KINETISCHE PLASTIK
Vier stählerne Zeiger,
die langsam
und in überraschende Richtungen
ihre Stellung verändern.
Die Beständigkeit der Unruhe
äußert sich als Ruhe.
Das Datum der Zeitung,
die der Betrachter unter dem Arm trägt,
verliert seine Beweiskraft.
Die wandernden Stahlspitzen
machen Vorschläge,
wo die verstreichende Zeit
zu suchen ist.
Der unermeßliche Raum wird
− mit einem lautlosen Spottlied
auf die Astrophysiker −
noch einmal neu
eröffnet.
– Von Zeit zu Zeit gibt es einen Paradigmenwechsel in der Art lyrischen Sprechens. Die Heraufkunft von etwas völlig Neuartigem scheint sich anzubahnen. Doch bei genauerem Hinsehen und relativierendem Vergleich zeigt sich gewöhnlich, daß auch das scheinbar Beispiellose nur eine Variante von etwas Vorausgegangenem ist, sozusagen: die Wiederkehr eines Archetypus, lediglich zeitgemäß ausgestattet, bereichert um die Erfahrungen und Valeurs einer späteren Epoche. –
Auch Durs Grünbein, der junge erfolgreiche Lyriker aus der ehemaligen DDR und letztjährige Büchner-Preisträger, bildet da keine Ausnahme – ungeachtet der Faszination, die von ihm ausgeht und die ihn, jedenfalls bei den Kritikern und Lesern seiner Generation, zu einer Kultfigur hat werden lassen.
Das Zerebrale, das seine Dichtung besitzt, hat es zuvor bereits bei anderen Poeten gegeben, im deutschen Sprachbereich vor allem bei Benn, der sich selber bekanntlich einen „armen Hirnhund“ nannte, „schwer mit Gott behangen“.
Was Grünbein von Benn unterscheidet, ist – außer der Abwesenheit von (negativer) Religiosität – der Umstand, daß er seinem Denken keinerlei Richtung mehr gibt, sondern es quasi um sich selbst kreisen läßt: hypertroph und solitär. Seine „Hirnmaschine“ läuft ohne bestimmte Inhalte. Und Descartes’ „Ich denke, also bin ich“ wurde schon in dem Gedichtband Schädelbasislektion ersetzt durch die ironische Festschreibung, daß „,Ich denke‘ nur ein Bluterguß“ sei.
In Falten und Fallen, Grünbeins dritter Verssammlung, wird das Maß an Kopflastigkeit zwar deutlich verringert, es gibt aber nach wie vor keine Ausbalancierung von Denken und Fühlen, sondern weiterhin ein bloßes Flattern von Nervenenden, die sich hie und da mit einem Stück sinnlicher Welt und konkreter Erfahrung verknüpfen.
Das Ganze bleibt sonderbar orts- und beziehungslos – entsprechend dem, was Gustav Seibt „Metropolenerfahrung“ nennt, ein Wort, das durchaus greift bei der Beschreibung dieses dissonanten Dichters, der in einem der Texte des Zyklus „Variationen auf kein Thema“ von sich selber sagt:
Skeptisch, belesen, gereizt… ganz im Stil
Der Annoncen, unendlich fern
Jeder Landschaft…
Durs Grünbein ist ein von der Natur abgenabelter Poet, der sein mit großer Perfektion betriebenes lyrisches Agieren erklärtermaßen dem Treiben auto-rasender Jugendbanden und dem S-Bahn-Surfing gleichsetzt, den nervenaufpeitschenden Kicks von Kids, denen er nur eines voraus haben will: sein Faible für die Wortkunst.
Hier freilich liegt der entscheidende Unterschied. Grünbein ist kein sprach-ohnmächtiger Stadtnomade, sondern ein hochreflektierter Intellektueller, der sein – mit Fremdworten und medizinischen Termini durchsetztes – Vokabular zu Kompositionen fügt, die in ihrem Raffinement bisweilen an die Wortmagie eines Wallace Stevens erinnern:
Seltsam, wie Klänge sich ändern. Im Jahrhundert der Violinen
War das Zertrümmern der Schneckenhäuser Musik.
Von völlig anderem Naturell als der 1962 in Dresden gebürtige Grünbein ist Rainer Malkowski, der 1939 in Berlin geboren wurde und längst zu den verläßlichen Größen der (west)deutschen Gegenwartsdichtung gehört. Im Gegensatz zu Grünbein, der – wie nicht wenige Intellektuelle in unserer Zeit – „das Ich millionenfach zerlegt und aufgelöst“ wissen will, geht es Malkowski um die Rettung und Stabilisierung des Ich, eine, wie mir scheint, plausible Daseinsstrategie, denn: was, wenn nicht das menschliche Subjekt, kann der Kristallisationspunkt dessen sein, was wir als Wirklichkeit erleben?
Malkowski, jeder großen Geste und allem Theoretisieren und Philosophieren abhold, versichert sich der Welt durch enge, geradezu freundschaftliche Kontaktaufnahme mit dem Detail. So hat er seinen neuen Lyrikband denn auch nicht von ungefähr Ein Tag für Impressionisten betitelt, nach einem Gedicht, in dem es heißt:
Auch nach drei Wochen
noch keine Spur von Langeweile
beim Anblick des Sees.
Malkowski gehört nicht zu jenen Dichtern, die, wie etwa der Däne Klaus Rifbjerg meinen: „New York und Timbuktu / liegen um die Ecke.“ Für ihn gibt es immer noch Orte mit Ambiente, noch Landschaften, Ereignisse und Stimmungen, die nicht ihresgleichen haben und deretwegen es sich lohnt, aufmerksam zu sein.
