Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wenn ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? –
Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt –
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Diese Auswahl aus Rilkes Gedichten versucht, was erst Ernst Zinn, der die neue Insel-Ausgabe der Sämtlichen Werke betreut, durch seine präzise und so gut wie vollständige Datierung des lyrischen Werks zu versuchen möglich gemacht hat: nämlich den Werdegang des Dichters an Beispielen seiner Kunst zu zeigen, die mit einiger chronologischer Genauigkeit geordnet wurden. Mit nur einiger Genauigkeit; denn fällt es auch nicht schwer, manche der Kompositionsgefüge, zu welchen Rilke seine Dichtungen versammelt hat – das Stunden-Buch etwa, oder die Neuen Gedichte – wieder aufzulösen (zumal eine Anthologie sie ja doch nicht unversehrt lassen kann), so widersetzen sich die hier als Ganzes aufgenommenen Duineser Elegien und Sonette an Orpheus der Absicht, die Zeitenfolge zu bewahren. Bei den Sonetten macht das wenig aus; obgleich der Dichter bei ihrer Numerierung nicht ganz dem Kalender ihres Entstehens folgte, so sind die Pausen zwischen den einzelnen Sonetten ja doch fast nach Stunden zu bemessen: sie entstanden alle innerhalb der durch ihre Kürze so berühmten Zeitspannen, der Erste Teil in vier Tagen zu Anfang Februar 1922, der Zweite Teil während kaum einer Woche in der Mitte des Monats.
Anders ist es bei den Elegien. Zwar sind auch sie in hohem Maß das Ergebnis jener berühmten Februar-Produktivität auf Château de Muzot; jedoch führen sie nicht ganz zu Unrecht den Namen des Schlosses Duino: dort entstanden zehn Jahre vorher die ersten zwei Elegien sowie auch Teile der dritten, neunten und zehnten. Bei der Zusammenstellung dieses Bandes aber war nicht im geringsten daran zu denken, diesem „klassischen“ Gebilde, das Rilke selbst – und nicht nur er – für sein größtes Werk hielt, mit chronologischem Eifer zu Leibe zu rücken. Gewiß, die einzelnen Teile dieses Werkes stammen aus verschiedenen Lebensepochen des Dichters; trotzdem sind sie eins dank einer inneren Einheit, die ihn im Januar 1912 schon ahnen ließ, was erst im Februar 1922 an den Tag kam.
Das aber, worauf es bei Rilke schon 1912 hinaus wollte, hat Rudolf Kassner, der kritisch-verständnisvolle Freund, dem die achte Elegie gewidmet ist, als die Überwindung der Dichtung selbst bezeichnet: dies, so schrieb er, war es, was Rilke mit seinem Dichten im Grunde vorhatte. Meint man, das sei eine Diagnose, die so überspitzt ist, daß sie kaum noch stimmen kann, so bedenke man, daß schon Hegel der neueren Kunst genau dieses Ende prophezeite: in dieser Geschichtsepoche sei „der Geist“ nun einmal „über die Kunst hinaus“. Und bedeutet es nicht dasselbe, wenn T.S. Eliot im East Coker-Teil seiner Vier Quartette verkündet, daß es auf die Poesie nicht ankomme:
The poetry does not matter?
Es ist gewiß keine frohe Botschaft für die Kunst, wenn es gleich zu Beginn der Duineser Elegien heißt, daß das Schöne nichts sei als des Schrecklichen Anfang, der Anfang nämlich jenes Engelterrors, der, wie sich zuletzt erweist, nur in der reinsten Innerlichkeit zu bestehen ist. „Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze“: die Grenze der Ding-Welt nämlich, welche mit der „Wendung“ erreicht ist, dem Gedicht, welches Rilke zur Zeit der Sommersonnenwende des Jahres 1914 schrieb. Damals rüstete sich Europa zum ersten Akt der Selbstzerstörung, von der Erdteil und Welt seither kaum abgelassen haben.
„Mehr als je fallen die Dinge dahin…“: zu behaupten, Rilke habe, als er diese Worte im Februar 1922 schrieb, den Krieg gemeint, der damals gerade erst war, oder diejenigen, die kommen sollten, wäre ebenso falsch wie die wohlgemute Überzeugung, daß Zeitgeschehen und Gedicht nichts miteinander zu tun haben und die Geschicke der Welt das „Wesen“ der Dichtung unangefochten lassen. Solches zu glauben, hieße zudem, die „Fühlung“ unterschätzen, die gerade Rilke wie kaum einem andern Dichter seiner Epoche eignete. Ob es nun statthaft ist oder unerlaubt, bei Elegien-Versen von diesem und ähnlichem Sinn sich unserer Kriege und unseres feindselig gesinnten Friedens zu erinnern, das Denken von Rilkes Dichtung ging offenbar dahin, daß die Welt des Tuns und des Angetanen, der äußeren Bezüge und Konfigurationen, sich anschickte, dem Geist des Gedichts sein Existenzminimum zu verweigern, es sei denn, es gelänge dem Dichter, diese Welt „im unsichtbarn Herzen zu verwandeln“:
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Und der neunten Elegie „Erde, du liebe, ich will“, das immer wieder als ein bedingungsloses Bekenntnis zum „Hiersein“ mißverstanden wird, ist in Wahrheit die freudige Hinnahme des „Auftrags“ der Erde, sie in reine Innerlichkeit umzusetzen und unsichtbar erstehen zu lassen. Wenn aber nirgends Welt ist „als innen“, ist mit allen andern Künsten auch die Dichtung an ihrer Grenze angelangt. Denn jegliche Kunst, wie tief sie auch im Innern wurzeln mag, bedarf zu ihrem Dasein der äußeren Figur und sinnlichen Wirklichkeit.
Daß er an seiner eigenen Grenze, die auch die Grenze des Dichtens war, stehe und, sich dagegen stemmend, versuche, „Unkenntliches“ hereinzureißen (wann vor ihm hätte ein Dichter die Aufgabe seines Dichtens so bestimmen mögen?), wußte Rilke bereits, als er im Winter 1913–1914 das Gedicht „O Leben, Leben, wunderliche Zeit“ entwarf. Obgleich es Entwurf geblieben ist, wurde es doch in diese Sammlung aufgenommen, weil es nicht nur von der „Grenzsituation“ spricht, sondern auch von dem „großgewagten“ Vorhaben, diese zu überwinden; von eben jenem Programm also, dem Rudolf Kassner nachsagte, es sei auf die Überwindung der Dichtung selbst aus.
Waren der Umwege auch viele, so zielte doch alles von Anfang an auf diese Erfüllung ab; und der auf sie gerichtete Blick war es, der diese Auswahl mitbestimmte. Freilich hat sich der Autor dieser Anthologie Mühe gegeben, keine Phase Rilkes (mit Ausnahme der allerfrühesten, der noch ganz und gar ungeübten und unselbständigen) unberücksichtigt zu lassen. Auch vertraute, ja allzu vertraute „Monumente“ wurden aufgenommen. Denn es wissen viel zu viele Leser, was sie finden wollen, wenn sie Rilke aufsuchen, als daß eine Anthologie es sich leisten dürfte, auf exzentrische Weise originell zu sein. Eine Rilke-Anthologie ohne den „Nachbar Gott“ ( der allerdings schon dem Freunde Kassner eine Peinlichkeit war), oder ohne den „Panther“, oder ohne den „Weltinnenraum“ (den eines der schönsten Gedichte Rilkes leider der Besiedelung durch allerlei Seelenschmöcke und Schmöckinnen erschloß), wäre wie ein Bilderbuch von Pisa, das so täte, als gäbe es dortselbst keinen schiefen Turm.
Nicht auf Eigenwilligkeit also kam es dieser Auswahl an, sondern eben auf die Darstellung des erstaunlichen Weges, auf welchem dieser Dichter zu einem erstaunlichen Ziel gelangte. Von der einfühlsamen böhmischen Volksliedschwermut des Anfangs führt dieser Weg über die Angelus Pragensis-Religiosität des Stunden-Buches zu den „Ding-Gedichten“; und fragte man den Autor dieser Anthologie, warum er von den Requiem-Dichtungen Rilkes gerade diejenige für den jungen Grafen Kalckreuth ausgewählt habe, so wäre die Antwort: Weil sie im nachhinein, im November 1908, die bündigste Formel für die „Ästhetik“ dieser „Ding-Gedichte“ gibt, nach deren Gebot es des Dichters Aufgabe sei, sich dermaßen in die Dinge zu versenken, daß durch ihn die Dinge selbst zu der ihnen gemäßen Sprache zu kommen scheinen; denn es obliege dem Dichter
… hart sich in die Worte zu verwandeln,
wie sich der Steinmetz einer Kathedrale
verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut.
Aber schon zwei Jahre später argwöhnte er – im Brief, den er am 30. August 1910 an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis schrieb –, daß dieses Bestehen auf den „Dingen“ „ein Eigensinn“ war, „auch ein Hochmuth“, „und eine ungeheure Habgierigkeit“. Und vier Jahre darauf hieß es denn auch im Gedicht „Wendung“:
Werk des Gesichts ist getan,
tue nun Herz-Werk
an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du
überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht.
Und das Arbeitsziel dieses Herz-Werks war eben nichts geringeres als die Verwandlung der sichtbaren, der „angeschauten“ Welt in jene Unsichtbarkeit der pursten Subjektivität, der die verderbliche Maschinerie der Zeit nichts mehr anhaben kann; die Übersiedlung des Geistes in jene Sphäre also, in welcher Rilkes Engel beheimatet sind, und in welche die wundersamen Figuren, Würfe, und Bezüge der späten Gedichte „hinüberspielen“, die einen so beträchtlichen Teil dieser Anthologie ausmachen. Sie sind wohl das Äußerste, was eine Dichtung zu leisten vermag, die sich selbst überwindet; sind die gerade noch mögliche Niederlassung der Worte auf dem Unsagbaren; und sind das „geflügelte Entzücken“, angestiftet von den lebhaftesten, noch nie geschauten Bildern, die dort einen verzauberten Augenblick lang sichtbar werden, wo die anschauliche Welt ins Unsichtbare übergeht.
