AUF DEM NACHHAUSEWEG
Eisige Nacht.
Aber der Mann auf dem Gehsteig,
den Kopf im Nacken,
rührt sich nicht.
Sein Blick steckt fest
in einer Sternverwehung.
I
Die späten Photographien zeigen ihn meist in der Natur. Ein älterer Herr mit Zigarette und Mantel, der sich auf einen Regenschirm stützt. Zwischen den langen Ärmeln sind die Hände kaum zu sehen, nur ein paar Fingerknöchel schauen hervor. Ein ruhiger Mensch, ein Zurückgezogener, so scheint es, der weiß, wovon die Gedichte sprechen:
Du kennst ja die ungeschickte Art
der Familienfotografen.
Ganz vorne ein Bootssteg, ein Dampfer
und irgendwo hinten
der,
auf den es ankommt:
ein schwer erkennbarer Mensch
mit Brille und Hut.
Auch wenn er über die Kunst der Auflösung schrieb, hielt sich Rainer Malkowski stets an das Sehen und an das Körperliche des Lebens, an jene Wahrnehmung, die für ihn am Beginn jedes Gedichts steht. In den feinen Windungen seiner Verse kann für einen Augenblick die ganze Welt gespeichert sein. Meist sind es kleine, unscheinbare Dinge am Rand, an denen sich die poetische Arbeit entspinnt, ein einzelnes Fenster etwa, Straßenschilder oder „eine Traube Luftballons / neben einer Ladentür“. Diese Wahrnehmungsreste fügen sich unter der Beleuchtung eines Gedankens zu Stilleben oder tatsächlichen Denkbildern, die ins Große ausgreifen. Im besten Fall entstehen so Gedichte, die Beobachtung, Reflexion und Schreiben zu Momentaufnahmen verschmelzen, Momentaufnahmen jedoch, die nichts Reduziertes an sich haben, sondern Vergangenheit und Zukunft bewußt halten:
Wie sicher die Fliege
sich durchs Zimmer bewegt,
jetzt
auf einem Blatt Papier sitzt,
von dem sie nicht weiß,
daß es ein Brief ist,
in dem ein Freund beiläufig
über die Fliegen im Sommer klagt,
und in derselben Sekunde,
in der sie wieder abhebt,
höre ich,
wie Klaus und Carla im Nebenzimmer
über das Universum sprechen
Nicht von ungefähr hat Malkowski dieses Gedicht aus seinem letzten Band „Augenblick“ genannt. Gekonnt gleiten hier die Assoziationen ineinander, leuchten auf in einem einzigen Satz, der die Dinge in der Zeit ausbreitet, ohne sie ihrer Momenthaftigkeit zu berauben. Das Gedicht zeigt das Gleichzeitige und weiß doch im selben Augenblick um diese Gleichzeitigkeit. Und all das geschieht wie nebenher, „beiläufig“ eben, und macht Malkowskis Kunst deutlich, Sehen und Denken, Großes und Kleines ins Gleichgewicht zu bringen.
II
Beinahe jeden seiner neun Gedichtbände eröffnet Rainer Malkowski mit einem Stück, das die genaue Wahrnehmung zur Sprache bringt. „Einmal am Tag / wirklich sehen. / Im Ungefähren / ist das schon viel“ heißt es etwa im Buch Einladung ins Freie (1977). In Das Meer steht auf (1989), dem sechsten Band, beschreibt Malkowski den Hufschlag eines Pferdes auf dem Asphalt. Klar sind die Töne, fast rein, und in einer Bewegung der Abstraktion vermischt sich im Gedicht der Hufschlag mit anderen Geräuschen, mit Gerüchen, Formen und Farben. Am Ende meint das lyrische Ich in einer Art Summe:
Nie
will ich sagen müssen:
ich habe mir die Welt
nicht genau genug
gemerkt
Am schönsten gelingt Malkowski die Erfahrung des Wahrnehmens vielleicht in seinem Gedicht über den Naturforscher Jean-Henri Fabre, das sich in dem Band Ein Tag für Impressionisten (1994) findet. Schön, weil das Gedicht nicht nur das Sehen in seine Verse holt, sondern weil es zugleich weiß um die Erfahrung der Zeit und um die Möglichkeit, das eigene Leben in die Kontemplation des Gedichts zu verwandeln:
Etwas von der Ruhe
Fabres,
dem der Nachmittag verging
über der Beobachtung
einer Sandwespe.
Auch Fabre wußte nicht,
was das ist: die Zeit.
Aber er ertrug es vielleicht
besser,
weil er so wenig
für sich selber brauchte.
Ein sehr beschäftigter alter Mann
auf einem Stück Provenceerde.
Was die Mühe lohnt,
konnte er
mit bloßem Auge erkennen.
Ein Gedicht ohne Wahrnehmung ist für Malkowski nicht vorstellbar. Hören, Tasten, Schmecken, Riechen und natürlich das Sehen – was im Bewußtsein des Schreibenden vorausgegangen sein muß, meint er einmal in einer poetologischen Notiz, ist die „Wahrnehmung als Ereignis“. Erst die Wahrnehmung bietet uns die Welt in all ihren Einzelheiten, erst die Wahrnehmung eröffnet die Möglichkeit, die Dinge für sich stehen zu lassen, sie offen zu halten, frei von Kontexten und Kommentaren. Dazu gehört eine angeborene Fähigkeit, sich der Welt mit dem Sensorium zu nähern, Arbeit und ein Quantum künstlerisches Kalkül. Für den Leser heißt das, Malkowskis Gedichte lassen ihn etwas sehen, Einzelheiten, die kein Ganzes bilden, einen „Mundvorrat an rasch / verzehrten Eindrücken“. Aber auch das Umgekehrte gilt: die Stücke zeigen uns, daß die vertrautesten Dinge unverständlich sind. Rainer Malkowski war ein Wahrnehmungsvirtuose im eigentlichen Sinne, einer der großen Augenmenschen, wie Goethe sie nannte. Und mehr noch, man fühlt sich an Heimito von Doderer erinnert, der in seinem Tagebuch einmal über Goethe selbst geschrieben hat:
Welch ein gewaltiger Apperzipierer! Welch ein verdauungsfreudiger Riesenmagen für’s Empirische ist das!
Doch ist es wirklich die Wahrnehmung allein, die in Malkowskis Gedichten aufscheint? Lassen sich Sehen und Gedanke trennen? Und ist nicht jede Formanstrengung schon ein Moment der Reflexion?
III
In seinem Nachwort zu einer Gedichtauswahl Rafael Albertis schrieb Erwin Walter Palm 1960:
Die zunehmende optische Reizbarkeit unserer Zeit, die Ersetzung des Musikalischen im Gedicht durch die Wahrnehmung des Auges, das heißt also, eine unsentimentale, intellektualistische Lyrik kennzeichnet eine ganze Generation und scheidet in Spanien, wie auch sonst in Europa, das 20. vom 19. Jahrhundert.
Palm, der Kunsthistoriker und Übersetzer, wußte, wovon er sprach. Er war nicht nur ein Kenner der spanischsprachigen Literatur, er war auch mit Hilde Domin verheiratet, mit einer Dichterin, bei der Sehen und Schreiben untrennbar verbunden sind. Rafael Alberti, T.S. Eliot oder William Carlos Williams (den Rainer Malkowski sehr schätzte) – sie alle halten sich an jenes „wache Auge“, von dem Ezra Pound einmal gesprochen hat. Bei den deutschsprachigen Dichtern könnte Palm an Stefan George gedacht haben, vielleicht auch an Rilke, sicher an Benn. Und nicht nur in Europa bestimmt die Konzentration auf die Wahrnehmung das Gedicht. Walt Whitmans Leaves of Grass sind ohne das Sehen ebenso wenig denkbar wie die Lyrik Marianne Moores oder die Küstenbilder von Elizabeth Bishop.
Bemerkenswert an Palms Äußerung ist die Verbindung von Wahrnehmung und Intellekt. Schon Pound hatte für seine Idee des poetischen Bildes Sinnlichkeit und Reflexion miteinander verknüpft. Er bestimmte das „image“ als etwas, das „einen intellektuellen und emotionalen Komplex innerhalb eines Augenblicks darstellt“. Geist und Empfindung schießen zu einer Ganzheit zusammen, die ein Moment der Erkenntnis enthält. Oder anders gesagt: Das gelungene „image“ ruft ein „Gefühl jähen Wachsens“ hervor, die Empfindung, plötzlich aus dem Korsett von Raum und Zeit befreit zu sein.
