 17.7.2004
Der Tagesspiegel, Berlin, 17.7.2004
Jürgen Engler: Das Wort und seine Strahlung
neues deutschland, 17.7.2009
Torsten Klaus: Rainer Kirsch – ein unbequemer Dichter mit Idealen
monstersandcritics.de, 15.7.2009
Ambros Weibel: Amt des Dichters: Rainer Kirsch zum 75. Geburtstag
ambros-weibel.de, 18.7.2009
Felix Bartels: 75 Jahre Kirsch
felix-bartels.de, 17.7.2009
Hans-Dieter Schütt: Zuversicht statt Optimismus
neues deutschland, 17.7.2014
Burga Kalinowski: Und ohne dieses Wort wäre das Gedicht nichts
neues deutschland, 19.7.2014
Burga Kalinowski: „Mein Inneres lesen“
junge welt, 11.9.2015
3.7.2024 – 28.8.2024 „Zum 90. Geburtstag von Rainer Kirsch“: kuratierte Ausstellung von Helga Grzebytta in der Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf
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