Erich Heller, Nachwort
– Pasternak, Zwetajewa, Rilke: Wie sich 1926 drei Dichter auf Entfernung austauschten und Kontakt ohne Körper suchten. –
Es war das Jahr, als der Berliner Funkturm eröffnet wurde, ein Jahr, in dem man schon Radio hören konnte, es aber noch nicht oft tat, ein Jahr brodelnder Großstädte, ein Jahr, in dem in Deutschland mit einem Service der Reichsbahn die Geschichte des mobilen Telefons begann. Die Züge fuhren und die Telegraphendrähte surrten. 1926 war ein Jahr der Kommunikation.
Während die mediale Verständigung rasant wuchs, erprobten damals drei Dichter Kommunikation ohne Berührung, ohne Sichtkontakt, ohne körperliche Nähe. Sie wollten sich die wichtigsten, die intimsten, die für sie lebensnotwendigen Dinge anvertrauen. Sie waren mehrere hundert oder tausend Kilometer weit voneinander entfernt, ohne Internet, Social Media, Fernsehen oder Telefon. Sie hatten die Distanz nicht freiwillig gewählt, sie wollten sich sehen und berühren. Aber es ging nicht, es gab kein Virus, aber es gab staatliche Maßnahmen, die den Kontakt zwischen Russland, Frankreich und der Schweiz sehr schwierig machten. Es war eine Ausnahmesituation, in der sich die Grundlagen der Kommunikation zeigten.
Auch wir sind, mit einem Schlag, in eine ganz neue kommunikative Situation versetzt. Wir sind in einer Situation, in der sich das Gebot der Distanz und das Bedürfnis nach Nähe widersprechen. Wir ahnen, nicht nur das Medium ist die Message (wie wir uns seit Jahrzehnten vorgebetet haben), es gibt auch eine Botschaft, die wir selbst haben und die ankommen will und muss. Und so denken wir, da sich alles verändert, wieder über Kommunikation nach.
Wann die gemeinsame Geschichte der drei Dichter begann, ist schwer zu sagen. Marina Zwetajewa schrieb 1923 ein Liebesgedicht, das sie „Gedicht vom Ende“ nannte. Dieses Gedicht las Boris Pasternak zufällig und war davon wie benommen. Die beiden hatten sich flüchtig kennen gelernt, in Berlin hatten sie erfolglos versucht sich zu treffen. Aber jetzt schrieben sie sich Briefe, und kamen sich dabei näher. Sie Emigrantin in Frankreich, er Familienvater in Moskau. 1926 kam Rainer Maria Rilke in der Schweiz dazu. Es entstand eine Dreier-Kommunikation, wie sie eigenartiger wohl kaum je stattgefunden hat.
Zwetajewa, die Frau, verbrachte den einzigen Urlaub ihres Lebens. Es war Anfang Mai, sie war am Atlantikstrand in der Vendée, südlich von Nantes. Wobei das Urlaubsleben am Meer war wie ihr Leben eigentlich immer, Brei für den Kleinen, An- und Ausziehen, Spazierengehen, Kartoffelsuppe. Marina war vernarrt in ihren kleinen Sohn Murr. Frühmorgens, bevor die Kinder aufwachten, Briefe und Gedichte schreiben.
Aber beginnen wir mit Pasternak und Rilke. Pasternak jubelte, als er erfuhr, dass Rilke seine Gedichte gelesen und gelobt hatte. Er bewunderte Rilke seit Jahrzehnten. Nun wollte er mit ihm in Kontakt treten, im April 1926 fasste er sich ein Herz und schrieb ihm einen Brief.
Großer, geliebtester Dichter, begann er.
Ich bin Ihnen mit dem Grundzuge des Charakters, mit der Art meines Geistesdaseins verpflichtet.
Pasternak schrieb den Brief auf Deutsch, ein etwas steifes, aber geschliffenes Deutsch.
Der Zauberzufall, dass ich Ihnen unter Augen fiel, wirkte auf mich erschütternd. Die Nachricht darüber war für mich wie ein elektrischer Seelenkurzschluss.
Er schrieb sogar von Liebe.
Ich liebe Sie, wie die Dichtung geliebt werden will und soll, wie die Kultur im Gange ihre eigenen Höhen feiert, bewundert und erlebt.
Rilke antworte freundlich aber kurz und distanziert. Er wusste nicht, wie er auf Pasternaks Überschwang reagieren sollte. Pasternak erreichte Rilke nicht. Die kurze Antwort Rilkes aber las Pasternak, als sei sie ein intimes, verbindendes Schreiben.
Ich bin so erschüttert durch die Fülle und Stärke seiner Zuwendung, dass ich mehr heute nicht sagen kann.
Schon hier begann etwas gehörig durcheinander zu geraten, zwei redeten aneinander vorbei.
Pasternak rang in dieser Zeit um Fassung. Seit acht Jahren konnte er nicht mehr so schreiben, wie er wollte. Acht Jahre waren seit der Revolution vergangen, und er wusste nicht, was seine Rolle in der neuen Sowjetunion sein sollte.
Von der fernen Marina Zwetajewa dagegen träumte er.
Ich träumte den Sommerbeginn… Man sagte mir, jemand wolle mich sprechen. Mit dem Gefühl, du seiest es, lief ich beschwingt durch das helle Licht der Gänge die Treppe hinab.
Er schwärmte von ihr, als wäre sie kein Mensch, sondern der Himmel:
Es war ein durch Dich hervorgerufener Zustand des Friedens. Schwer zu erklären, aber es verlieh dem Traum einen Zug von Glück und Endlosigkeit. Mich erfüllte zum ersten mal im Leben Harmonie mit solcher Intensität, wie ich sonst nur den Schmerz durchlebte. … Du warst absolut schön.
Aber so überschwänglich Pasternak auch war, so sehr er träumte: Es half nicht, er wollte, er musste sie sehen. „Soll ich sofort zu Dir reisen oder erst im nächsten Jahr?“ fragte er und war nah dran, ohne Visum loszufahren.
Antworte mir sofort.
Zwetajewa schrieb eine ebenso freundliche wie klare Absage. Er solle im nächsten Jahr kommen.
Du bist ein großes Glück, das sich langsam nähert.
Sie mühte sich, verbindlich zu sein. Er überspielte seine Enttäuschung.
Ich ging unschlüssig herum, hin und her. Zwanzigmal fuhr ich ab und zwanzigmal hielt mich eine Stimme zurück.
Er tat, als sei es eine Liebestat von ihr ihn zurückzuweisen.
Man muss Dich als Kostbarkeit behandeln. Einen mit Gold beladenen Gegenstand, liebend und vorsichtig.
Wieder also ging alles durcheinander, wieder kein Verstehen. Pasternak konnte die Gegebenheit der Distanz nicht akzeptieren. Dadurch zerstörte er Nähe.
Vier Tage später brach er zusammen. Sie solle nicht enttäuscht sein von ihm, sich nicht abwenden, bettelte er. Er meinte damit nicht nur den Briefschreiber, den Dichter, auch den Menschen, den ganzen Boris Leonidowitsch Pasternak. Aber auch das war nicht die ganze Wahrheit: Denn Pasternak hatte eine Ahnung, er spürte, etwas Erschreckendes ging vor sich. „Du selbst flößtest mir diese Sorge ein“, schrieb er Zwetajewa.
Es hängt irgendwie mit Rilke zusammen.
Rilke war in einem Sanatorium bei Lausanne. Er war krank, sehr krank. Obwohl er in der Dreierrunde noch gar nicht dabei war, hatte er den Grundton der Kommunikation vorgegeben. Es waren seine Gedichte. In einem seiner berühmtesten, der ersten Duineser Elegie, hatte er etwa geschrieben:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Engelhafte Kommunikation ist traumhaft, damit berührt die Elegie die Briefe, wie sie Pasternak und Zwetajewa schreiben wollten, engelhafte Kommunikation ist unmittelbar und wahr. Und sie ist transzendent, spielt in einem dem Radioäther verwandten Raum. Rilke hatte mit den Engeln nicht nur Figuren aus der Vorzeit wiederbelebt, er hatte auch Figuren für die Kommunikation der Moderne gefunden, unmittelbare Kommunikation in Echtzeit in einem neuen medialen Raum. Das war es, was Zwetajewa und Pasternak wollten.
Kann man mit Worten unmittelbar sein? Kann man auf die Entfernung anders als mit Worten Kontakt haben? Was können wir heute speziell mit Worten tun? Auch in den sozialen Medien spielt das Wort die Hauptrolle. Jeder denkt im Moment neu über Kommunikation nach, ob es ihm bewusst ist oder nicht. Wir haben viele technische Möglichkeiten, die drei Dichter wollten nicht die neuen Möglichkeiten nutzen, die sich damals boten, sie wollten Unmittelbarkeit. Sie wollten das, was die grundlegendste Forderung jeder Kommunikation erfüllt: Unmittelbarkeit. Das Gefühl von Unmittelbarkeit stellt Nähe auch über Distanz her.
Was geschah beim dritten Paar, Zwetajewa und Rilke? Sie kamen zusammen, weil Pasternak eine abenteuerliche Idee hatte: Sie solle seine Briefe an Rilke und Rilkes Briefe an ihn weiterleiten. Daraus wurde nichts, aber der Kontakt zwischen Zwetajewa und Rilke wurde sofort ein poetischer Flirt. Sie begann ihren ersten Brief an Rilke, wie es für sie typisch war, sie ging aufs Ganze.
Rainer Maria Rilke!
Das war nicht nur Anrede und Ausruf, das war Gedichtanfang.
Darf ich Sie so anrufen? Sie, die verkörperte Dichtung, müssen doch wissen, daß Ihr Name allein, ein Gedicht ist. Rainer Maria, das klingt kirchlich – und kindlich – und ritterlich.
Die bloße Länge war, für einen ersten Brief, eine Zumutung. Rilke aber schickte an sie, nicht an Pasternak, die Elegien und schrieb eine Widmung hinein.
Für Marina Zwetajewa
Wir rühren uns. Womit? Mit Flügelschlägen,
mit fernen selber rühren wir uns an.