Dazu will passen, was der serbische Schriftsteller Charles Simic einmal zur Wahrnehmung des Dichters gesagt hat: „Auch wenn ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Fliege auf dem Tisch konzentriere, werfe ich einen flackernden Blick auf mich selbst.“ Vielleicht wird das aufmerksame Sehen gar nicht durch das Auge bestimmt, sondern durch die Klarheit des Bewußtseins. Vielleicht ist noch die genaueste Wahrnehmung verbunden mit der Atmosphäre desjenigen, der wahrnimmt, mit seinem Blickwinkel und seiner Stimmung, seinen Vorlieben und seiner Erinnerung. Und natürlich mit seinem Nachdenken. Rainer Malkowski versuchte in seinen Versen von Beginn an einen Blick zu kultivieren, der mit der Reflexion verschwistert ist. „Kaum zu unterscheiden, ob genaues Sehen noch Sehen ist oder schon ein Gedanke“, hatte er in seinen „Hinterkopfgeschichten“ geschrieben, einer Sammlung kleiner, zwischen Aphorismus und Augenblicksbild changierender Prosastücke, die den Titel Im Dunkeln wird man schneller betrunken (2000) trägt.
Tatsächlich sind Malkowskis Gedichte nichts weniger als bloß gereihte Beobachtungen. Mal zeigen die Bilder Flüchtiges, das nur lose verbunden, aber in seiner lockeren Fügung ausgestellt ist, mal sind die Bilder selbst getönt von einer Idee, einer Idee jedoch, die nichts mit einer vorformulierten Gesinnung oder Bedeutung zu tun hat. Das Auffälligste aber – und hier geht Malkowski über Pounds Bestimmung hinaus – sind wirkliche Gedanken, die in die Gedichte eingesenkt sind. Schon in seinem Debüt Was für ein Morgen (1975) ist diese Eigenart voll entwickelt. Viele der Stücke bestehen aus Bildern und einem Satz, der die Beobachtungen sachte kommentiert:
ein Stuhl eine Blume
ein gefüllter Teller
ein geschlossener Mund
eine Hand die sehr weiß ist
ein Bild ein Baum
eine Note
dies alles will nichts und
heißt nicht
und segelt lautlos durch den Tag.
Kaum merklich fließen Wahrnehmung und Gedanke ineinander und segeln, tatsächlich „lautlos“, in den Kopf des Lesers. Im Grunde ließe sich Malkowskis gesamte Lyrik über das je unterschiedliche Mischverhältnis von Anschauung und Gedanke fassen. So ist etwa der Band Vom Rätsel ein Stück (1980) geradezu durchsetzt von Reflexionen, gefällt sich in Feststellungen und Pointen, daß die Verse bisweilen fast etwas Sentenzhaftes bekommen. Das Meer steht auf hingegen oder Ein Tag für Impressionisten zeigen vermehrt Gedichte ohne ausformulierte Gedanken. Mitunter gelingen Malkowski so lyrische Skizzen, in denen Festes und Flüssiges, Geräusch und Bewegung, Innen und Außen kaum mehr zu trennen sind:
Nachts, bei Sturm:
die Brandung
in den alten Bäumen.
Atlantischer Lärm
in den Kronen.
Das Meer steht auf
in blattgrünen Wellen
IV
Wie durchlässig die Grenzen zwischen scheinbar klar geschiedenen Sphären sind – es zeigt sich auch an Rainer Malkowskis Vorstellung von Leben und Gedicht. Das Schreiben sei ihm eine Notwendigkeit geworden, meinte er in einer späten Notiz, manchmal genüge schon eine Handvoll ehrlicher Sätze, um wieder zu Kräften zu kommen. Erst durch das Schreiben entsteht so etwas wie Anwesenheit, ein Gedicht, ein Ding, das für sich existiert und in dem doch auf „geheimnisvolle Weise“ nicht nur die Welt, sondern auch der Schreibende enthalten ist.
Was plötzlich auf dem Papier stand,
schrieb mir der alte Dichter,
war nicht viel länger
als mein kleiner Finger.
Aber ich hatte mich beinahe
ganz darin untergebracht:
meinen zerschlissenen Traum,
meine Unruhe,
meine Art,
die Menschen zu sehen
Der Drang zu schreiben muß sich schon früh entwickelt haben. Rainer Malkowski wurde 1939 in Berlin geboren. Fliegeralarm, brennende Häuser, Nächte in Bunkern und Kellern – all das erlebte er als kleines Kind, wobei ihm nicht nur die Bilder und Töne im Gedächtnis geblieben sind, sondern auch die Gespräche, die Diskussionen, Klagen und die Hoffnungen der Erwachsenen. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre hätten zwar keinen unmittelbaren Einfluß auf sein Schreiben gehabt, aber mittelbar, „als Welt- und Lebensskepsis, als eine Schonungslosigkeit der Erfahrung“. So prägten sie seine Art, die Menschen zu sehen – und seine Entwicklung zum Schreibenden. In einer biographischen Skizze erinnert sich Malkowski:
Als ich sechzehn war, hielt ich mich für einen Dichter. In unserer Wohnung stand ein Klavier, auf dem ich schrieb. Oder ich schrieb in der Schule, in der Physik- oder Chemiestunde, wenn Lehrer und Klassenkameraden mit Experimenten beschäftigt waren. Manchmal schrieb ich auch auf Parkbänken, nachts, im trüben Laternenlicht. Ich dachte damals: ein Dichter schreibt, und alles weitere findet sich. Es fand sich nicht.
Beinahe ein halbes Leben sollte es noch dauern, bis Rainer Malkowski seinen Platz als Dichter fand. Nach kleineren Stellen in Verlagen wechselte er mit Anfang 20 in die Werbung. Die Arbeit in Agenturen schien zunächst eine Möglichkeit, sich mit dem bürgerlichen Leben zu arrangieren: „Ich wollte Erfolg haben, so sein wie alle. Mein Nachholbedürfnis war groß“. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war Malkowski Geschäftsführer und Teilhaber der damals größten Werbeagentur in der Bundesrepublik. Doch das Gefühl, ein entfremdetes Leben zu führen, wurde stärker als die Aussicht auf gesellschaftliche Anerkennung. Jahre später hat Malkowski diese Zeit in einem Gedicht zur Sprache gebracht:
Am Sonntag leere Chausseen.
Die Stille in den Zementwerken.
Auf den Koppeln rann der Regen
strähnig
in rostende Badewannen.
Sieben Jahre vergingen.
Ich arbeitete, aß, trank, schlief.
Ich starrte auf die dringlich
nickenden Pappeln am Horizont:
Ausrufezeichen, die lange
bereitstanden.
Ich begriff allmählich
für welche nicht
mehr zu unterdrückenden
Sätze.
Als er 1972 wieder zum Gedicht kam, hatte er das eigene Leben zum Experiment gemacht, zum Experiment des Schreibens:
Ich wollte herausfinden, ob ich der Dichter – und das heißt auch der Mensch – war, für den ich mich insgeheim hielt. Rückblickend rechne ich mir die Entschlossenheit zum geistigen Wagnis höher an als das materielle Risiko, das mit der Berufsaufgabe verbunden war.
Der erste Gedichtband erschien 1975. Was für ein Morgen, dieser schmale Band zeigte Malkowski gleich als jenen Wahrnehmungskünstler, der er bis in seine letzten Jahre bleiben sollte. Die Kritiken fielen durchwegs positiv aus. Hans-Jürgen Heise schrieb:
Malkowski hat nicht bereits ein fertiges Bild von der Welt im Kopf. Vielmehr entsteht für ihn die Wirklichkeit fortwährend aufs neue, am Mischpult seiner Sinne.
Und Helmut Heissenbüttel feierte ihn als Vertreter der „Neuen Subjektivität“. Der Erfolg dürfte Malkowski in seinem Entschluß bestärkt haben, fortan ganz für das Schreiben zu leben. Doch mit der „Neuen Subjektivität“ haben seine Gedichte wenig gemein. Weder gefallen sie sich in einem Ausstellen privater Befindlichkeiten noch in einer Feier der Oberfläche oder im bewußt flapsigen Gebrauch der Sprache. Subjektivität war für Malkowski unhintergehbare Voraussetzung jedes Schreibens. Nur über das Subjektive lasse sich bisweilen ein Blick auf das sogenannte Objektiv-Gültige werfen, meinte er. Und daß die Lyrik nicht bei einer Melancholie des Äußeren verharren kann, sondern das Unaussprechbare und das Schweigen umkreist, gehört zu den Grundpfeilern seiner Poetik. Das Gedicht „Leichter Tag“ spricht es mit einer ironischen Volte aus:
Solange wir nicht denken,
sind wir unsinkbar.
Ein Schauermärchen,
daß nur wenige Meter
unter der Oberfläche die große
Kälte beginnt.
V
Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, dann muß es auch Möglichkeitssinn geben. So ähnlich sagt es Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Der Wirklichkeitsmensch ist einer, der die Verhältnisse als gegeben nimmt, der das Feste liebt, Grundsätze pflegt und Traditionen, und der versucht, sich in all dem nach bestem Willen einzurichten. Der Möglichkeitsmensch indes ist ein Mensch des Konjunktivs, er will das Feste wieder flüssig machen, lebt in Gedanken, Träumen und Erinnerungen. Vor allem aber mag er sich nicht damit begnügen, daß die Sprache mit ihren überkommenen Formeln und Begriffen die Möglichkeiten allzu sehr einengt. Weit davon entfernt, ein Idealist zu sein, weiß er auch, daß er der Wirklichkeit nicht einfach ausweichen kann, sondern bedenkt ihre Begrenzungen immer mit. So hat der Möglichkeitsmensch, laut Musil, etwas sehr Göttliches in sich, „ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt“.
