Rainer Kirsch: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Krücken“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Krücken“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Die Krücken

Sieben Jahre wollt kein Schritt mir glücken.
Als ich zu dem großen Arzte kam
Fragte er: Wozu die Krücken?
Und ich sagte: Ich bin lahm.

Sagte er: Das ist kein Wunder.
Sei so freundlich, zu probieren!
Was dich lähmt, ist dieser Plunder.
Geh, fall, kriech auf allen vieren!

Lachend wie ein Ungeheuer
Nahm er mir die schönen Krücken
Brach sie durch auf meinem Rücken
Warf sie lachend in das Feuer.

Nun, ich bin kuriert: ich gehe.
Mich kurierte ein Gelächter.
Nur zuweilen, wenn ich Hölzer sehe
Gehe ich für Stunden etwas schlechter.

 

Gehortete Energie

Findet ein Dichter eine neue Kombination poetischer Mittel, kann er sie leicht zur Manier verschleißen; ist er ein Kopf, wird er damit wirtschaften wie mit Kostbarem. Den regelmäßigen Trochäus braucht Brecht erstmals in „Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ (7. Mai 1938), dann in „Die Krücken“ (Dezember 1938), später noch einmal in „Einst“. Alle drei Gedichte reden schlicht, wie für intelligente Kinder, und bieten zitierbare Lebensweisheit; Legende und Krücken spielen zudem mit der wechselnden Zahl der Versfüße. Matthias Claudius hatte den Trick ins Deutsche geholt, als er für sein „Abendlied“ das Strophenschema von „Innsbruck, ich muß dich lassen“ um einen Jambus erweiterte – mit viel Gewinn an Innigkeit, bei wenig Verlust an Welt. Innigkeit war Brecht, seit er der Klassik anhing, jederzeit recht, Weltverlust nie; wettstreitet er mit dem Kollegen?
Wo aber „Legende“ wie „Abendlied“ als Weg-Gedichte Zitierbares in Fülle ausstreuen, läuft unser Text ungemächlich stracks auf ein Ziel zu: auf die Quintessenz der beiden Schlußverse. Quintessenzen geraten oft allgemein; je wirksamer sie sind, desto mehr Kraft ziehen sie aus dem Umfeld – sie müssen wohlvorbereitet werden.
Zwei fünffüßige Verse setzen das Grundmetrum: Der erste Vers („Sieben Jahre…“) beschreibt langjähriges Mißgeschick, der zweite läßt Abhilfe in rettender Stunde ahnen. Das klingt dramatisch, haben wir eine verkappte Ballade vor uns? Sicher, weiter geht es ja aufgeregt vierhebig. Da Verse 1 und 3 weiblich, 2 und 4 männlich enden, wird die Strophe jedesmal um eine Silbe kürzer: sie bildet einen Energie stauenden Trichter.
Nichts freilich schadet Weltweisheit mehr als Übereile, von den zurückgehaltenen Verssilben wird eine für den Mittelteil freigegeben. Der ist nun vierfüßig-weiblich; eine Strophe gehört dem „großen Arzte“, eine (mit umschlungenem Krach-Reim „Krücken“ – „Rücken“) dem Berichtenden, der in einer weiteren halben sich als betroffen erinnert und, geheilt, wieder ich sagt. Hier wäre die Ballade zu Ende; doch hatte der Dichter zwölf Verse lang Energie gehortet, wohin mit der?
In die zweimal fünf vollen Trochäen der Schlußformel, die den scheinbar abgeschlossenen Vorgang ins Dauernde reißt: Die Heilung, erfahren wir, war heikel, das ausgelacht Alte west als Schatten im neuen Schreiten, und Hölzer, daraus Krücken zu machen gehen, trifft der Blick alleweil. Wüßten die Leute heute Gedichte – bei welchen Gelegenheiten könnten sie die beiden Zeilen nicht hersagen!
Wovon, übrigens, ist eigentlich die Rede? Ich habe immer gemeint, der große Arzt sei der marxistische Theoretiker Karl Korsch, der Eigner des zähen Rückens Brecht, der Krückendrechsler Dshugaschwili, genannt „Der Stählerne“. Wäre indes nur das alte Sapere aude! in Verse gebracht (das Kant übersetzt „Habe Mut, dich des eigenen Verstandes zu bedienen!“), bliebe der Text schön und wahr genug: Latein kann niemand mehr, Kant liest keiner, und im neuen Gewimmel der Gurus wird Verstand wieder zum Schimpfwort. Nun aber kommen die Biographen; es war, sagen sie, alles ganz anders. Brechts Geliebte in Dänemark, Ruth Berlau, mochte aus ihrer Ehe mit einem Arzt sich nicht lösen; dies zu tun, rät ihr Brecht dringlich, der „große Arzt“ ist er selber. (Berlau folgte ihm und verfiel dem Suff.) Muß man derlei wissen? Unbedingt; den Anlaß eines Kunstwerkes für dessen Mitteilung zu halten kann zu so plattsinnigen Albernheiten führen, daß das Vergessen der Anlässe öffentlich geübt werden sollte. Die Biographen, schließlich, wollen wir nicht abschaffen; die Texte aber bleiben und erzählen uns über die Welt.

Rainer Kirschaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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