Ein Dichter einzig lebt, und dann und wann
Kommt der ihn trägt, dem, der ihn trug, entgegen.
Rainer Maria Rilke.
Er wollte und konnte Nähe. Im nächsten Brief zitierte sie ihn:
Ich glaube an Nächte.
Sie legte sich zu ihm, verneigte sich, zeigte darin eigene Großartigkeit, nichts und alles wollend.
Ich las Deinen Brief am Ocean, der Ocean las mit, wir lasen beide. Ob Dich so ein Mitleser nicht stört? Andere wird es nicht geben, – ich bin viel zu eifersüchtig (in Dir – eifrig).
Auch sie sprach von Liebe, sprach davon, dass er allein, Rilke, Gott etwas Neues gesagt habe. Sie schrieb, besessen von ihrer ursprünglichen Angst, ihm als Mensch zu nah zu kommen, gleichzeitig in der neuen Angst, unbeseelt zu erschienen:
Mit dem Rilke-Mensch meinte ich den, der lebt, druckt, den man liebt, der schon so vielen gehört, der schon müde sein muss von der vielen Liebe.
Rilke war nicht überfordert, er antwortete ausführlich. Er schrieb ihr, wie er lebte, wo er herkam, wer er war. Er schrieb ganz unprätentiös, ganz einfach, als ein normaler Mensch, nicht als Dichter-Rilke. Es ist einer der schönsten und umfassendsten Briefe, die er geschrieben hat. Er schrieb einer Frau, die er noch nie gesehen hatte und die er kaum kannte, über seine Tochter, die er nur in der Zeit kennengelernt habe, als sie noch nicht sprach. Er schrieb, dass er etwas unfreiwillig Ehemann und Vater geworden sei. Er schrieb von seinem „natürlichen Einzeldasein“, von seiner „zum Letzten und Äußersten hingerissenen Einsamkeit“. Er schrieb von Paris, Rom, Venedig, der Provence, Spanien, Algier, Tunis, Ägypten, Orte, an denen er auch allein gewohnt habe. Aber, er wisse, er müsse ihr darüber nichts sagen, da sie ja die Elegien an ihrem „mitwissend anschlagenden Herzen“ habe. Von seinem Gesundheitszustand aber schrieb er nicht. Da begannen auch hier die Missverständnisse. Sie wollte ihn sehen, davor scheute der Kranke zurück.
Das ist der Anfang einer komplizierten Kommunikationsgeschichte aus Rücksichtnahme, Begehren, Liebe, Verletzlichkeit, Mitgefühl, Scham. Das Gespräch zwischen den drei Poeten ging noch eine ganze Zeit weiter. Es war alles andere als unmittelbar. Am Ende vergrübelte Pasternak sich diesen Sommer in der Hitze Moskaus. Zwetajewa schrieb an einem neuen Gedicht, „Gruß vom Meer“. Dieses Gedicht begann im Gedenken an Pasternak, dann geriet es unter den Einfluss von Rilke. Sie saß mit ihrem Notizbuch am Strand und fand immer neue Bilder für das Meer, für seine Gewalt, seine Unnahbarkeit. Es war ein großes Begegnen, Sprechen, Austauschen in ihr, Boris, das Meer, die Liebe, Rilke. Sie schrieb, auch wenn der kleine Murr auf ihr herumkrabbelte. Sie hatte die Kommunikation in sich hineinverlegt, da gelang sie.
Wir würden zu Rilke fahren.
Das hatte Pasternak ihr geschrieben. Sie antwortete:
Ich aber sage Dir, Rilke ist überlastet, er braucht nichts und niemanden, vor allem keine Kraft, die immer lockt: ablenkt. Rilke ist ein Einsiedler.
Das war wahr und wirkte doch taktisch, wie wenn sie Rilke für sich behalten wollte.
Er braucht mich nicht und Dich auch nicht.
Und doch wollte sie zu ihm, und doch erreichte auch sie Rilke am Ende nicht.
Das Gespräch ging über die große Entfernung hin und her, wie das Meer, mit Annäherungen und Distanzierungen. Am Ende sprach niemand mehr miteinander. Rilke starb Ende 1926 an Leukämie, Pasternak und Zwetajewa waren entzweit. Er versuchte zur Besinnung zu kommen, sie kämpfte, zurückgekehrt in Paris, den aussichtslosen Kampf ihres Lebens weiter. 1941 wird sie sich, dann in der Sowjetunion, dieses Leben nehmen. Pasternak, der letzte Überlebende des Dreiecks, wird 1958 einen Roman veröffentlichen, der ein Welterfolg wird und für den er den Nobelpreis bekommt, den er nicht annehmen darf. Zwei Jahre später wird auch er sterben.
Bleibt die Frage: Können wir von den drei Dichtern lernen? Am besten funktionierte die Kommunikation, wenn sie von sich erzählten. Sprachen sie über den anderen, schlich sich Misstrauen ein und sie redeten bald nur noch über die Missverständnisse, die sie selbst erzeugt hatten.
Es funktionierte, gerade durch die Entfernung, nur in Offenheit. Es ging nicht, wenn man nur einen Teil sagte. Wenn man etwas nicht sagte, merkten es die anderen. Sie mussten dabei die Entfernung mit einkalkulieren, die Dauer der Nachricht, die Umstände des anderen. Aber auch alles zu sagen war schwierig.
Liebe, eingebildet oder echt, machte die Kommunikation nicht einfacher. Begehren auch nicht. Rücksichtnahme und Scham ebenfalls nicht.
Es waren die Grundlagen der Kommunikation, die sie erlebten. Auch für uns geht es nun darum, die neuen Möglichkeiten zu erproben und mit Leben, unserem Leben, zu füllen. Es gilt den Moment zu nutzen: Was bedeutet es, was geschieht, wenn Menschen, wenn wir in Kontakt treten? Die drei Dichter wurden von widerstrebenden Bedürfnissen angetrieben: Sie wollten Einsamkeit, Ganz-sie-selbst-sein, als sie selbst wahrgenommen werden – und sie wollen intensive Vereinigung, absolute Kommunikation, vollständigen Austausch. Dieser Widerspruch ist, wenn wir Pasternak, Zwetajewa und Rilke folgen, die elementare Regel der Kommunikation.
Pasternak wusste nicht, wer er als Dichter war. Zwetajewa wusste genau, wer sie als Dichterin war, aber wusste nicht, wo sie hingehörte. Sie war aufgehoben im Gedicht, aber verloren in der Welt. Rilke, der beides ganz gut hinbekommen hatte, starb. Pasternak wollte Zwetajewa sehen und verhinderte es zugleich. Rilke wollte er auch sehen und schaffte es nicht, Kontakt zu ihm herzustellen. Mit Zwetajewa hätte er sich getraut, aber das wollte sie nicht. Sie wollte Rilke alleine sehen, aber darauf reagierte Rilke nicht, weil sie Pasternak ausschloss.
Das war das Schwerste: Nicht zu viel erwarten. Es ging um so besser, je weniger man vom anderen erwartete. Es war eine zehrende Erfahrung. Es war nicht das, was wir uns von Kultur wünschen, es spendete keinen Trost. Es war frustrierend. Trotzdem bleibt wahr: Ein intensiverer Austausch als zwischen den dreien ist letztendlich kaum denkbar, auch nicht mit Körpern und Kontakt.
Rainer Maria Rilke… dieser teure Name, der bisher einen Klang von Freude hatte, von süßer Hoffnung auf Begegnungen und köstlichen Gedankentausch, dieser für mich so reiche Name, das magische Wort, das engste Verbundenheit im Geiste und vollste Erfüllung bedeutete, Rainer Maria Rilke… dieser liebe Name, ist jäh und plötzlich durchdringender Schmerz, ein herzzerreißendes Gefühl geworden.
Teurer Rilke!… Ich sah in ihm, ich liebte in ihm den zartesten und geisterfülltesten Menschen dieser Welt, den Menschen, der am meisten heimgesucht war von all den wunderbaren Aengsten und allen Geheimnissen des Geistes. Dieses hier ist meine letzte Erinnerung an diesen Freund: Ich sah ihn zum letztenmal im Monat September an den rein gezeichneten Rändern des Genfer Sees. Er hatte mich in einem Park in Thonon aufgesucht. Niemals hatte ich ihn bei anscheinend so gutem Befinden gesehen, so fröhlich, so befriedigt von seiner Arbeit. Er sagte mir, er sei mit der Uebersetzung meines Narziß gerade fertig geworden, sei mit ihr zufrieden und hätte sie mit großer Freude einigen Freunden vorgelesen, die in einem Schlößchen in der Umgegend von Lausanne zusammengekommen seien, sie zu hören. Er faßte mich unter und führte mich sacht zu den großen Bäumen des Parks von Anthy. Er wollte mich über die Fortsetzung meines Narziß befragen, über den besonderen Sinn, den ich diesem Mythus gäbe… Ich sprach, und er nahm teil an meinen Worten, an meinem Unterfangen, für ihn allein existieren zu lassen, was noch nicht existierte und vielleicht niemals existieren wird, nahm teil, wie ein Dichter teilnimmt an sich selbst, wie jemand, der innen steht und selbst ringsum umdrängt ist von den Einfällen, Verführungen, Hemmungen, Erleuchtungen, Willensregungen, Entschließungen und Verzichten, von all dem, was das wahre innere Leben eines Gedichtes ausmacht.
Welch köstlicher Tag! Es wurde Zeit sich zu trennen. Schon von weitem kündigte das weiße Schiffchen sein Kommen an durch das Geräusch der Radschaufeln im großen Schweigen der Stille, es lief das Ufer an, nahm den Freund, entzog ihn uns, trennte ihn auf immer von unseren Händen, die ihn grüßten, unseren Augen, die ihm lächelten, unserem Geiste, der noch zwischen Frage und Antwort schwang, und es war nichts mehr da als ein wenig Schaum und ein verschwebender Rauch…
Aber all dies ist nur mein Verlust und meine persönliche Trauer. (Und es ist beinahe unnötig, von meiner Dankbarkeit für denjenigen zu sprechen, der jene bewunderungswürdige Uebersetzung meiner Werke unternommen hatte.) Ich muß etwas mehr sagen, Erheblicheres, Umfassenderes.