Rainer Malkowski war ein großer Skeptiker. Die Macht des Wirklichkeitssinns ist in seinen Gedichten stets spürbar, sei es als menschliche Masse, als Bedeutungszwang, als festgezurrte Erinnerung, als Langeweile, Gewöhnung oder als Überdeutlichkeit der Konturen, die keine Veränderung mehr zuläßt. Die „stockige Luft, / in der zwei mal zwei vier ist“ sitzt wie eine eiserne Klammer um den Kopf des Schreibenden. Doch in den Zwischenräumen entfaltet der Möglichkeitssinn seine Kraft. Es ist die Suche nach dem Beiläufigen und Flüchtigen, das durch genaue Wahrnehmung zugänglich wird, nach kleinen Veränderungen, „ein paar Möglichkeiten mehr / in der Luft“. Und nach Epiphanien, jenen plötzlich aufscheinenden Momenten des Glücks, die ein Gefühl der Ganzheit herstellen:
Heute, das war:
als ich aus dem Haus trat
die Sekunde
Erwartung des Schönen.
Die Idee des Göttlichen, oder genauer: des Metaphysischen und Transzendenten, die ursprünglich mit der Epiphanie verbunden ist, scheint bei Malkowski aufgelöst. Seine Epiphanien sind gleichsam profan. Dennoch haben sie einen utopischen Kern in sich. Das „aufmerksame Auge“, von dem Malkowskis Gedichte immer wieder sprechen, versucht ohne einen Maßstab im Hintergrund auszukommen. Die Vorstellung eines fest umgrenzten Ichs ist den Texten ebenso fremd wie eine Wirklichkeit ohne Veränderung oder gar ein vorgefertigtes Weltbild. Vielmehr scheint es in manchen Stücken um eine Art Aufgehen in den Sinneswahrnehmungen zu gehen, vielleicht sogar im Wahrgenommenen selbst. Als wäre jenseits aller Trennungen ein Sein bei den Dingen möglich, für Momente jedenfalls.
Diese Nähe allerdings hat auch ihre Kehrseite. In einer späten Tagebuchnotiz Malkowskis heißt es:
Intensive Wahrnehmung heute – Licht, Blätter, ein Tisch, der Kalmückenkopf, ein Stuhl. Dies alles so stark, daß ich es nach einer halben Stunde nicht mehr aushielt. Ich kann nicht sagen, was ich eigentlich wahrnahm. Eben die Erscheinungen in ihrer Gestalt und meine Wahrnehmung der Erscheinungen in ihrer Gestalt. Wenn man wirklich lebendig wird, was selten geschieht, fürchtet man sich. Selbst die geringen Dinge verbreiten Schrecken. Unser Wahrheitsbegriff ist an eine bestimmte seelische Temperatur gebunden. Wo die reine Anschauung beginnt, gehen die Begriffe in Feuer auf – wir mit ihnen. Es ist das Ende, wenn wir zu sehen beginnen.
Die genaue Wahrnehmung hebt zwar die vertrauten Kontexte auf, sie macht die Sprache wieder beweglich, aber mit dieser Befreiung geht auch ein Stück Sicherheit und Orientierung verloren, ohne das jedenfalls scheint Malkowski das hier andeuten zu wollen – Leben nicht möglich ist. Die Dinge erscheinen plötzlich als der Inbegriff des Fremden, als das schlechthin andere. Und die eigene Wahrnehmung bekommt etwas Belastendes, erzeugt eine diffuse Angst. Das Sehen wird ebenso fragwürdig wie die Erfahrung des Schönen, als dessen geheimer Untergrund die Furcht spürbar wird. Es ist faszinierend zu sehen, wie Malkowski noch die eigene Utopie wendet und kritisch beleuchtet.
Gleichwohl sind die epiphanischen Momente selten. Und es scheint offen, ob sie die Beharrlichkeit des Wirklichkeitssinnes tatsächlich brechen können. Ohnehin weiß Malkowski allzu genau, wovon Musil so eindringlich spricht: Daß Wirklichkeit und Möglichkeit nicht ohne einander zu denken sind. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, warum Malkowski sich seinen Stoffen meist nur im uneigentlichen Sinne nähert, nämlich ironisch. Die Ironie bietet ihm die Chance, seinen Traum von einer Aufhebung der Sphären auszusprechen und doch zugleich auf die Gebrochenheit dieser Vorstellung hinzuweisen. Aber man kann dieses Moment auch umgekehrt sehen: Gegen alle Brüche erlaubt es die Ironie, ein fast schon trotziges Dennoch zum Ausdruck zu bringen, weil sie gerade in ihrer Uneigentlichkeit den Möglichkeitssinn wach hält.
Bei all der Dingnähe betont Malkowski aber immer wieder, daß ein Gedicht aus Sprache gemacht ist. Ja bisweilen bleiben nur Namen übrig, und jeder Versuch, die Sprache mit Details aufzuladen, treibt umso deutlicher ihren abstrakten Charakter hervor. In einer Rede, die er in der Akademie der Wissenschaften zu Mainz hielt, sagte er:
Was wir die Wirklichkeit nennen, steckt zu einem erheblichen Teil in den Worten, aber es tritt nur mit hinlänglicher Leuchtkraft in Erscheinung, wenn die Worte in einer bestimmten Ordnung zusammengefügt werden. Das Auffinden solcher Ordnungen, die Produktion des verbalen Beziehungssystems, in dem Wirklichkeit vielschichtig zur Anschauung kommt – das ist das Abenteuer. Mit jedem einzelnen Gedicht ist es neu zu bestehen.
Seine Ordnungen für das Gedicht, jene „klaren Muster / für Unklares, / zu kurzen, zu langen / Sätzen geordnet“, hat Malkowski schon früh entwickelt. Er war ein Meister Freier Rhythmen, vermochte es, Anschauliches und Gedankliches in den Versen auszubalancieren. Mal formte er seinen Stoff zu Denkbildern, mal zu Stilleben oder kleinen Vignetten, wie im Gedicht „Mittag im Süden“:
Ein Rolladen aus Blech
vor dem einzigen Geschäft
am Dorfplatz.
Ein Brunnen,
daneben ein roter Klappstuhl.
Nach langer Zeit
ein Ruf,
irgendwo
in den tiefer liegenden Gassen
Der verrückte, verrückte
Sekundenzeiger
meiner Armbanduhr.
Wie in einem Gemälde Edward Hoppers wird hier über die Beschreibung einer Szenerie die Zeit eingeholt. Kein Kommentar ist nötig, kein originelles Bild, nur das Festhalten von Einzelheiten, am Ende erweitert um den Miniaturblick der Uhr.
Die Gedichte verzichten auf ein festes Metrum, oft aber ist es die gleichlautende oder ähnliche Anzahl von Silben, die den Gang der Verse bestimmt, die Variationen und Querläufe erlaubt. Ebenso versteht Malkowski es auf eigene Art und Weise, über Zeilenbrüche den Lesefluß zu beschleunigen und wieder abzubremsen. Um die Sprache und die Gedanken flüssig zu halten, stellt er immer wieder Fragen, nicht rhetorische, sondern Fragen, die ins Offene führen, eine Struktur, die man mit Wisława Szymborska „eine Frage als Antwort auf eine Frage“ nennen könnte, eine Bewegung, die kein Ende hat. Ähnlich schwebend sind die Bilder, die Malkowski benutzt. Sie führen ins Unverstellte, erzeugen beim Leser jenes „Gefühl jähen Wachsens“, von dem Pound gesprochen hatte. So sind Malkowskis Gedichte Erkenntniswerkzeuge. Sie zeigen die Erscheinungen und die reflexiven Zusammenhänge als offenes Geschehen, sie ermöglichen Erkenntnis, indem sie die Dinge im Wortsinne vor Augen führen.
Doch so kunstvoll die Form auch sein mag, das Gedicht geht niemals in ihr auf. So wie zum Schreiben immer mehr gehört als die bloße Arbeit –
Das ist
sowas Unbestimmtes.
Das beginnt
in den scharrenden Füßen.
Oder beginnt es im Kopf?
Das zuckt in den Händen,
läuft aus den Fingern als Tinte
mit Körpertemperatur.
Draußen
schneits
− enthält jedes gelungene Gedicht etwas Unsagbares, das es umkreist. Malkowski nennt dieses Verschwiegene das „Rätsel“ des Gedichts:
Es ist nicht, was es ist.
Es ist das, was ihm nachsinnt.
Es ist ein Drittes, das beides
unaufhörlich erdenkt.
Ob sich dieses „Es“ wirklich ereignet, liegt nicht in der Hand des Schreibenden, es ist dem Zufall geschuldet, ist vielleicht sogar das Wunder des Gedichts. Wenn es glückt, kann es sich auf den Leser übertragen. Er kann die Verse bestaunen, er kann sie wenden und aus verschiedenen Blickwinkeln ansehen – oder einfach nur aufsaugen:
Wir atmen sie ein, und es bleibt uns ein Volumengewinn für immer, über den wir uns aber kaum jemals Rechenschaft ablegen. Eine kritische Erörterung wäre ebenso überflüssig wie die Diskussion über ein Ahornblatt, das im Herbstlicht leuchtet.