Was bei Grünbein atomisiert, zu urbanen Sensationspartikeln zerrieben wird: die Sekunden und die Ewigkeiten, aus denen das Zeitgefüge besteht – bei Malkowski besitzt es zentrale Bedeutung, stets in spürbarer Nähe zur empirisch erfahrenen und psychisch vertieften Alltagswelt: „Ein Druck auf die Taste / beendet die Hamlet-Situation.“ So lapidar beginnt ein Gedicht über das „Staubsaugen“, ein Text, in dem sich wenige Verse weiter zwei Zeilen finden, die keine schlechte Maxime für Menschen sind, die sich in den großen Städten weder anonymisieren, noch von der Wissenschaft zu einer nichtigen Kollektion von Genen und physiologischen Reflexen herabwürdigen lassen wollen:
Rette sich wer kann
ins Überschaubare.
Durs Grünbein löst das Bewußtsein auf „in ein Vielerlei von Reizen“; Rainer Malkowski sammelt einige ihm wesentliche Bruchstücke der Realität in der Erfahrungslinse seines Egos. Wer macht es nun richtig: der postmoderne Sophist, der, „overnewsed and underinformed“ wie wir alle, die Wissenschaft mit (pseudo)wissenschaftlichen Mitteln ad absurdum führen will? oder der subtile Sensualist, der instinktiv Abstand hält zur Posthistoire, die die gesamte Natur und die bisherige Menschheitsgeschichte als nostalgische Altlast verabschieden möchte?
Hans-Jürgen Heise, die horen, Heft 183, 3. Quartal 1996
(…)
Regiert Böhmers Lyrik insgeheim der horrar vacui, der im Wortstrom ertränkt werden soll? Rainer Malkowskis Gedichte sind durch ein verhaltenes, gleichsam einsilbiges Sprechen charakterisiert, das dem Schweigen Raum gibt. Programmatisch heißt es im Gedicht „Kurzer Text“:
Was plötzlich auf dem Papier stand,
schrieb mir der alte Dichter,
war nicht viel länger
als mein kleiner Finger.
Aber ich hatte mich beinahe
ganz darin untergebracht…
Das, was wir Seele nennen, bleibt in Malkowskis Versen verborgen, nur indirekt teilt sie sich mit. Aufschlußreich ist das Eingangsgedicht des Bandes, das dem französischen Insektenforscher Fabre gewidmet ist, einem „sehr beschäftigten alten Mann auf einem Stück Provenceerde“. Seine Konzentration gilt nicht dem Selbst, sondern der Welt, respektive einem kleinem Stück von ihr.
Auch Fabre wußte nicht,
was das ist: die Zeit.
Aber er ertrug es vielleicht
besser,
weil er so wenig
für sich selber brauchte.
Malkowskis Gedichte sind, um an ein häufiges Motiv in ihnen anzuknüpfen, offene Fenster, einladend zum Schauen und „einige Kenntnis vom Wert des Augenblicks“ vermittelnd. „Keine Leidenschaft für Ideen“ – so das Bekenntnis in „Spiegelbild, bei 40 Watt“. Es sind die Dinge, die Halt versprechen – „Zwei Sessel“ beispielsweise:
Sie gaben immer,
was Dinge geben können:
zuverlässig scheinenden Halt,
Orientierung
und ein leises
Echo
des entschwundenen Lebens.
„Das Bett“ erweckt weniger Vertrauen als Tisch oder Stuhl, es ist eine „Brutstätte der Chimären“. Die Texte sind, tatsächlich und scheinbar zugleich, Taggedichte voller Licht und Helligkeit, der verläßlichen Sonne huldigend, die „pünktlich über die Berge steigt“. Da sie sich das Unheimliche zu verbieten suchen, drängt es sich um so auffälliger hervor. Im „Preislied“ heißt es: „Alles, was uns dient, stellt uns sicherer ins Leere.“
Rainer Malkowskis Gedichte sind Meister-haft, sie erinnern an Ernst Meisters lakonische und elliptische Gedichte über Existenz, Zeit, Tod, nur daß sie im sinnlich Wahrnehmbaren ihre Heimstatt suchen. „Was die Mühe lohnt, / konnte er / mit bloßem Auge erkennen“, heißt es von Fabre. Wird auch die existentielle Dimension, die unweigerlich in die Region des Nichtheimischen führt, nur selten direkt thematisiert, so ist sie doch spürbar anwesend.
Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 496, Juli/August 1994
Hans-Jürgen Heise: S-Bahn-Surfing oder Wie still ist der See
Die Welt, 2.7.1994
Alexander von Bormann: Was aber bleibet, stiftet eine erwachsene Idyllik
Frankfurter Rundschau, 16.3.1994
Steffen Jacobs: Schnitzerei, die Feuer fängt
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 10.6.1994
Albert von Schirnding: Etwas von der Ruhe Fabres
Süddeutsche Zeitung, 22.6.1994
Peter Horst Neumann: Gelegentlich Vertrauen zur Unvernunft
Neue Zürcher Zeitung, 14.7.1994
Inka Bohl: Philosophie des Beispiels
der literat, Heft 7/8, 1994
Raoul Schrott: In jedem O steckt eine Orange
Die Presse, 20.8.1994
Walter Helmut Fritz: Ein leises Echo des entschwundenen Lebens
Stuttgarter Zeitung, 3.9.2003
Albert von Schirnding: Gehen und Sehen
Süddeutsche Zeitung, 3.9.2003
Hans-Dieter Schütt: Glücklich im Bahnhofsrestaurant
neues deutschland, 31.8./1 9 2013
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