In der gedankenvollen Klausur seines Einsiedlerturmes von Muzot, wohin er sich nach vielfachem Schweifen aus Gründen der Gesundheit und aus Liebe zur Meditation eingeschlossen hatte, war Rilke allmählich unmerklich zum Bürger des intellektuellen Europas geworden. Diesen großen Poeten, einen der im edelsten Sinne ruhmreichsten Dichter der germanischen Welt, verband eine starke Wahlverwandtschaft mit der slawischen Rasse, er war ein tiefer Kenner Skandinaviens, und gegen den Westen hin stand er der französischen Kultur so nahe, daß ich ihn leicht verlocken konnte, Gedichte in unserer Sprache zu schreiben und zu veröffentlichen.
Ihn verloren zu haben, heißt: einen verloren haben, der in sich vereinte nicht nur die Fassungskraft, für alles Schönste, was Europa hervorgebracht hat, und die vertiefte Kenntnis der Reichtümer, die aus unserer Verschiedenheit kommen, sondern der auch die nahe, schon schöpferische Sensibilität besaß: Die Seele einer künftigen Zeit…
(…)
Rainer Maria Rilke war bewußt übernational: Seine vollendet schönen Übersetzungen aus sechs Sprachen zeugen davon. Wer diese mit dem Original vergleicht, wird sich hüten zu behaupten, Lyrik sei unübersetzbar. Ein Dichtwerk von einer Sprache in die andere hinüberzuleiten war für ihn Osmose und heilige Handlung zugleich. Kaum ein deutscher Dichter des 20. Jahrhunderts hat über den deutschsprachigen Kulturraum hinaus einen so reichen Widerhall gefunden, wie der unbehauste Ahasver, der von einem Schloß ins andere floh, seine Einsamkeit wie ein Hund den Knochen mit sich schleppend.
Er betrieb die Nuancierung bis ins Endlose und hat das Unsägliche durch die sanfte Gewalt seiner Lyrik bezwungen. In der Weltenwirkung kann sich kein neuzeitlicher deutscher Dichter mit ihm messen: selbst sein am schwersten zu übersetzendes Werk, die Duineser Elegien, sind bereits fünfmal ins Englische übertragen.
Nach Joseph Nadler hat Rilke einige Tropfen slawischen Bluts und eine Jüdin zur Mutter. Ich habe die Ahnentafel nicht überprüft, wohl aber seine Bekenntnisse; die von seinen völkischen Sympathien und Antipathien zeugen. Er betonte gern, daß er aus der Tschechoslowakei stamme, und schickte dem Präsidenten Mazaryk zur Selbständigkeitserklärung der Tschechoslowakischen Republik einen Glückwunsch, den ihm die bornierten Holzköpfe des Imperialismus sehr übelnahmen. Vielleicht ist es tatsächlich segensreich, daß er in Prag geboren ist, in einer Stadt, die – ähnlich wie Riga – zwischen den Ländern liegt, auf dem Kreuzweg von slawischer und germanischer Kultur. Aber er sprach nicht tschechisch und den Geheimnissen des alten Prag blieb er fremd. Mit den Schriftstellern dieser Stadt, seinen Zeitgenossen, hatte er gar keine Berührungspunkte, weder mit Franz Kafka, noch mit Franz Werfel und Willy Haas, obwohl er mit beiden letzteren in derselben Heinrichsgasse, sozusagen Haus an Haus wohnte. Der scharf beobachtende Willy Haas, ein Seismograph seiner Zeit, schreibt über Rilke:
Es war etwas in seinem Werk und seiner ganzen Figur, was wirklich abstieß: sein Adelssnobismus.
Und Rilke wollte Tolstojaner sein.
In Frankreich hielt er sich mit längeren und kürzeren Unterbrechungen von 1902–1914 auf. Nach dem Kriege besucht er Paris noch zweimal, im Oktober 1920 für eine Woche und 1925 für sieben Monate. Im ganzen hat er ungefähr 10 Jahre in Paris verbracht, was in Anbetracht seines so kurzen Lebens nahezu zwei Fünftel seiner Schaffenszeit bedeutet. Bei seinem ersten Aufenthalt in Paris 1902 teilt er seiner Frau französisch mit:
Je suis une seule Attente!
Bald darauf aber klagt er über die Gleichgültigkeit der Großstadt. Im Buch Von der Armut und vom Tode, in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und in seinen Briefen aus jener Zeit spiegelt sich Paris als eine Stadt des Grauens. „So, also hierher kommen die Leute um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier“, mit diesen Worten beginnt Rilke den Malte. Paris, vollgesogen mit Unerbittlichkeit, von der es, wie vom Leben selbst, keine Abkehr gibt. Die ersten Pariser Jahre bedeuten Armut und Leid. Er nennt diese Stadt eine künstliche, falsche, verlogene, wo selbst in den Gärten durch die viel zuviel zusammengedrängten Blumen Unnatur herrscht. Malte, der nordische Mensch, geht in Paris zugrunde, und indem Rilke dieses Zugrundegehen und Nordischsein gestaltet, überwindet er es, wie Goethe im Werther seine unglückliche Liebe und seine Selbstmordgedanken. Mit Recht war Rilke ungehalten, wenn man ihn mit Malte, der nur eine Falte im unendlich reichen Seelenkleid des Dichters ist, identifizierte. Fraglos aber sind Ekel und Angst vor den zersetzenden Elementen der französischen Großstadt seinen eigenen Erfahrungen entsprungen.
Erst allmählich dringt er in das ewige Paris ein, das ihm 1905 zur Heimat, zur Stadt der verdichteten Wirklichkeit wird. Nirgends kann er nun so froh und schöpferisch und einsam sein wie hier. Paris wurde für ihn das notwendige Du, das sein Ich steigerte, entwickelte und wandelte und Boden und Luft für seine Arbeit bot. Hier wurden für ihn Sehen und Arbeiten Synonyme. Er mochte das Alleinsein inmitten von Menschen und die Möglichkeit, jederzeit Freunden zu begegnen, wenn er ihrer bedurfte. Hier kam er mit Vertretern französischen Geisteslebens zusammen, hier lernte er die Gräfin von Thurn und Taxis kennen, die in seinem Leben eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Nur noch Baudelaire hat Paris in so lebendige Worte gefaßt, daß man es sieht, riecht, mit den Fingerspitzen abtastet, liebt und fürchtet. Er ließ sich von allem, was diese Stadt im Laufe von Jahrhunderten geformt hatte, durchdringen. Hier wurde der metaphysische Träumer zum Sprecher der Dinge, durch Rodin, Cézanne, van Gogh und am meisten durch sich selbst. Er besaß ein rein unfaßliches Talent, – wie dieses auch nur annähernd keinen anderen Dichter auszeichnet – Dinge der äußeren und inneren Welt, Menschen und geographische Orte, Freuden des Luxus, die er zu seinem Wachstum brauchte, an sich zu ziehen, und wenn sie seine schöpferischen Kräfte nicht mehr steigerten, ihnen den Rücken zu kehren, ohne seine männliche Anmut dadurch einzubüßen. Daß dieser immerwährende Prozeß des Sichbindens und Sichlösens nicht leicht war, davon künden seine Bücher und Gesichtszüge.
1920 kommt er nach sechsjähriger Trennung wieder nach Paris und:
Es war in einem alle Erwartungen weit übertreffenden Maße mein Paris, das ehemalige, ich möchte sagen: ewige.
1925, ein Jahr vor seinem Tode, erfaßt den von Krankheiten, Ärzten und Todesahnungen umstellten Dichter eine unabweisbare Sehnsucht nach der geliebten Stadt. Fast fluchtartig verläßt er die Schweiz und verbringt im Rausche geistigen Austausches sieben Monate in Paris. Die Verleger und Zeitschriften nennen ihn Meister, dem sie ihre Bewunderung in einem Sammelband Reconnaissance à Rilke kundtun. Malte erscheint endlich in französischer Sprache.
Seine Bezogenheit zu Frankreich wurzelt vor allen Dingen in seiner Freundschaft zu Auguste Rodin, über den er eine ehrfürchtige Monographie veröffentlicht hat, ferner zu Paul Valéry und André Gide, deren Werke er ins Deutsche übersetzte. Aus Meudon „unversehens fortgejagt wie ein diebischer Diener“, wie er selbst berichtet, ist er Auguste Rodin, dessen Sekretär und Apostel er war, nicht gram. Im Gegenteil, er dankt ihm für die gewonnenen Erkenntnisse und widmet dem Meister seine Neuen Gedichte, die von den Franzosen noch heute für Rilkes vollendetstes Werk gehalten werden. Nie hat er sich über die kränkende Entlassung beklagt.
Man hat das Gefühl, die französischen Zeitgenossen haben nicht Rilkes ganze Größe erfaßt. Einer der berühmten Franzosen hat den Ausspruch getan, im Deutschen gäbe es kein entsprechendes Wort für générosité und dieser Mangel sei für den Charakter der Deutschen kennzeichnend. Der tiefere Sinn dieses Wortes besagt, daß der Gebende sich als Nehmender, das heißt zu Dank verpflichtet fühlt. Seiner Natur nach war Rilke ein zum „Rühmen Bestellter“, ein Genie der Danksagung. In seinen französischen Briefen gebraucht er das Wort généreux in all seinen Abwandlungen auffallend oft und es scheint, als sei er in seinem Verhältnis zu den Franzosen nicht nur der Demütigere und Großzügigere, sondern auch der Hellhörigere. In der Tiefe und Stärke des Einfühlungsvermögens – übrigens ein Wort, für das es im Französischen keine buchstäbliche Übersetzung gibt –, war er seinen Pariser Freunden überlegen. Er war einer der ersten Proust-Bewunderer und schrieb zur deutschen Übersetzung des Hasenromans von Francis Jammes:
Er tönt wie eine Glocke in reiner Luft… Dies ist genau der Dichter, der ich hätte sein wollen.