VI
Als sich Rainer Malkowski Anfang der siebziger Jahre endgültig auf das Experiment des Schreibens einließ, zog er mit seiner Frau von Düsseldorf aufs Land, nach Brannenburg am Inn, einen kleinen bayerischen Ort dicht an der Grenze zu Österreich. Zwar sah er sich selbst als einen Ortlosen an, stets in leichter Distanz und mit der Möglichkeit, den Platz zu wechseln, doch die Ruhe, die das abgeschiedene Leben mit sich bringt, ist in vielen seiner Gedichte als Atmosphäre spürbar. Etwas fast Meditatives spricht aus diesen Versen, unterfüttert von einer feinen Skepsis, die sich zunehmend an das erinnert, was sich „in den Fugen der Biographie“ eingenistet hat. Dazu gehören Schmerzen, Bilder aus der Kindheit oder Wörter, die irgendwann einmal haften bleiben wollten. Die Vergangenheit, heißt es einmal sinngemäß, kann keine Gewähr dafür sein, daß man auch heute lebt. Auch gibt es Bilder im Gedächtnis, die sich nicht mitteilen lassen, weil sie zu sehr mit der Erfahrungswelt des einzelnen Menschen verbunden sind. Trotzdem wendet sich Rainer Malkowski von Buch zu Buch stärker der Erinnerung zu. Kriegs- und Nachkriegsszenerien erhalten hier Kontur, „die frühen Landschaften / aus Stein. / Häuser mit Bauchschüssen: / Eisenträger, Rohre – / wie starr das metallische / Eingeweide hing. / Trümmerschluchten. / Entblößte Brandmauern, / an die wir mit Kreide / ein Fußballtor zeichneten“. In anderen Versen sind es Reiseskizzen oder Bilder von Ausgrenzung und Leere, die Malkowski inszeniert. Dabei gelingt es ihm atmosphärisch genau, die Spannungen und Spaltungen in den Ritualen des Alltags spürbar zu machen, es mögen Beobachtungen auf der Straße oder im Supermarkt sein oder einfach nur „Nachmittage, sonntags, / unter faden Erwachsenen, / deren Stricknadelgeklapper / kein Ende nehmen wollte“. Auf beiläufige Weise, nur festgehalten in den flüchtigen Erscheinungen der Welt, gewinnt so ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte vor dem Leser Gestalt. Es ist nicht die große Historie, die in den Geschichtsbüchern verzeichnet ist, sondern das Erlebte, die subjektive Perspektive, durch die Form jedoch ins Beispielhafte verwandelt: „Die Geschichte, die ich bin – // aus der ich zitiere, / niemals genau“. Wie kostbar diese Sichtweise ist, in der das Herbstlaub neben zerschossenen Häusern gespeichert ist, betont Malkowski in seinen Gedichten immer wieder. Wenn das Gedächtnis versagt oder wenn jene, die sich erinnern könnten, sterben, geht die Erinnerungsschicht für immer verloren.
Mit dem Anwachsen der Erinnerung tritt auch die Zeit immer deutlicher ins Bewußtsein des Schreibenden. Ein leises Schaudern und das Wissen um die Vergänglichkeit ist diesen Versen eingeschrieben. „Dies ist ein Morgen / zu schön / um nicht an den Tod zu denken“ heißt es schon im ersten Gedichtband. Auch das erfüllendste Augenblicksbild ist nur als gebrochenes vorstellbar, der „verrückte, verrückte Sekundenzeiger“ läßt es nicht zu, die Erfahrung des Schönen auf Dauer zu stellen. Immer häufiger gleicht nun der tägliche Blick in den Kalender einem „Kampf gegen den allmählichen / Tod“. Sind es anfangs noch Bilder der Ruhe und der Gegenwärtigkeit, in die sich ein Memento mori schiebt, so gibt es in den späteren Bänden immer häufiger Gedenkblätter zu entdecken, bisweilen auch Sammlungen von Vergänglichkeitsstücken. In Ein Tag für Impressionisten hat Malkowski sogar ein ganzes Kapitel mit Dinggedichten versteckt. Der französische Dichter Francis Ponge hatte unter dem Titel Le parti pris des choses einst eine Sammlung von Prosagedichten angefertigt, in welchen er alltäglichen Gegenständen wie dem Kieselstein oder der Kartoffel nachhorcht, kreisend, beschreibend, in einer sinnlichen, von definierenden Kommentaren flankierten Sprache. Tatsächlich – und das ist gleichsam die Pointe dieser Stücke – lassen sich die Dinge (auch wenn man versucht, ihr Wesen aufzuzeigen) nie von demjenigen lösen, der sie wahrnimmt, durchdenkt und beschreibt: „Die Vielfalt der Dinge ist es, woraus ich eigentlich bestehe“, sagt Ponge. Auch Malkowski umspielt das fragile Verhältnis von Subjekt und Objekt ein ums andere Mal. So heißt es etwa über das Bett:
Nichts Handfestes wie ein Tisch oder Stuhl.
Eine Brutstätte für Chimären.
Hier sind wir, was wir nicht werden.
Hier treffen wir den Feind zwischen die Augen.
Kein Gegenstand, sondern ein Ort.
Die Zuflucht; hinter der letzten, der innersten Tür.
Ein Schlupfwinkel,
in dem die Verfolger schon warten.
Die gut gepolsterte
Falle der Erinnerung.
Es will nicht hell werden.
Es wird hell,
kaum merklich; jeden Tag dunkler.
Die Dinge scheinen etwas zu sein, das für sich existiert, unabhängig vom Menschen, nach eigenen Gesetzen und mit eigenen Regeln. Auf der geistigen Ebene jedoch, gespeist durch die Erinnerung, lassen sich Menschen und Dinge nicht für sich denken, sondern stehen wie bei Ponge in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. Am Ende erweisen sich die Menschen als das Gedächtnis der Dinge, und umgekehrt geben die Dinge den Menschen Halt, Orientierung und ein „Echo / des entschwundenen Lebens“.
Wo der Abstand zu den Dingen und Wörtern zu groß wird, schlägt er gar um in zarte Angst, davor zunächst, daß die Bilder eines Tages verblassen könnten. Rainer Malkowski litt an einer schweren Augenkrankheit, die zwar durch eine Operation gemildert werden konnte, in den letzten Lebensjahren jedoch wieder stärker wurde. Je mehr die Sehkraft abnimmt, desto deutlicher wird der Schreibende auf die inneren Bilder zurückgeworfen:
Manchmal erbarmt sich
dann mein Gedächtnis −
und beginnt,
für den Kurzsichtigen
zu sehen.
In Ein Tag für Impressionisten, jenem Band, der zur Zeit der Augenoperationen entstanden ist, findet sich ein anrührendes Stück, das etwas vom Glück des Lichts und der Wahrnehmung erzählt – und zugleich von der Angst, diese Erfüllung zu verlieren:
Es wies auf die Gegenstände
und lehrte mich sprechen.
Es lehrte mich lesen und schreiben
nach der Natur.
Ich habe mich für das Licht
nicht bedankt.
Einmal zog es sich zurück,
und ich konnte im Spiegel
meine Augen nicht finden.
Aber dann kehrte es wieder,
und ich habe mich
flüsternd bedankt.
Zu den Schwierigkeiten mit den Augen kam eine Krebserkrankung, mit der Malkowski sieben Jahre lang kämpfte. Er starb am 1. September 2003. Während all der Jahre seiner Erkrankung indes schrieb er weiter und weiter, auch dann noch, als die Wahrnehmung, die „schöne handfeste Geliebte aus glücklichen Tagen“, schon zur Chimäre werden wollte. Sein letzter Band macht die aseptische Stimmung von Krankenhäusern fühlbar und die Angst vor der Einsamkeit. Doch allen resignativen Tönen zum Trotz verlor Malkowski nicht den Glauben an die Kraft der Sprache. Es sind der Schnee und die Luft, die er in seinen letzten Gedichten umspielt hat. Und beseelt von solcher Leichtigkeit konnte er am Ende auch wunderbar genau über die Liebe und das Sehen schreiben. Zwei große Mächte, die sich allem entgegenstemmen, die in der Lage sind, die Wiederholungen des Alltags aufzubrechen, und sei es auch nur in Form kleiner Variationen. So blieb sich Rainer Malkowski bis zuletzt treu. Seine Gedichte versuchen nichts Geringeres, als die Essenz der Welt zu erkunden: Sie forschen den Dingen nach und zeigen zugleich das, was hinter den Erscheinungen liegt.