Wie blaß ist dagegen Romain Rollands Vorstellung von dem Dichter, der in Paris einige Häuser von ihm entfernt lebte: „Der gute harmlose Rilke“, „der sanfte Dichter und Denker“.
Von den vielen französischen Freunden, Vildrac, Edmond Jaloux und anderen, scheint André Gide ihm am nächsten gestanden zu haben. Seit 1910 kannten sie sich persönlich, waren einander im Gespräch und in Briefen nah. Auch hat Rilke André Gide in seinem Hause in Cuverville besucht. In einem Brief läßt er sich zur Behauptung hinreißen, daß es Grund genug sei, die Welt zu lieben, da sie einen André Gide hervorgebracht habe. Seine Briefe nach Paris schreibt er französisch; daß André Gide oder Paul Valéry deutsch geschrieben hätten, ist ganz undenkbar. Ist aber nicht die eine Sprache wie die andere durch gleichrangige Genien eine Weltsprache?
Rilke bewundert in emphatischer Art André Gide, daß dieser sich die Mühe nehme; mit einem Wörterbuch in der Hand Goethe im Original zu lesen. Daß er selbst die französischen Autoren ohne Wörterbuch las, war für ihn selbstverständlich. Die Briefe des französischen Freundes sind im Vergleich mit den Briefen Rilkes kühl, ausweichend, egozentrisch. Ein Brief André Gides zum Beispiel besteht nur aus seinem Entzücken über den arabischen Jüngling Athman. Die Zusendung der Duineser Elegien, die Rilke in einen geistigen Sturmwind versetzt hatten, übergeht André Gide mit Schweigen, aber Rilke ist großzügig genug, ihm dies nicht nachzutragen. In einem Brief bittet Rilke den französischen Freund um die Erlaubnis, seine Hand halten zu dürfen, und André Gide antwortet herablassend, daß er dies tun dürfe, solange er nur wolle.
In der französischen Dichtkunst fesselten Rilke die selbstgewollte Einschränkung, die angestammte Geschlossenheit, die festen Umrisse der Vision, der kritische Sinn, die Luzidität der Form und vor allem eine dem Willen unterworfene Inspiration. Ihn entzückte die musische Nüchternheit, die Geschmeidigkeit der Intelligenz, die skeptische Selbstpreisgabe, die vergeistigte Genauigkeit. Wenn André Gide ein Ding beschreiben wollte, nahm er es unter die Lupe; tat Rilke das gleiche, schloß er die Augen, allerdings in den letzten Jahren immer seltener. Man pflegt zu sagen, der deutsche Geist sei in dem Maße der Musik verwandt, wie der französische der Zeichenkunst und Mathematik. Aber Rilke besaß für Bildhauerei und Malerei einen ausgeprägteren Sinn als für Musik, die er als die Macht des Ungefähren mied, weil sie den Lauscher in beliebig deutbare Träume lullt.
1914 verließ er Paris, um einen seiner Freunde in Deutschland zu besuchen; der Krieg brach aus, er konnte nicht nach Frankreich zurück und in seiner Abwesenheit wurden, weil er die Miete nicht übermittelte, seine ganzen Pariser Möbel, seine Manuskripte, Handzeichnungen Rodins, Briefe aus zehn Jahren versteigert. Kaum hatte Stefan Zweig davon erfahren, schrieb er, von Mitgefühl und Erbitterung erschüttert, Romain Rolland und flehte ihn an zu retten, was noch zu retten sei:
Ein ganzes Stück seines Lebens ist damit brutal abgebrochen, Jahre seiner Produktion zerstört… Kostbare geistige Dinge wurden Gewürzkrämern für ein paar Sous verschleudert, die damit Zucker und Gemüse einwickeln.
Er nennt Rilke den reinsten und dauerndsten Dichter der Zeit. Um dieses Briefes willen allein muß man Stefan Zweig lieben. Romain Rolland benachrichtigte André Gide und dieser kann es sich nicht verzeihen, daß er, von seinem eigenen Leben in Anspruch genommen, diese Versteigerung nicht beizeiten voraussah und nicht entsprechend gehandelt habe. Jetzt aber setzt er sich persönlich sehr energisch ein, nimmt einen Anwalt, um wenigstens die für den Hausierer und Kleinkrämer wertlosen Dinge, die Manuskripte zurückzuerhalten, was ihm auch zum Teil im Laufe der Zeit gelang.
Unerwähnt bleibe auch nicht Gides Nekrolog, in dem er Rainer Maria Rilke jenen Menschen zuzählt, die er am meisten geliebt habe. Das klingt schön und gut, aber die Toten bedürfen unserer Liebe nicht. Rilke hat André Gides Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1918) übersetzt, Gide nur einige kleine Fragmente aus dem Malte; und Rilke mußte sich sechzehn Jahre gedulden, ehe sein 1910 erschienenes Jugendwerk einen französischen Übersetzer in der Person von Maurice Betz fand. Aber die beste Rilke-Biographie hat ein Franzose geschrieben: J.F. Angelloz.
Immer ist es ein Mensch seiner Zeit, durch den er eine Stufe höher emporklimmt, dem eigenen Ich näherkommt. Wenn er in Rodin den Lehrer des Lebens sah, der ihm auf die Frage, wie muß man leben, Antwort geben konnte, dann ist Paul Valéry für ihn der Meister der Dichtkunst und dessen Kernsatz: „Rien ne m’attire plus que la clarté“ – nichts zieht mich mehr an als Klarheit. In diesem Selbstbekenntnis kristallisiert sich die Eigenart des französischen Dichters. Als Rilke 1921 auf Schloß Muzot – das eigentlich mehr eine Mönchsbehausung als ein Schloß war – den Werken Paul Valérys begegnete, spürte er sofort die Größe des Dichters und öffnete sich dieser. Ein Jahr später waren die Elegien und Sonette, die er zehn Jahre mit sich herumgetragen hatte, abgeschlossen: indem er in die Form des anderen einging, fand er seine eigene.
Er war so veranlagt, daß er durch Menschen reifte. Er hielt Paul Valéry für einen Dichter von reichster Kraft der Gestaltung und nannte seine Gedichte einen Gipfel der Herrlichkeit. Von vielschichtiger Struktur, vermochte er Persönlichkeiten, die ihr eigenes Sonnensystem hatten wie Tolstoj und Valéry, rühmend zu bewundern. Demütig stellte er sich in den Dienst der Dichtung Valérys, um diese der deutschsprachigen Welt zu vermitteln. „In der Stille Muzots, in den faltenlosen Stunden des Walliser Turms wurden die Verse Valérys gewogen mit der Waage der Zeit, die sich nicht irrt, und der Stille, die nie täuscht“, heißt es in einem seiner Briefe. Er schreibt die Übersetzungen eigenhändig in ein schön gebundenes Buch, das er eine Zeitlang mit sich herumträgt und sich nur schwer davon trennt. Schließlich sendet er es Valéry mit einer Widmung, die ihn selber nicht minder als; den französischen-Dichter charakterisiert:
Paul Valéry, dem Liebhaber rein vollendeter Leistungen, diese Summe von Gehorsam, Einstimmung und gleichgerichteter Tätigkeit.
Es war für Rilke ein Fest, als Valéry ihn im „alleinstehenden Turm“ besuchte. Aber in den Briefen, in denen er in mönchischer Gewissenhaftigkeit alle Persönlichkeiten aufzählt, die ihn beeinflußt haben, nennt er ihn nicht. Rilke lauschte Sphärenklängen, Valéry dem höhnenden Gelächter Satans. Rilke kannte die beklemmende Angst vor dem Absturz ins Nichts, Paul Valéry hatte sich im Bodenlosen luxuriös eingerichtet. Der metaphysische und der mathematische Dichter – ihre seelische Fremdheit wird klar in der Gegenüberstellung ihrer Kernsprüche.
Rilke, gestählt in den Übungen des Herzens, ist einer der bleibenden Boten, „nie versagt ihm die Stimme am Staube“. Aus leidzerfurchten Erfahrungen entwickelt sich die zarte, Zeiten überdauernde Blüte der Elegien. In der neunten besingt er die Größe der Erde und die Herrlichkeit des Menschen, alle Engel entschließen sich lobpreisend zur Erde:
Erde, du liebe… namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Dagegen Paul Valéry in seinem letzten Werk Mon Faust:
Dein erstes Wort war: Nein! Und wird das letzte sein.
Losgelöst von jeder Transzendenz, gefällt sich Paul Valéry darin, den Menschen in vollendeter Form als Dreck anzureden:
Ja, du Dreck, der Himmel und der Tod haben die denkenden Menschen einfältiger gemacht als meine Säue.
Rilkes Bibliothek von Muzot enthielt kaum deutsche Werke, französische Literatur dagegen im Überfluß. In seinen letzten Lebensjahren schrieb er, durch Paul Valéry angeregt, eine Reihe von französischen Gedichten, die unter dem Titel Vergers in Paris erschienen. Auf diese Weise wollte er – ein Genie in der Darbringung zarter Anerkennung – seinen Pariser Freunden, vor allem jenen, die seine Lyrik im Original nicht lesen konnten, für die durch die französische Kultur empfangene Bereicherung danken.
Es ist gewiß etwas Ungewöhnliches, daß ein Dichter am Anfang dieses Jahrhunderts nach Rußland fährt, um innerlich zu reifen, die russische Osternacht zu erleben und vor allem, um Tolstoj von Angesicht zu Angesicht zu sehen. In Begleitung von Lou Andreas Salomé reiste Rilke zweimal nach Rußland und hielt sich dort 1899 zwei, 1900 drei Monate auf. Aber die sogenannten russischen Motive in seiner Dichtkunst und Natur, die Rezeptivität, die Demut, der mönchische Einschlag sind nicht auf diesen Aufenthalt zurückzuführen, sondern auf seinen ihm eingeborenen mystischen Drang. Sprechen wir von einem russischen Einfluß bei Rilke, müssen wir uns klar sein, daß Einfluß nichts anderes bedeutet als Erweckung schlummernder Keime. In einem Brief heißt es: „Mir ist ja Rußland Heimat und Himmel…“ „Kirchen läuten mir morgens und abends mit ihren großen stehenden Glocken, und Lieder, die Blinde und Kinder singen, gehen wie Verirrte um mich herum und betasten meine Wangen und mein Haar.“ Mit diesem Gesang war er geboren.
Paris erfaßte Rilke mit wachem Herzen und kritisch beobachtendem Auge, Rußland mit wachem Herzen und blindem Auge.
Seine Urteile über die französischen Dichter und Maler, vor allem über Cézanne, gehören zum Besten, was über diese Persönlichkeiten gesagt worden ist, aber wenn er dem russischen Verfasser Droschin, einem talentlosen Epigonen, mit dem ihn der Zufall zusammenführt, überschwengliche Worte der Anerkennung widmet, kann man über diese nur lächeln wie über das Gestammel eines Kindes, das die von ihm entdeckte Pfütze für ein Meer hält. Er denkt, daß er russisch werde, wenn er mit einer Kerze in der Hand in einer Osternacht um die Kirche wandert, ein blaues Russenhemd mit rotem Achselverschluß trägt und barfuß Pilze sucht. Wenn auch diese „russische Sehnsucht“ den östlichen Menschen wie ein Plagiat anmutet, so widerspricht sie doch dem Adelssnobismus, der ihm oft vorgeworfen wird.
Tolstoj, den er im Mai 1900 auf dem Gut Jasnaja Poljana besuchte, und den er in einem Brief den rührendsten Menschen, den ewigen Russen nennt, war für ihn das Eingangstor zu Rußland und zur ersten eigenen Dichterphase. Er hat später selbst sein gesamtes Schaffen vor 1899 – also alles vor seiner ersten Rußlandreise Geschriebene – verworfen und als mißlungene Versuche gebrandmarkt. Tolstoj war damals zweiundsiebzig, Rainer Maria Rilke fünfundzwanzig. Die Partner waren zu ungleich, zu einem Gedankenaustausch konnte es nicht kommen. Als genialer Epiker hatte Tolstoj überhaupt keinen Sinn für Lyrik, die er als ein erwachsener Männer unwürdiges Wortgeklimper verwarf. Auf die Frage Tolstojs: „Womit beschäftigen Sie sich eigentlich, junger Mann?“ kam die schüchterne Antwort: „Mit Lyrik“, und diese wurde sogleich von einem Vulkanausbruch aburteilender Worte zugedeckt. Aber Rilke war nicht niedergeschlagen, er hatte den Gewaltigen von Angesicht zu Angesicht gesehen.
Rilke war Gast im Hause des Malers Leonid Pasternak. Als Rainer Osipowitsch angesprochen, fühlte er sich „unbeschreiblich zu Hause in der Güte dieser Menschen“. Mit rührendem Eifer lernte er Russisch und hat einiges aus der russischen Literatur mühselig ins Deutsche übersetzt. Er träumte davon, Gedichte in russischer Sprache zu schreiben. Aber wie kümmerlich sind seine russischen Brocken im Vergleich mit seinen Kenntnissen im Italienischen, ganz zu schweigen vom Französischen. Auch dieses ist ein Zeichen von der tiefen Kluft zwischen West und Ost, daß ein Abendländer eher drei westliche Fremdsprachen perfekt erlernt, als daß er das Russische verständlich sprechen und russische Werke im Original lesen könnte.
In Dostojewskijs Werken fesselte ihn vor allem die leidenschaftliche Hingabe an die letzten Fragen des Menschseins:
Gibt es einen Gott oder gibt es ihn nicht?
Die westlichen Rilke-Deuter haben wiederholt auf die russischen Motive bei Rilke, besonders in seinem zum Teil während der Rußland-Reisen entstandenen Stundenbuch hingewiesen. Der östliche Mensch ist anderer Ansicht. Stilisiert, gekünstelt, gespreizt scheinen ihm diese Gebete und Gottvorstellungen. Liest man zum Beispiel das Gedicht, in dem Rilke zu Gott sagt:
Du bist aus dem Nest gefallen,
bist ein junger Vogel mit gelben Krallen
und großen Augen, und tust mir leid
beschleicht einen Unbehagen. Gott – der Unaussprechliche, der Große in einem Nest (Sinnbild der engen Geborgenheit!). Und noch dazu mit gelben Krallen, die die Vorstellung des hilflos Bösen hervorrufen! Das allerrussischste Gebet, das im Osten auch jene, die nicht der orthodoxen Kirche angehören, sprechen und das in der Liturgie eine der schönsten Melodien hat, besteht nur aus drei (im Russischen aus zwei) Worten: „Herr, erbarme Dich!“ „Gospodi pomilui!“ In entscheidenden Stunden, am Totenbett, um Gottes Gnade und Verzeihung flehend, flüstert der homo religiosus diese uralten Worte. Es gibt Pilger, die die lapidare Anrufung, in der alles ausgesagt ist, hundertmal nacheinander wiederholen, um für ihre Seele Ruhe zu finden. Ich kann mir aber nicht denken, daß jemand in schwerer Stunde zu einem Gott mit gelben Krallen betet.
Seine Begeisterung für Sowjetrußland war wirklichkeitsfremd. 1917 begrüßt Rilke, einer der größten Individualisten in der Schar westlicher Individualisten, freudig die Revolution, die die Instinkte der Masse entfesselte und spricht vom lieben großen Rußland. Der allerprivateste Dichter preist ein Regime, in dem es ein Privatleben überhaupt nicht gibt. Der Tod kam, ehe er Gelegenheit hatte, seinen Irrtum einzusehen.
Rilke, der vor jedem vergewaltigenden Geschehen zurückschreckte und in einem Anbefohlensein lebte, nimmt die bolschewistische Gewaltherrschaft als etwas Notwendiges hin, weil er sie nicht kennt. In den Mailänder Briefen sagt er, die Sowjets zeigten uns den Weg in die Freiheit! Sein geistiges Auge war in dieser Hinsicht so blind, wie das Nikolai Ostrowskis in physischer. Wäre Rilke in Moskau oder Petersburg geboren und aufgewachsen, wäre er aus dem lieben großen Rußland durch die Tür Epikurs ausgewandert. Rilke und die Auswirkungen der Oktoberrevolution, die er in seiner Rußlandfremdheit pries, sind zwei einander auslöschende Begriffe wie Wasser und Feuer. Wie Rilke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Sinnbild des Westens ist, so ist Majakowskij das Sinnbild der Revolution. Ariel und Caliban, anmutige Männlichkeit und Barbarei. Rilke kannte augenscheinlich nicht Majakowskijs Manifest, in dem er die Kunst als eine Ohrfeige an die Gesellschaft proklamiert.
Schon die Überschriften der ersten Gedichtsammlungen dieser beiden Dichter wecken die Vorstellung von zwei unvereinbaren Welten: Traumgekrönt, Larenopfer, Advent, – und: Einfach wie das Brüllen, Die Wolke in Unterhosen. Majakowskij bellt den Bourgeois an, den er um die kulinarischen Genüsse beneidet:
Friß Ananasse.
Rebhühner kau.
Dein letzter Tag ist gekommen, Bourgeois!
Das Klavier ist für ihn ein Instrument, auf dem man mit Fäusten spielt. Und neben ihm „Reiner Rainer, fleckenlose Maria“ (wie Ernst von Wolzogen ihn brieflich scherzend anredete) – der Dichter, der die Sprache entkörperte:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Worte, sie sprechen alles so deutlich aus.
Auch abgesehen von der Staatstyrannei und der hermetischen Weltabgeschlossenheit wäre Rilke, der schon im Quartier Latin unter einem Mangel an Luxus litt, an der Primitivität des Sowjetlebens zugrunde gegangen. Billige, süßlich riechende Seife beförderte er aus Hotelzimmern auf die außenseitige Fensterbank, um einschlafen zu können. Und in Sowjetrußland wird noch heute Seife aus dem Westen – auch die billigste – wie eine Rarität zum Riechen herumgereicht.
Trotz Rilkes unheilvoller Unkenntnis russischer Literatur, trotz seiner naiven Urteile über dieses Land, Volk und Regime, hatte er in seinem Wesen und seiner Wortkunst durchaus etwas östliches. In André Gides Romanen liebt er vor allem die demütig Entsagenden, östlich ist ferner sein Anspruch auf ein gelebtes Leben, seine Hinneigung zum Mitmenschen, östlich das dem westlichen Menschen krankhaft erscheinende Verlangen, dauernd mit einem Du in Verbindung zu treten. Immer wollte er bereit sein für alle, die ihn brauchten. Zurückhaltung empfand er als gleichbedeutend mit kältender Versachlichung. Seine ersten dichterischen Versuche, die auf eigene Kosten herausgegebenen Liederhefte Wegwarten verteilte er, nachdem die Zeitungskioske die Annahme verweigert hatten, in Hospitälern und Gefängnissen.
Mit Ilse Erdmann, einer ans Bett gefesselten Kranken, die er persönlich nicht kannte, unterhielt er in den Reifejahren einen Briefwechsel aus dem inneren Verlangen heraus, der Schwergeprüften, vom Leben Abgesonderten, eine Zwiesprache zu gewähren. Als Ilse Erdmann sich fürchtete, den berühmten Dichter zu belasten, ließ er sie durch eine Freundin ermutigen und ihr sagen, sie solle ihm schreiben, so oft sie wolle, „denn es ist doch so einfach von ihr zu mir. Darin möchte sie sich gehen lassen.“ Quelle générosité! Indem ich dieses niederschreibe, denke ich an einen zeitgenössischen, preisgekrönten Dichter, der sich damit rühmt, die von Lesern empfangenen Briefe ungelesen im Keller zu verwahren.
Aus den Briefen seiner Freunde erfahren wir, daß diese sich in schwierigen Fällen fragten, was Rilke dazu sagen würde. Er schuf nicht nur ein Dichtwerk, er schuf ein Leben und brauchte die lebendige Beziehung zu lebendigen Menschen. Als er noch sehr jung war, schrieb er:
Ich möchte eine Stimme haben wie das Meer und doch ein Berg sein und im Sonnenschein stehen, damit ich euch alle wachleuchten, überragen und aufrufen könnte.