Nico Bleutge, Nachwort
1975 mit dem Band Was für ein Morgen debütierte, war es die Zeit der neuen Subjektivität in der Lyrik. In seinen Gedichten wird aber die Aufmerksamkeit für das Alltägliche und Gewöhnliche in die philosophische Frage nach dem Wesen der Dinge gewendet und verharrt nicht in der Subjektivität. Indem Rainer Malkowski jede bedeutungsvolle und metaphernreiche Rede vermeidet, dringt er tiefer zum Wahrheitskern seiner Beobachtungen vor. Zwar sind seine Gedichte ein vehementer Einspruch gegen die Anmaßungen der Wissenschaft und die Entzauberung der Welt, sie sind es jedoch nicht aus radikaler Subjektivität, sondern durch ihre Präzision. In seinen Gedichten ist jedes Wort durch den sinnlichen Eindruck gedeckt. Rainer Malkowski hat zu Lebzeiten neun Gedichtbände veröffentlicht. Das gesamte lyrische Werk des 2003 verstorbenen Autors, der einer der erfolgreichsten Werbetexter der Bundesrepublik war, wird hier in einem Band vorgestellt.
Wallstein Verlag, Klappentext, 2009
„Es gibt Gedichte, bei denen man den Eindruck hat, dass die Sprache differenzierter ist als die Wirklichkeit“ – bei der Lektüre der Gedichte von Rainer Malkowski hat man den Eindruck, dass der Germanist Sigbert Latzel bei seinem Aphorismus genau an die Lyrik von Rainer Malkowski gedacht haben muss.
Rainer Malkowski (1939-2003) hat zu Lebzeiten neun Gedichtbände veröffentlicht, dabei war er zunächst in der Werbebranche äußerst erfolgreich, zeitweilig sogar als Mitinhaber einer der größten deutschen Werbeagenturen. Doch der jugendliche Drang zu schreiben war größer und so zog er sich 1972 aus dem Berufsleben zurück. Ein mutiger und entschlossener Schritt, der auch mit einem Umzug aus der Großstadt Düsseldorf ins ländliche Brannenburg am Inn verbunden war. Malkowski machte das eigene Leben zum Experiment: „Ich wollte herausfinden, ob ich der Dichter war, für den ich mich insgeheim hielt.“
Nun liegen im Göttinger Wallstein Verlag sämtliche Gedichte von Rainer Malkowski in einem Band vor. Den Auftakt der 768 Seiten bildet der schmale Debüt-Lyrikband Was für ein Morgen aus dem Jahre 1975, der damals bei Kritikern und Lesern aufhorchen ließ. Der Erfolg bestärkte den Autor in seinem Entschluss, weiter für die Literatur zu leben. So folgten in den 70er und 80er Jahren weitere Lyrikbände (Einladung ins Freie (1977), Vom Rätsel ein Stück (1980), Zu Gast (1983), Was auch immer geschieht (1986) und Das Meer steht auf (1989)) quasi im Dreijahrestakt.
In den 90er Jahren erschienen dagegen nur noch zwei Lyrikbände Ein Tag für Impressionisten und andere Gedichte (1994) sowie Hunger und Durst (1997). Die Veröffentlichung seines letzten Gedichtbandes Die Herkunft der Uhr (2004) erlebte der Autor dagegen nicht mehr.
Rainer Malkowski ließ sich in seinen dreißig Schaffensjahren nie in eine lyrische Schublade einordnen: Alltagslyriker, Naturlyriker, Vertreter der „Neuen Subjektivität“, Augenblickslyriker… seine Lyrik war wohl ein Konglomerat aus verschiedenen Strömungen. Im Mittelpunkt stand aber immer die Beobachtung der Umwelt, die mit Behutsamkeit und Genauigkeit, aber auch mit Desillusionierung skizziert wurde. Dabei hatte Malkowski zu einer poetischen Sprache gefunden, die seine Gedichte zu persönlichen Wahrnehmungen machten.
Oft setzen die Gedichte mit Naturbeobachtungen ein, in die sich dann unvermittelt Gedanken, Träume und Erinnerungen einschieben. So entstehen nüchterne Blicke, die von außen nach innen führen und das „Sichtbare“ sichtbar machen wollen.
Das abschließende Nachwort des Germanisten und Lyrikers Nico Bleutge führt in das lyrische Werk von Rainer Malkowski ein und gibt so Unterstützung für das tiefere Verstehen. Die Ausgabe besticht auch durch die gewohnt gute Qualität im Wallstein Verlag. Der Gedichtband ist daher eine absolute Empfehlung, zudem schließt er eine Lücke in der deutschen Lyriklandschaft und stößt Türen zur Neuentdeckung auf.
− Ein Sammler leuchtender Augenblicke: In seinen Gedichten begibt sich der 2003 verstorbene Schriftsteller Rainer Malkowski auf die Suche nach der Epiphanie und entzieht sich der Forderung nach ständiger Weiterentwicklung der Form. −
In Hunger und Durst, dem letzten Gedichtband, den er noch vollenden konnte, veröffentlichte Rainer Malkowski ein Gedicht über den Tod seines Vaters:
Ich hasse das Militär −
und dachte, als er zwei Jahre lang
klaglos starb,
stolz:
Wie ein Soldat.
Das war 1997. Da hatte der Dichter noch sechs Jahre zu leben. Zu einem schweren Augenleiden war eine Krebserkrankung hinzugetreten. Malkowski hat sein Sterben so angenommen, wie er in den Versen über seinen Vater schrieb. In einem seiner letzten Gedichte bat er darum, seine „Urteilskraft“ möge ihn „im Nebel der Medikamente“ nicht verlassen. Diese Bitte wurde ihm erfüllt. Das Einverständnis mit dem Sterbenmüssen reichte bis in seinen Tod am 1. September 2003. Der Kreis hatte sich geschlossen. Denn schon in Malkowskis erstem Buch von 1975 stehen die Zeilen:
Dies ist ein Morgen
zu schön
um nicht an den Tod zu denken.
Was für ein Morgen hieß dieser Lyrikband. Mit solch erfrischender Evokation betrat ein Mann von Mitte dreißig die lyrische Szene, auf der die schlechte Laune der Politpoesie herrschte. „Erleichtert, / mit triumphierend geschlossenen Augen“, heißt es da, „nehmen wir Abschied von allen Plänen“. Man hat Malkowski jener Neuen Subjektivität zugeschlagen, die das linke Projekt in den Alltag von Demo und Biertresen hineinretten wollte. Nichts falscher als das. Malkowski war alles andere als ein Ideologe, er kam aus der Praxis des Lebens. Er hatte nach Tätigkeiten in Verlagen in der Werbung gearbeitet und war bis 1972 Geschäftsführer und Teilhaber der damals größten deutschen Werbeagentur gewesen. An diesem Punkt der Karriere stieg Malkowski aus. Er zog mit seiner Frau in die Stille, nach Oberbayern, nach Brannenburg am Inn. Die lange vorbereitete Entscheidung für das Schreiben war gefallen: „Ich begriff allmählich / für welche nicht / mehr zu unterdrückenden Sätze.“ Es war die Entscheidung für das Gedicht.
Malkowski war ganz und gar Lyriker. Das bezeugen die neun Bände, die er in einem Vierteljahrhundert erscheinen ließ. Auf über 700 Seiten sind sie nun als Die Gedichte zusammengefasst. Zwar schrieb Malkowski auch wunderbar hintergründige Aufzeichnungen als „Hinterkopfgeschichten“, so entzückend wie ihr Titel „Im Dunkeln wird man schneller betrunken“. Nicht vergessen sei auch seine Prosanachdichtung des Armen Heinrich. Die Geschichte von der Heilung eines Schwerkranken durch Opfer und Liebe war für den Todkranken ein Abwehrzauber. Der Kern von Malkowskis Werk aber ist die Lyrik. Das Schreiben von Gedichten war ihm Leben.
So kann man leben:
jeden Tag ein paar Sätze aufschreiben.
Andere sind Arzt
oder fahren Omnibus.
Malkowski hat kein Doppelleben à la Benn geführt; er hielt es mit Rilke, für den Dichtung und Dasein fast identisch waren. Erstaunlich ist, wie gleich Malkowski sich in den drei Jahrzehnten seines Schreibens geblieben ist. Ausdruck, Thematik und Stil zeigen kaum signifikante Änderungen. Entwicklungsfremdheit sei die „Tiefe des Weisen“, hat Gottfried Benn behauptet. Malkowski war kein Weiser, wollte kein Weiser sein. Er trumpfte nie auf, blieb skeptisch und diskret. Er blieb lebenslang ein Staunender, dem das Leben ein Rätsel war. Vom Rätsel ein Stück nannte er einen Band von 1980. Da heißt es:
Wenn es dich streift,
bleibt es für immer.
Und flog doch vorbei
und ließ nichts zurück.
So spricht niemand, der sich im Besitz der Wahrheit wähnt.
Staunen war auch für ihn der Anfang aller Wahrnehmung. In einer seiner wenigen theoretischen Verlautbarungen, seiner Rede zum Breitbach-Preis, fand Malkowski die Formel:
Wahrnehmung als Ereignis – das ist es, was im Bewusstsein des Autors vorangegangen sein muss, damit das Gedicht entstehen kann.
Ich wüsste keinen neueren Lyriker, dem die Wahrnehmung so wichtig gewesen wäre wie Rainer Malkowski. Er war ein Erotiker des Sehens. Umso mehr, je schwerer die Gläser wurden, die er tragen musste. Fast neidvoll bewunderte er den Insektenforscher Fabre:
Was die Mühe lohnt,
konnte er
mit bloßem Auge entdecken.