Die Neuen Gedichte, und nicht nur diese, enthalten denselben Gedanken: wer den Torso eines Apollo mit lebendigem Auge und Herzen angeschaut hat, ist innerlich geläutert:
Du mußt dein Leben ändern.
Fraglos verdankt Rilke seinen Weltwiderhall vor allem seiner lyrischen Genialität, aber auch seiner geistig universalen Einstellung und seiner Hinwendung zum Menschen. Auch wenn er nicht Verse schrieb, war er ein Dichter und darin ein Gegensatz zu Gottfried Benns Doppelleben. Bei Rilke bestand keine Grenze zwischen Leben und Werk. Dieses Einssein von Mensch und Dichtwerk wirkt im Westen zugleich anziehend und befremdend, daher einerseits der Rilke-Kult, anderseits die ungewöhnlich vielen Angriffe auf ihn. Wenn sein Ruhm in der ersten Phase nach seinem Tode ständig wuchs, so ist dieser heute durch die Pathographien und Psychoanalysen der unheilvollen Intellektualisten abgebröckelt. Für den einfältigen Leser bleibt von diesem genialen Dichter nach der Lektüre der „Wissenschaftlichen Untersuchungen“ nichts übrig als ein Häufchen Unglück, eine Krankengeschichte und ein Berg von Widersprüchen. Der reife Leser dagegen empfindet ehrfurchtsvolles Staunen vor dem Menschen, der aus kleinbürgerlich engen Verhältnissen, übersensitiv veranlagt, von Krankheiten heimgesucht, auf die Gastfreundschaft seiner Gönner angewiesen, zur Selbstheilung, zur höchsten Vergeistigung, zu den Duineser Elegien emporgewachsen ist.
Das, was im Westen zur Abwehr stimmt, ist im Osten Voraussetzung zum Vertrauen. Von einem genialen Dichter erwartet man im Osten eine Antwort über den Wert und Unwert des Daseins. Wer diese nicht gibt, ist ein Skribent, ein Journalist, nie und nimmer ein Dichter. Der östliche schöpferische Geist ringt mit unlösbaren Problemen vom Sinn des Lebens und Todes herum: Was soll ich tun, wie soll ich leben? Direkt oder indirekt stellen diese Frage alle östlichen Künstler. Das Werk erhält Unsterblichkeit erst durch das Leben und Wirken seines Schöpfers, der das Reinmenschliche vom Dichterischen nicht trennt. Dem östlichen Menschen ist es unbegreiflich, wie man leben kann, ohne zu wissen, wozu man lebt. Der zurückhaltende Tschediow schreibt an seinen Freund:
Ein bewußtes Leben ohne Weltanschauung ist kein Leben, sondern nur Last und Schrecken.
Dagegen meint Friedrich Sieburg, dieser feinsinnige, weltoffene Schriftsteller, ein markanter westlicher Repräsentant:
Ein Grund zur Abwehr entsteht, wo das Dichterische den Anspruch auf eine Weltanschauung erhebt, die wahr, gültig und verbindlich sein will.
Rilke fühlte sich von Rußland, das in seinen Augen an Gott grenzte und das Symbol der Irrationalität war, geheimnisvoll angezogen, konnte aber als sensibler Dichter schöpferisch nur in der Gemeinschaft von Menschen leben, die seine Sprache sprachen: nächst der deutschen wurzelte die französische in seinem Herzen. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge konnten nur in Paris entstehen. Daß er auch nur ein einziges Werk im roten Moskau geschrieben hätte, ist unvorstellbar.
In seiner Blindheit dem System des Bolschewismus gegenüber scheint der westliche Mensch unheilbar zu sein. Blind war er in seiner Unwissenheit zu Romain Rollands und Rilkes Zeiten, blind ist er heute, trotz der schauerlichen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse. Bert Brecht, das Aushängeschild der Ostzone, ein sprachgewandter Plakatdichter im Stile von Majakowskij, ein Sänger Stalins und des Sowjetregimes „beweist“ u.a. in seinen Dramen, daß in der kapitalistisch-demokratischen Gesellschaft es nicht nur eine Sinnlosigkeit, sondern ein Verbrechen ist, ein anständiger und gerechter Mensch zu sein. Das hindert aber nicht die Vertreter der kapitalistisch-demokratischen Gesellschaft, deren Vernichtung Brecht propagiert, seinen Theaterstücken zuzujubeln. Eine neue kulturelle Epoche kann nicht aus Wirklichkeitsfremdheit und Phantastereien entstehen, sondern aus hellsichtiger Einsicht fremder Eigenart, erbarmungslosem Erkennen eigener Fehler und durch Genesung der uns nährenden Urwurzeln.
Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Zum Uralten, im abendländischen Sinne heißt das zum verantwortungsbewußten Einzelmenschen, zu Prometheus und Christus, nicht in der Einfassung von dorischen Säulen und düsteren Katakomben, sondern von Flugplätzen am Meer der Unendlichkeit.
Zenta Maurina, aus Zenta Maurina: Auf der Schwelle zweier Welten. Essays, Maximilian Dietrich Verlag, 1959
Es war vor ungefähr 32 Jahren in Moskau (1899). An einem besonders schönen Frühlingstage, einem von denen, die dort zu dieser Jahreszeit nach trübem, langem, hartem Winter eine Ekstase freudig-strahlenden Sonnenlichtes aufweisen, stand vor mir im Atelier ein junger, ganz junger, zarter, blonder Ausländer in einem grünen Lodenmantel. Er überreichte mir einige Empfehlungsbriefe von meinen Freunden in Deutschland. In den Briefen war, wie üblich, die Bitte – dem Überbringer mit Rat und Tat bei seinen Rußlandstudien beizustehen und – wenn ich mich nicht irre – ihn auch Tolstoi, mit dem ich damals schon befreundet war, empfehlen zu wollen.
Der angegebene Name des (mir unbekannten) jungen Dichters – Rainer Maria Rilke wurde er mir genannt – sagte mir soviel wie gar nichts. Aber das ganze Äußere dieses jungen Deutschen, das ich beim flüchtigen Durchblättern der Briefe unbemerkt beobachten konnte, der mit seinem flaumweichen Kinn- und Backenbärtchen, seinen kindlich-reinen, großen, blauen, fragenden Augen mehr einem feinen russischen „Intellektuellen“ ähnelte, seine edle Haltung, sein lebensfreudiges, fast kindlich-bewegliches Wesen; seine strahlende, kaum gebändigte Begeisterung für alles, was er schon auf der Durchreise in Rußland, diesem für ihn „heiligen Lande“, gesehen hatte – fesselte mich sofort. Und schon nach dem ersten kurzen Gespräch waren wir wie gute alte Freunde (die wir später auch wurden).
Rilke kam mit seinen Freunden, der Dichterin Lou Andreas Salomé und ihrem Mann, einem Arzt, nach Moskau, um hier die Zeit der Karwoche und der Osterfeiertage zu verbringen. Wenn das damalige Moskau mit seinen unzähligen alten Klöstern, Türmen und Kirchen mit goldgekrönten Kuppeln, seinem hoch über der Stadt ragenden weiss-goldenen, in der Sonne strahlenden Kreml schon von weiter Ferne für jeden Fremden das wunderschönste orientalisch-märchenhafte Bild darstellte, so ist es leicht begreiflich, wie das ungemein originell-malerische Antlitz Moskaus auf ein so empfindliches Künstlerauge wie das Rilkes – gewirkt hat. Eine ganz besondere, neue, interessante Welt bot aber Moskau zur Zeit der Karwoche und Ostertage, besonders für einen Ausländer, der, wie Rilke, die historisch-religiösen Sitten und Gebräuche, das ungeschminkte, echte Volksleben, das sich zu dieser Zeit auf den Straßen, Plätzen und Kirchen auswirkte, studieren wollte. Es wäre viel Raum nötig, wollte ich mich in die Schilderung einzelner Ereignisse vertiefen.
Wie eigenartig diese Nächte der Werbnaja (Palmwoche) mit den geheimnisvollen Lichterzügen der frommen Kirchenbesucher in den engen Gäßchen! Welch originelles, unbeschreibliches (für das Studium des russischen Volkswesens) malerisches Bild dieser Werbni Basar (eine Messe) auf dem großen historischen Roten Platz („Krasnaja Ploschtschadj“) mit seinem bunten Gemisch des Altrussischen und Orientalischen, mit seinem fröhlich-freudigen Wirrwarr und Volksgedränge in dessen Mitte, – ein plötzlich überraschender, auf europäische Art eindrucksvoll wirkender Gala-Korso der aufgeputzten höheren Stände, der reichsten Bourgeoisie in ihren eigenartigen Equipagen mit reizendem russischen Gespann. Oder die stimmungsvolle, feierlich-mysteriöse Osternacht im überfüllten Kreml, was dies für einen gewaltigen, tiefen Eindruck auf die sensible und für religiöses Empfinden so empfängliche Seele eines Rilke machen mußte!
Der von den Rußland-Erlebnissen auf das tiefste ergriffene Rilke kehrte nach Hause zurück, und schon nach kurzer Zeit schreibt er mir aus Berlin-Schmargendorf (mit der Zusendung seines ersten Werkes „Mir zur Feier“) u.a. folgendes:
„… nun muß ich Ihnen erzählen, daß Rußland mir, wie ich Ihnen vorausgesagt habe, mehr als ein flüchtiges Ereignis war, daß ich seit August vorigen Jahres fast ausschließlich damit beschäftigt bin, russische Geschichte, Kunst, Kultur und, nicht zu vergessen, Ihre schöne unvergeßliche Sprache zu studieren… und was für eine Freude ist es, Lermontow’sche Verse oder Tolstois Prosa im Original zu lesen. Wie genieße ich das! Das nächste Resultat meiner Studien ist, daß ich mich ungemein nach Moskau sehne und, wenn nichts besonderes passiert, bin ich auch am 1. russischen April bei Ihnen…“ und weiter: „… diesmal reise ich wohl auch in die Krim und nach Kiew… Ich fühle mich angesichts dieser Zukunft wie ein Kind vor Weihnachten“. Und am Ende des Briefes: „Bitte, schreiben Sie mir ein paar Zeilen – es darf nur russisch sein“… und nochmals mit dieser Bitte, ihm russisch zu schreiben, endet der Brief. Tatsächlich korrespondierten wir von nun an russisch miteinander, soweit hatte er die russische Sprache erlernt (eine Heldentat für einen Deutschen)!
Die nächste Begegnung mit Rilke war kurz und vorübergehend flüchtig. Rilke kam wieder nach Rußland und diesmal, um eine größere Reise zu unternehmen. Zufällig trafen wir uns auf einer Station zwischen Moskau und Tula. Ich fuhr mit meiner Familie nach Südrußland. Als ich aus dem Wagen auf den Bahnsteig hinausging – traf ich Rilke, der mir seine Verlegenheit klagte, – er möchte nämlich gern nach der „Jasnaja Poljana“ zu Tolstoi, aber er weiß nicht, ob Tolstoi auf seinem Gute oder auf einer Reise sich befinde. Ich half Rilke sofort aus der Verlegenheit, indem ich ihn mit einem intimen Freunde von Tolstoi zusammenführte.
Glücklicherweise fuhr dieser mit dem selben Zug und machte dem besorgten Rilke durch telegraphische Voranmeldung den Besuch leicht und erfolgreich. Ein bemerkenswertes Spiel des Lebenszufalls bei dieser Begegnung war noch der Umstand, daß mein Sohn Boris, damals ein zehnjähriger Gymnasiast, der sich mit mir auf dem Bahnsteig befand und meinen jungen deutschen Bekannten zum ersten und letzten Mal zu sehen bekam, damals wohl nicht (wie ich auch) ahnte, daß dieser Bekannte einst als der große deutsche Lyriker auf ihn den größten Einfluß ausüben würde und daß es ihm wiederum gegönnt sein wird, mit seinen dichterischen Übersetzungen Rilkes für dessen Kenntnis und Schätzung im Bereich der jungen russischen Literatur viel beizutragen…
Das Jahr 1904… Ich bin auf meiner ersten Italienreise. Ein jeder weiß, was für einen Maler der erste Besuch Italiens bedeutet. Ich habe schon Venedig, Verona, Florenz durchquert. Ich bin in Rom. Ein heißer Tag. Ich bin von all den Erlebnissen, Eindrücken, von Geschautem, Bewundertem in all den Museen, Galerien, völlig erschöpft. Ich kann nicht mehr; ich muß jemanden, einen nahen Menschen, einen Freund treffen, dem ich mein übervolles Herz ausschütten, meine Erlebnisse mitteilen könnte, mich entlasten. Rings herum alles Fremde… Und wie ich so gehe, siehe da, – wer kommt mir auf einmal entgegen – Rilke! O Gottes Wunder! Mein lieber, guter, strahlender Rilke! Eine so freudige, hier gänzlich unerwartete Begegnung! So lange sich nicht gesehen, soviel einander zu erzählen!… Und schon sprühen Kaskaden eines freundlichen Zwiegespräches, wie die vielen der drüben in der Nähe rauschenden Neptun-Fontänen.
Beim Abschied nehme ich noch die Einladung an, diesen Abend bei ihm zu verbringen, um in Ruhe über alles noch plaudern zu können. In der stillen, warmen, tiefschwarzen römischen Nacht finde ich kaum die Villa Fasol (benachbart der Villa Borghese, so viel ich mich erinnere). Er ist verheiratet. Er stellt mir seine junge, reizende Frau, eine Bildhauerin, eine talentvolle Schülerin Rodins, vor.
Unvergeßliche, inhaltsreiche Stunden des behaglichen Zusammenseins! Auch diesmal war das Hauptthema – außer der Kunst – das ersehnte Rußland, seine Literatur, die er auf das gründlichste beherrschte! Erstaunlich, – noch mehr! – mit welcher Kenntnis er in einer Begeisterung über die besonderen Schönheiten der altrussischen Volksdichtung „Slowo o polku Igorewe“ sprach, die er im Original, also in der für einen Ausländer schwierigsten altslawischen Sprache zu lesen vermochte! –
Noch eine flüchtige (wieder auf einer Reise, diesmal über die Schweiz), aber auch schon letzte Begegnung mit Rilke… Wir standen hin und wieder miteinander in Briefwechsel.1
Es kamen – der Krieg, die Revolutionen. Auf viele Jahre war Rußland, wie durch einen herabgelassenen eisernen Theatervorhang, vom Ausland getrennt. Ein paarmal wurden falsche Gerüchte über das Ableben Rilkes in Moskau verbreitet, die aber nachzuprüfen fast unmöglich war.
Erst als ich nach Berlin übersiedelte, erfuhr ich zu meiner und meiner Angehörigen größten Freude, daß der Dichter am Leben und im Schaffen sei und sich in der Schweiz befinde. Ich schrieb ihm sofort und wie immer auf russisch.
Als Antwort darauf fängt der letzte – kurz vor seinem gänzlich unerwarteten Tode – umfangreiche Brief an mich zwar noch russisch an, aber schon nach den ersten fehlerhaften Zeilen gibt er zu, daß er nach so vielen Jahren das Russisch-Schreiben verlernt habe, versicherte aber weiter, wie ihm Rußland „das unvergeßliche Märchen“… „mir nah, lieb und heilig geblieben ist, für immer eingelassen in die Grundmauern meines Lebens“… Nach den Mitteilungen über sein Pariser Leben der letzten Jahre, über seinen neuen Schweizer Wohnsitz „in vollkommenster Einsamkeit mit meiner Arbeit und den Rosen meines kleinen Gartens“.
Über seine neuen und alten Pariser Freunde, und zum ersten Male lese ich: „… und der junge Ruhm Ihres Sohnes Boris hat mich von mehr als einer Seite angerührt“. Weiter berichtet er, daß es ihm dort die „sehr schönen Gedichte“ zu lesen gelungen war und schon nach Schluß des Briefes fügt er am Rande noch hinzu: „Gerade in der Winternummer hat sie sehr schöne, große Pariser Zeitschrift Commerce, die Paul Valéry, der große Dichter herausgibt, sehr eindrucksvolle Gedichte von Boris Pasternak gebracht, in einer französischen Version…“
Dies waren seine letzten Zeilen an mich …
Leonid Pasternak, aus Paul J. Mark (Hrsg.): Die Familie Pasternak. Erinnerungen, Berichte, Aufsätze, Königshausen & Neumann Verlag, 1975
Hans Egon Holthusen: Der späte Rilke, Merkur, Heft 8, Februar 1948
Hans Egon Holthusen: Rilke-Finsternis? Gedanken anläßlich des 100. Geburtstages, Merkur, Heft 330, November 1975
Carl J. Burckhardt: Ein Brief über Rilke, Merkur, Heft 330, November 1975
DER BINDFADEN
Rainer Maria Rilke gewidmet
Du bist der Zage, bist der Blasse,
Du bist der Nervigte und Krasse,
Du bist, der ohne Unterlasse
Dem Dienst der Völker sich geweiht.
Du bist der Hehre und Fürbasse,
Du bist der Ritter im Kürasse,
Du bist die feuchte Kaffeetasse
In dieser fingerwunden Zeit.
Du bist der Fluß und bist die Gasse,
Du bist der Blitzstrahl allem Hasse,
Der Sturm bist du, du bist die Masse,
Schwer schallt dein Bett, dein Fuß tritt breit.
Du bist die Klasse mit dem Basse,
Du bist das Walten und die Rasse,
Du bist Diogenes im Fasse
Von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Jakob van Hoddis und Erwin Loewenson
CLARA WESTHOFF AN RAINER MARIA RILKE
Keine Straße führt
zu diesem alten Haus, das wir uns ausgesucht haben.
Sein Dach aus Stroh umhergeweht
vom lauten Wind, der seine
Nordseelaute keucht.
Keine Straße führt
zu diesem alten Haus, das wir uns ausgesucht haben.
Ich wohne unten
mit meinem Ton und Steinen.
Du oben
mit Tinte und Papier.
Was tun wir außer mit der Wahrheit zu spielen,
einer Puppe, deren Gesicht
ich wieder und wieder umarbeiten muß
bis es menschlich ist.
Der Ton hat alle Wärme aufgenommen
von meinen Händen. Zu sehr friere ich
noch, den Marmor zu berühren.
Letzte Nacht blies der Wind
meine Kerze aus. Heute nacht
auf der Treppe suche ich wiederum
tastend den Weg zu deinem Zimmer.
Jede Nacht steige ich
diese Stufen hinauf
zurück zu dir, mit deinen offenen Fenstern
so nahe dem Wind und den Sternen.
Ich lausche deinen Gedichten, während ich mir
den Staub aus Haut und Haaren wasche.
Du mußt die Fenster die ganze Nacht geöffnet lassen,
ich muß beobachten
wie das Stroh vom Dach
langsam herunterwirbelt, hereinfällt
und sacht deine Gedichte bedeckt.
Morgen
komm herunter, ja,
es ist einen Monat her.
Ich möchte dir den neuen Stein
zeigen, den ich gefunden habe
im Schlamm steckengeblieben bei dem toten Baum.
Eine so ebene Kugel, nicht ganz weiß,
sondern melonenfarben
von einer einzelnen dunkelgrünen Ader durchzogen.
Komm herunter, ja, schau
die hellroten Blätter, die ich den Wäldern gestohlen habe;
schau meine schiefe Ton-
Figur, wie sie sich tief verneigt
vor meinem unberührten Marmor.
Morgen
komm schau den Erdboden,
das einfältige gelbe Unkraut
in Augenhöhe von meinem Fenster ganz unten.
Sujata Bhatt
Übersetzung Jürgen Dierking
RILKE, REIMLOS
rilke
sagte er
dann sagte er
gurke
leise dann
wolke
Ernst Jandl
RILKES GEWICHT
rilke wird um sein
gewicht erleichtert
so rauh erzieht
die erde ihren sohn
Ernst Jandl
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