Das schrieb er am Eingang zu seinem Band Ein Tag für Impressionisten. Doch bei aller Sympathie für Naturforscher oder Maler wusste er um das Privileg der poetischen Erkenntnis. Denn selbst bei den Malern sah er das Problem, dass sie etwas „anschauen, ohne es zu erkennen“. Malkowski setzte auf jenes schwer Auffindbare, „das schon da war / mit der Deutlichkeit des Schmerzes“.
Das Verborgene, das plötzlich schmerzhaft deutlich aufscheint, ist die Epiphanie. Malkowski war geradezu süchtig nach epiphanischen Momenten. Er war ein Sammler der leuchtenden Augenblicke.
Heute, das war,
als ich aus dem Haus trat
die Sekunde
Erwartung des Schönen.
Für den Erzähler mag es die Stunde der wahren Erkenntnis geben. Für den Lyriker geht es um kürzere Intervalle, um die Momente, die kommen und gehen, ohne sich zu einem System oder einer Lehre zu verfestigen. Er muss immer neu ansetzen, er kommt nicht ans Ende. Er braucht neun Bände, siebenhundert Gedichte. Doch ihm genügen die kleinsten Anlässe, die heterogensten Details, um sich des Universums zu vergewissern.
In Die Herkunft der Uhr, seinem unvollendet gebliebenen neunten Band, gibt es etwa den „Augenblick“, der von der Beobachtung einer Fliege ausgeht. Sie lässt sich auf einem Brief nieder, darin über die Fliegen im Sommer geklagt wird:
und in derselben Sekunde
in der sie wieder abhebt,
höre ich,
wie Klaus und Carla im Nebenzimmer
über das Universum sprechen.
So rückt dem Lyriker für eine Sekunde das Universum nahe. Im Gedicht spricht nicht die Tiefe des Weisen, sondern das Staunen des ewigen Kindes. In diesem Sinne ist Entwicklungsfremdheit ein Signum von Malkowskis Poesie. Bei kaum einem seiner Gedichte möchte man mit Gründen vermuten, in welchem der letzten Jahrzehnte es entstanden ist. Das Epiphanische transzendiert die Zeit. Es hält die Verse frisch. Wo sie den leuchtenden Moment verfehlen – wie möchte es bei Hunderten von Gedichten auch anders sein −, gibt es bemühte Etüden, privatistische Notizen, vorschnelle Verallgemeinerungen. Kurz: Ermüdendes.
Mancher Liebhaber der Lyrik mag sich auch daran stoßen, dass Malkowski nicht sonderlich an Formen und ihrer Entwicklung interessiert war. Er folgte der eigenen „Einladung ins Freie“ der Poesie. Der Typus des freirhythmischen reimlosen Gedichts blieb dominant. Erst der sechzigjährige, der späte Malkowski probiert wieder auch Strophe und Reim. Zumeist ironisch oder milde sarkastisch. Doch der Reim fasst nichts mehr zusammen. Er löst auf. In „Ein Bild von Gerstl“ heißt es von den zwei Schwestern, die dort figurieren:
Vier Augen schauen her,
sie schauen dich ganz leer,
doch was aus ihnen spricht,
du weißt es nicht.
Die angeschaute Welt reagiert negativ, ja aggressiv. Sie erscheint leer und sinnlos, nicht mehr fassbar, nicht mehr erkennbar. Dem todkranken Dichter mag auch das eigene Werk zweifelhaft geworden sein: „Aber davon ist jetzt nicht / die Rede.“ Doch diesem Satz geht ein anderer voraus, und der ist für uns entscheidend: „Das Lebenswerk, denken ein paar / von den andern, / bleibt.“ Dem Werk Rainer Malkowskis, darin so viele Epiphanien aufleuchten, wünschen wir viele Leser, die ebenso denken. Man muss es lieben.
− Rainer Malkowski hat zu Lebzeiten neun Gedichtbände veröffentlicht. Das gesamte lyrische Werk des 2003 verstorbenen Autors, der einer der erfolgreichsten Werbetexter der Bundesrepublik war, wird hier in einem Band vorgestellt. −
Rainer Malkowski:
Ein Tag für Impressionisten
Auch nach drei Wochen
noch keine Spur von Langeweile
beim Anblick des Sees.
Das Wasser schmatzt am Ufer
mit ungestilltem Appetit.
Ein Tag für Impressionisten,
vielleicht etwas windig.
Der alte Mann auf der Bank
hält die flatternde Buchseite fest.
Nichts überschlagen.
Jedes Wort ist das gesuchte.
Eine Glocke buchstabiert die Mittagsstunde
ruhig und bestimmt ins Blaue.
„Ein Tag für Impressionisten, vielleicht etwas windig“ – Rainer Malkowski war kein Freund vieler oder gar großer Worte. Seine Arbeit aus 30 Jahren ließe sich in einem Band von kaum 1.000 Seiten fassen. Den Löwenanteil machen Gedichte aus – und die gibt es jetzt in einer schönen Ausgabe. Sie enthält alle Lyrikbände des Autors und zeigt die beeindruckende Konsequenz eines Werks, das leider immer noch zu wenig gelesen wird. Es sind klare, im besten Sinn einfache Texte, die konstatieren, was da ist, wahrgenommen werden kann – aber auch dem Rätsel, dem nicht fassbaren Raum geben.
Rainer Malkowski wird 1939 in Berlin geboren. Er arbeitet erfolgreich in Werbeagenturen, zuletzt als Geschäftsführer in Düsseldorf. Dann wechselt er die Seiten. Vom Wort, das etwas verkaufen will, zum Wort, das sich selbst genügt: zur Lyrik. 1972 zieht er sich als freier Autor in die bayrischen Voralpen zurück.
Nico Bleutge:
Was ich auch sehr schätze an ihm, ist diesen Zusammenhang zu lernen, wie Leben und Schreiben zusammenhängen.
Der junge Lyriker Nico Bleutge schrieb ein kluges Nachwort zu der Ausgabe:
Ich bewundere auch diesen Mut, eine feste Beschäftigung aufzugeben und sich ganz dem Schreiben zu widmen, mit allen Risiken, die damit verbunden sind. Malkowski selber meinte einmal: „Die finanziellen Risiken sind noch das Geringste. Es geht auch um das geistige Risiko, eine Schreibexistenz zu führen, mit all den Gefahren, dass die Stimme eines Tages versiegen könnte und man geradezu aufgesaugt wird von der Leere des Blattes.“
1975 erscheint Malkowskis Debüt Was für ein Morgen in der renommierten edition suhrkamp. Er findet von Anfang an einen eigenen, sicheren Ton, der sich im Lauf der Jahre kaum ändert. Die Kritik begrüßt sein Debüt und die späteren Werke fast einhellig. Das mag auch an der Genauigkeit dieses Autors liegen, der sich vor allem auf die kleine Form des Gedichts und der kurzen Prosa konzentrierte.
Nico Bleutge:
Er hatte die Überzeugung, dass die einfache Sprache sozusagen das „Einfallstor“ ist, um sich dem Komplexen und der Ganzheit der Welt nähern zu können. Am Anfang jedes Gedichts steht für ihn die Wahrnehmung. Malkowski nennt das „Wahrnehmung als Ereignis“. Es ist also nicht nur die zufällige Alltagsbeobachtung, sondern das genaue Sehen. Auch die anderen Sinne sind sehr wichtig. Aber seine Gedichte bleiben dabei nicht stehen, sondern versuchen das Wahrgenommene mit dem Nachdenken zu verknüpfen. Es gibt sogar die Überzeugung bei ihm, dass das genaue Sehen sich, je intensiver man es betreibt, gar nicht mehr unterscheiden lässt von Reflexion.
Rainer Malkowski:
Zwei Sessel
sie haben mir gedient.
Und ich besinge sie so nüchtern,
wie es ihnen entspricht.
Schwarz gestrichenes Holz
und Segeltuch −
Material für ein Schiff,
eine Reise.
Und bin ich nicht
in ihnen gereist?
Manchen Tag, manche Nacht
denkend
und träumend?
Sie gaben immer,
was Dinge geben können:
zuverlässig scheinenden Halt,
Orientierung
und ein leises
Echo
des entschwundenen Lebens.
Malkowskis frühe Bücher erscheinen zur Zeit der sogenannten „Neuen Subjektivität“, reichen mit ihrer poetischen Verdichtung und Reflexion aber weit darüber hinaus. Später finden sich Verse, die man gleichsam als „Maximen und Reflexionen“ des Autors lesen kann – nicht nur was sein Leben betrifft, sondern auch seine Unabhängigkeit von literarischen Moden.
Ein Ausdruck der Freiheit:
sich eine eigene
Notwendigkeit schaffen.
Manchmal äußerte er sich über Kollegen, etwa Heine, Brecht, Günter Eich. Er tat es mit wenigen Worten – nicht, weil er wenig zu sagen hatte, sondern aus Respekt. Literaturtheorie bedachte er skeptisch; seine wenigen poetologischen Schriften sind denn auch alles andere als abstrakt.
Zum Schreiben gehört die Erfahrung der Ohnmacht. Aber in glücklichen Augenblicken ist es die Lust, etwas zu „machen“, in dem sowohl die Welt als auch ich selbst auf geheimnisvolle Weise anwesend sind – durch nichts als eine Handvoll Wörter. Und das zugleich ein Drittes ist: ein Ding für sich, mit eigenem Atem.
Nico Bleutge:
Das Schöne an Malkowski ist, dass seine Gedichte im Innersten hochkomplex sind, man ihnen das aufs erste Lesen aber überhaupt nicht ansieht. Jeder kann sich ein solches Gedicht nehmen und lesen, findet sofort einen Zugang. Erst nach und nach, auch in den kürzesten Gedichten, kann man immer mehr Schichten erkennen und sieht, mit welchen Vorlagen er gearbeitet hat, wie er rhythmisch arbeitet. Das Schöne ist, dass er sich nicht auf große philosophische Theorien bezieht, sondern seine „Gegenstände“ aus der alltäglichen Beobachtung nimmt – und versucht, den Dingen, die er beobachtet, ihre Essenz abzuhorchen. Oder er versucht einem Gegenwartsmoment nachzuhorchen, versucht den festzuhalten, aber nicht als eine Art Augenblicksaufnahme. Er ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass ein gutes Gedicht in diesem Versuch, die Gegenwart festzuhalten, immer schon Vergangenheit und Zukunft mitdenkt – und versucht, die Paradoxie der vergehenden Zeit in Sprache zu bannen.
Malkowskis letzte Lebensjahre sind von Krankheit überschattet. Der Augenmensch und Meister der Wahrnehmung erblindet und ist schwer krebskrank. Er stirbt 2003, mit nur 63 Jahren. Posthum erscheint der Band Die Herkunft der Uhr. Er enthält Gedichte und Prosagedichte, die zuvor verstreut erschienen, sowie Texte aus dem Nachlass. Diese späte Lyrik über Menschen und Dinge, Reisen und Spaziergänge, Kunst und Musik belegt noch einmal das Können des Autors; sie ist hoch verdichtet und zugleich transparent. Allerdings gibt es, nach Jahren der Krankheit, mehr Trauriges und Düsteres als früher. Doch findet man auch zuversichtliche, fast heitere Verse. „Was ich unter anderem noch schreiben will“ heißt eines seiner letzten Gedichte. Er trotzt es buchstäblich Krankheit und Tod ab – und formuliert zugleich einen Einspruch dagegen. Ein schönes Paradox: Es geht um ein Vorhaben, welches das Gedicht selbst schon einlöst:
Was ich unter anderem
noch schreiben will:
Einen schimmernden Vers
über einen Frauenschenkel.
Meinen Dank an einen Rock,
der wusste,
wann er sich zurückziehen muss.
Ein Spottlied
über alternde Männer,
die sich zum Narren machen.
Eine Verteidigungsrede
für jede Narrheit,
die das Leben ist.
FOTOS
All die nichtssagenden Fotos,
in die wir unsere Liebe hineinlesen,
unsere Erinnerung an Augenblicke,
die nicht auf dem Bild sind.
Ihr Armen,
was tut ihr, wenn wir sterben,
unter Menschen, die nur sehen,
was ihr zeigt?
Reduziert
auf das Sichtbare:
wer könnte so leben.
„Weltlyrik“ – das klingt nach großer, weiter Welt. Amerika, Karibik, Pazifik, China, Australien, Copacabana, Patagonien, Paris, New Delhi, Sao Paolo. Aber wer verbindet mit Brannenburg, einem kleinen, unbedeutenden Flecken an der bayerisch-österreichischen Grenze, „Weltlyrik“?!
Und Rainer Malkowski (1939–2003), der die letzten Jahre seines Lebens, gezeichnet von einer fortschreitenden Krebs- und Augenerkrankung, dort verbracht hat, war alles andere als ein ruheloser Weltreisender. Ob seine Gedichte in andere Sprachen übersetzt worden sind, weiß ich nicht. Bekannt jedenfalls war er außer in kleineren deutschen Literaturkreisen sicherlich nicht in der weiten Welt.
Malkowski war ein stiller Außenseiter, der sich nicht in den einschlägigen Salons und literarischen Zirkeln aufhielt. In den früheren Jahren war er in der Werbebranche tätig. Aber irgendwann ist er aus diesem oft lauten und aggressiven Gewerbe ausgestiegen, um sich nur noch dem Schreiben von Gedichten zu widmen. Mit größter Genauigkeit, so wie ein Uhrmacher auf das feinste Räderwerk einer Uhr schaut, wollte auch Malkowski mit Worten erfassen, was die Welt, was seine Welt, was unsere Welt im Innersten zusammenhält.
In diesem Sinne war Rainer Malkowski ein „Weltlyriker“, der die Leser seiner Gedichte dabei hilft, sich in der Welt „da draußen“ und der „da drinnen“ auszukennen. Oder, besser formuliert, der mit oft nur wenigen Worten in unsere gewohnte Wahrnehmung der Welt kaum spür- und sichtbare Risse einfügte.
EPITAPH FÜR EINEN LEISEN ERZIEHER
Du hast etwas
von mir erwartet,
Aber ich wusste nicht, was.
Irgendetwas
hast du geglaubt,
wird deutlich geschehen.
Eine Zeit später
begann ich,
danach zu suchen.
Das ganze jetzt langsam auslaufende Jahr 2012 über habe ich Gedichte von Rainer Malkowski gelesen. Neugierig auf jeden Gedicht, immer irritiert durch die manchmal mit dem letzten Wort gelungene vollkommene Neudeutung des zuvor Geschriebenen, staunend über diese perfekte Sprachbeherrschung, die uns bekannte Wörter auf einmal vollkommen anders lesen lernt.
Sich zurechtfinden – eine Frage
der Belichtungszeit.
Nicht zu lange hinsehen.
Die Perspektive wechseln.
Bei Verstand bleiben
durch unsteten Blick.
Im Göttinger Wallstein-Verlag liegt eine umfassende Sammlung mit den Gedichten von Malkowski vor (Die Gedichte, Göttingen, 2009), die von Nico Bleutge mit einem ausführlichen Nachwort gewürdigt werden. „Seine Gedichte“, schreibt Bleutge da, „versuchen nichts Geringeres, als die Essenz der Welt zu erkunden.“ Weltlyrik eben…
− Lyrik: Postum ist ein Gedichtband von Rainer Malkowski erschienen. −
„Unsere Lieblingsgedichte sind wahrscheinlich jene, bei denen wir am deutlichsten fühlen, dass sie uns sehend machen.“ So heißt es in einer der seltenen poetologischen Äußerungen von Rainer Malkowski. Sehen und sehend machen – darum ging es dem Dichter. Und es gehört zur Tragik seines Lebens, dass dieser Meister der genauen Wahrnehmung gegen Ende seines Lebens nahezu erblindet war.
Als er 2003 im Alter von 63 Jahren starb, hieß es, Malkowski habe ein schmales Werk hinterlassen. Das stimmt so nicht. Zwar gibt es von ihm keine umfangreichen Prosaarbeiten, keine Romane, Dramen, Hörspiele, Essaysammlungen. Doch der jetzt vorliegende Band mit den gesammelten Gedichten – er enthält die zwischen 1975 und 2004 erschienen neun Gedichtbücher – umfasst immerhin gut 700 Seiten.
Rainer Malkowski war bereits 36 Jahre alt, als er 1975 debütierte mit dem Lyrikbändchen Was für ein Morgen, das die fast einhellige Zustimmung der Kritik fand. Zu Beginn der siebziger Jahre war Malkowski Geschäftsführer und Teilhaber der damals größten deutschen Werbeagentur gewesen. Abrupt beendete er seine Karriere und gab die entfremdete Arbeit auf, um ganz für die Dichtung leben zu können, für eine Poesie, die nicht plakativ, nicht grell ist und nicht die geringsten Spuren von dem an sich hat, was man aus den Texten der Werbebranche kennt.
Man hat Malkowskis erste Gedichte gelegentlich der damals in Mode gekommenen „neuen Subjektivität“ zugezählt. Aber das traf nicht den Kern. Denn Malkowski ging es nicht wie so vielen seiner schreibenden Generationsgenossen um das bloße Ich-Sagen. Seine Lyrik – fast durchweg reimlose Verse – ist welthaltig, will Erkenntnis vermitteln, Erkenntnis durch Wahrnehmung.
Kürze, Prägnanz, Schlichtheit zeichnen die Gedichte Malkowskis aus, es gibt keinen Pomp, kein Schwelgen in Metaphern, keine Mystifizierungen, nicht (so Karl Krolow) „das schwere Atmen der Anstrengung“, stattdessen öfter eine leise Ironie, versetzt mit Melancholie ohne Larmoyanz.
Natürlich sind nicht all die hunderte Gedichte von Rainer Malkowski perfekt: Gelegentlich stören kleine sprachliche Fehler, bisweilen wird die Außenwelt auch allzu rasch zur Projektionsfläche innerer Befindlichkeiten. Insgesamt aber ist dieses lyrische Werk doch so reich an gelungenen Gedichten, dass es verständlich bleibt, dass dieser Dichter schon zu Lebzeiten die ihm gebührende Anerkennung für sein literarisches Wirken fand.
Jürgen P. Wallmann, echo-online.de, 5.1.2010
Wenn einem bekannt sei, dass einer erblindete, so Georg Lichtenberg, dann sehe man es diesem Menschen auch von hinten an. Rainer Malkowski litt an einer schweren Augenkrankheit, die ihn über lange Zeit und bitternah an den Rand der Finsternis trieb. Dies wissend, wittern wir bei diesem betörend gutartigen Dichter von früh an eine besondere Sehschärfe, eine geradezu zitternde Fühligkeit für die Brechungen, Flüchtigkeiten und Verzauberungskräfte des Lichts, ebenso für die Kraft der Schatten, die aus allen Seelen und Dingen hervornebeln.
So also ist es gemäß des Lichtenbergschen Thesenspruchs nicht zu verhindern: Der Blick vom Ende und von der ständigen Gefährdung her auf alle Phasen des poetischen Werks – der Lyriker veröffentlichte sieben Gedichtbände – beizt noch die einst unbekümmerten Heiterkeiten im Nachhinein mit Dunkelstoff. Es brennt sich geradezu ein, mit welcher Trefflichkeit Malkowski, beizeiten so gültig!, die Alltäglichkeiten, Profanbeobachtungen und Unscheinbarkeiten in einen Ausdruck zwingt, nein!, natürlich nicht zwingt, sondern geleitet; und im Vers weitet sich dieser Geringstoff des gewöhnlichen Lebens auf ganz unangestrengte Weise zur erschütternden Wahrheit. Das Gedicht ist eine „weitgeöffnete Tür / zu einem Zimmer, / das keinen Boden hat“.
Wo der Mensch ist, so erzählen die Gedichte, tummeln sich nicht Wesen wie alle anderen im Licht der Sonne, sondern es geschieht eine Erleuchtung, die die Welt überhaupt erst offenbart. Erst in unserem Augenaufschlag kommt die Welt gewissermaßen zu sich. Augenaufschlag ist Weltaufgang, und der Dichter, der seine Augen als kostbares Weltschaffungsorgan so ausdauernd bedroht erleben muss, scheint eine trotzig intensive Gabe zu besitzen – die Umwandlung seiner Sehkraft für die bewegte Oberfläche der Welt in die Anschauung von Ideen, in denen sich Hören und Sehen zu etwas vereinen, das uns nicht vergehen möge. Als brenne im unruhigen Flackern der Dinge immer schon das Ruhelicht letzter Grundlagen, die über das Leben hinausführen werden.
Das Wissen darum ist eine Stärkung für das Leben, kein Kraftentzug. Nichts, worauf er wahrnehmend stößt, bleibt diesem Dichter leblos, auskunftslos, und so fühlt er sich ganz selbstverständlich ein in Dinge wie etwa einen Stein, der „kostet es aus, / wenn ihn jemand träumerisch / in der Hand wiegt – / vorübergehend Mut fasst / beim Gedanken an ein so altes Wort / wie Ewigkeit. /… / Ein Zerstörbarer, der sich rächt, / weil wir ihn / für tot Natur halten“.
Du liest diese Gedichte und bist plötzlich auf ganz eigentümlich rührende, besänftigende Weise befreundet mit jener Verletzbarkeit deines Daseins, die dich täglich mit überraschend aufkommenden Schüben quält, weil sie dich an Verwitterung, Einsamkeit, Tod, Unerlöstheit denken lässt. Mit Malkowski lässt sich gut staunen, wie man mit den Unfassbarkeiten der Existenz doch weiterlebt, jeden Tag ein Stück unsicherer, hautdünner und doch auch auf seltsame Weise gefasster. Als „Frommen Wunsch“ formuliert der Poet:
Niemals soll kommen
das Ende
der Vorläufigkeit.
Malkowski, 1939 in Berlin geboren, eine erfolgreiche Zeit in der Werbebranche tätig, lebte ab Anfang der siebziger Jahre im selbstgegebenen Dichterauftrag. Ein stiller, tapfer frei Schaffender, beseelt abseits. 2003 starb er, sieben Jahre hatte er gegen den Krebs gekämpft, und trotz der renommierten Preise, die er erhielt, bleibt uns das Bild eines marktfernen Schriftstellers, dessen zurückziehende Existenz (nicht: zurückgezogene, denn wer zöge da, wenn nicht der mutige stolze Einsiedler selbst?!) sehr genau festhält, was wichtig ist:
Unerwarteter Gesang.
Die Treue zu Bäumen,
die nicht in den Himmel wachsen.
Alles, was du nicht kannst.
Nachsicht und Unnachgiebigkeit
im richtigen Verhältnis.
Schlecht rechnen
in Menschendingen.
Des Dichters Selbstbewusstsein erwuchs aus der einzig bedeutsamen Verbindung von Schreibendem und Lesendem: Einsamkeit zu Einsamkeit. Dieser Chorus der solcherart Vereinzelten als wehrhafter Trupp gegen die uniforme Masse der Individualisten – in wechselnden Zeiten, die immer Zeiten des Geistinfarkts sind. Und dieser Geist ist bei Malkowski ein sanftes Wesen, das die Dinge nie frontal angeht. Das schönste Licht dieser Gedichte ist das Streiflicht,
man kommt ins Gespräch
mit seinem immer ausführlicher
werdenden Schatten.
Wenig Neues
dabei zu erfahren.
Aber das Alte gewinnt
seine Wahrheit zurück,
dass es einem
die Kehle zuschnürt.
Im klugen, einfühlsamen Nachwort schreibt Herausgeber Nico Bleutge, Malkowskis letzter Gedichtband Die Herkunft der Uhr mache die aseptische Stimmung von Krankenhäusern fühlbar und die Angst vor der Einsamkeit. Doch allen resignativen Tönen zum Trotz habe der Dichter nicht den Glauben an die Kraft der Sprache verloren. „Es sind der Schnee und die Luft, die er in seinen letzten Gedichten umspielt hat“. Beides Botschafter der Leichtigkeit, und so konnte er am Ende auch noch einmal „wunderbar genau über die Liebe und das Sehen schreiben, zwei große Mächte, die sich allem entgegenstemmen, und die in der Lage sind, die Wiederholungen des Alltags aufzubrechen, und sei es auch nur in Form kleiner Variationen“.
Dies sind Gedichte einer unbewaffneten Nachbarschaft. Der Dichter ist nicht unberührt vom Grau bürgerlicher Mittellagen, aber zwischen Alltagszwang und Befreiungswunsch, zwischen Traumzeit und Leistungszeit herrscht, währenddessen uns die Jahre unbemerkt vergehen, der rege Verkehr der nützlichen Illusionen:
Immer noch bin ich versucht,
zu denken: morgen
beginnt das Leben.
Dies unbegriffen gärende Ereignis Leben!, das ruppige Tatorte und charmante Unterlassungsorte zu bieten hat. Rainer Malkowski führt uns an Zweitere, wo der schönste Nachruf wäre, wir seien an unseren schweren „Verwunderungen“ gestorben.
Dorthin führt er uns also, wo das Dasein nicht jenes komplizierte und frustrierende Planerfüllungs- und Nachholgeschäft ist, nicht dieses arme Vertagungs- und Vermeidungsspiel, keine dieser geläufigen Umschuldungs- und Abzahlungsaktionen, in die wir fortwährend verstrickt sind. In Malkowskis Welt sitzen nicht Realisten aller Couleur auf der Reservebank und warten auf die Wiederkehr ihrer Auftritte für lauter Absagen. Dieser Dichter macht uns neugierig und wach für jeden Moment; das ist für ihn etwas, das man nicht zweimal sagen muss, aber immer wieder neu in möglichst unzähligen Gedichten. Die Gedichte eines Meisters liegen nun in einer wahrlich schönen Ausgabe vor. Ein Geschenk für Menschen, die diesen Vorsatz teilen:
Nie
will ich sagen müssen:
ich habe mir die Welt
nicht genau genug
gemerkt.
Henning Heske: Klare Muster für Unklares
poetenladen.de, 1.4.2010
MALKOWSKI
Wir sprachen über Celans Atem
Als uns ein Autobus durch Hügel
Schüttelte wir hingen ländlich wie
Getreidesäcke an den Schlaufen
Verloren hie und da ein Körnchen
Wechselten da und dort ein Wort
Wolfgang Heidenreich
Walter Helmut Fritz: Ein leises Echo des entschwundenen Lebens
Stuttgarter Zeitung, 3.9.2003
Albert von Schirnding: Gehen und Sehen
Süddeutsche Zeitung, 3.9.2003
Hans-Dieter Schütt: Glücklich im Bahnhofsrestaurant
neues deutschland, 31.8./1 9 2013
Schreibe einen Kommentar