Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Alle Dinge sind dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn.1
Mag die allgemeine Wertschätzung, die Popularität und auch die literaturwissenschaftliche Erörterung, die Rainer Maria Rilke erfährt, immer wieder wechselhaft sein, mag manche seiner lyrischen Aussagen umstritten bleiben und zumal der Autor selbst als problematisch dargestellt werden – aber welchem Herausragenden widerfährt dies nicht? –: in der Geschichte der deutschen Lyrik hat das Werk Rilkes seinen Platz eingenommen (wie nicht minder Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge in der Geschichte des modernen Romans). Rilkes unter dem Rodin-Erlebnis in Paris entstandenen „Dingdichtungen“ behaupten ebenso eine literaturgeschichtliche Position wie die Duineser Elegien im Rückbezug auf Hölderlin oder im internationalen Elegien-Kontext des 20. Jahrhunderts mit W.H. Auden und Joseph Brodsky.
Es gibt Rilke-Gedichte von auffallender Popularität, unvermeidliche Anthologiestücke wie „Der Panther“ oder „Das Karussell“, auch zwei, drei Herbstgedichte, zu schweigen von den millionenfach verbreiteten 15 Druckseiten des Cornets, es gibt unvergeßliche ins Wort gehobene Gesten wie etwa „Wie soll ich meine Seele halten, daß / sie nicht an deine rührt?“, und es gibt neben einigem Gefühlskitsch existentielle Prägungen, die bleiben werden – und sei es die Sentenz „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen“. Zitieren wir durchaus auch den Vers „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles“, von dem Gottfried Benn sagte, daß ihn seine Generation nie vergessen werde.2 Solche Exempel stehen für ein lyrisches Werk von Gewicht, und eben dieses Werk wurde, betrachtet man die mediokren Anfänge des Prager Autors und das dann gelebte Produktionsethos des Dichters, durchaus erarbeitet: Rilke übernahm von Rodin bewußt den Begriff des travailler für sein Leben, wie auch „Leisten“ und „Leistung“ zu den Schlüsselbegriffen seiner ästhetischen Existenz gehören.
Von den drei gern in Vergleich gesetzten Autoren der Jahrhundertwende orientierte sich Hugo von Hofmannsthal nach seiner Frühphase bald durchaus zur Gesellschaft hin: er schrieb Opern und Festspiele, gar Komödien und reflektierte über „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“. Stefan George versuchte mit pontifikalem Stiftertum seine Vorstellung von Kunst und Herrschaft in einen sich in Ringen ausbreitenden Anhängerkreis zu tragen. Rilke dagegen rang als Einsamer mit der bewußten Entscheidung für Ungebundenheit und Unseßhaftigkeit darum, die Dinge der Welt sich zu verbinden, „Weltinnenraum“ zu gewinnen und die von ihm geschaffenen Kunstgebilde wiederum in die Wirklichkeit zu stellen – und so verstandenem „reinem“ Dichtertum widmete er seine ganze Existenz.
Der junge Prager Literat, als der zunächst René Rilke betriebsam das Schreiben und Publizieren 1894 begann, weil er nichts anderes tun als schreiben wollte, gab Idyllisches und Balladeskes im Stil des ausgehenden Jahrhunderts von sich – ohne Eigenart in Stil und Inhalt, dafür in großer Menge. Da war kaum Bleibendes. Die ernstzunehmende künstlerische Entwicklung und auch eine wesentliche Persönlichkeitsbildung begannen mit der Liebesbeziehung des 21jährigen Rilke zu der 36jährigen Lou Andreas-Salomé und mit einer Erlebnisausweitung zur Landschaft und Kultur Rußlands hin. Rilke kam aus begrenzten Verhältnissen, Kind einer gescheiterten Ehe, Sohn einer auf ihn fixierten Mutter, die selbst literarisch ambitioniert war, ihm zumindest einen Adelstick vermachte und von der er sich bei ihrem letzten Besuch 1915 mit einem für ihn ungewöhnlich drastischen Gedicht („Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein“) distanzierte. Da lernte er im Frühjahr 1897 in München eine der faszinierendsten Frauen der Epoche kennen, hochintelligent und den prägenden Zeitströmungen verbunden – Lou Andreas-Salomé wurde seine Mutter-Geliebte: „War ich jahrelang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist. Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelbarer Tatbestand des Lebens selbst“3 schrieb sie nach seinem Tod. Durch Lou Andreas-Salomé erfuhr er Reife und Ausweitung, und an die förmliche Trennung 1901 schloß sich gleich schon mit den Pariser Jahren eine lebenslange Freundschaft an. 1899 und 1900 war Rilke mit ihr durch Rußland gereist, hatte Bauerntum dort, Frömmigkeit, Kunst und weite Landschaft erlebt, war Tolstoi begegnet und bezeichnete hinfort das östliche Land oft als seine Heimat.
Das Rußland-Erlebnis wirkte hinein in sein erstes Gedichtbuch von bleibender Wirkung: Das Stunden-Buch, zwischen 1899 und 1903 entstanden und 1905 gedruckt – ein Dialog mit Gott aus einem (fiktiven) „mönchischen Leben“, Rollengedichte eines Beters voll Gottsuche und Gottliebe, poetologisch ein Zyklus sowohl mit der Gefühligkeit der Jugendstil-Epoche als auch mit allen Paradoxien nach mystischen Mustern von Meister Eckart bis Angelus Silesius einschließlich der gegenseitigen Abhängigkeit von Gott und seinem irdischen Gesprächspartner. Rilkes persönliche, hier Gott zugewandte Frömmigkeit wird sich später den Weltdingen widmen. Die großstadtfeindlichen und nur scheinbar sozialen Aspekte des Stunden-Buchs mit der prätentiös-bedeutsam für sich allein stehenden Zeile „Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen…“ gehören zu den fraglichen Momenten dieser Lyrik, wenn man denn Armut nicht wesenhaft aus gewissen religiösen Traditionen verstehen will. Auf andere Weise durchaus problematisch gibt es hier die Gestalt eines Todgebärers in „Mach Einen herrlich, Herr, mach Einen groß“.
Diese erste wesentliche Schaffensperiode Rilkes ging zeitlich noch überein auch mit dem Versuch einer Ehe und der Orientierung zur Worpsweder Boheme: 1901 hatte Rilke die Bildhauerin Clara Westhoff geheiratet, er war mit Heinrich Vogeler und der Malerin Paula Modersohn-Becker in Kontakt gekommen, und eine kleine Monographie über die Malerkolonie gehörte zu seinen Brot- und Auftragsarbeiten. Aber Worpswede war wie die Familiengründung und der rasch gescheiterte eigene Hausstand nur eine Zwischenstation, über die Rilke 1902 nach Paris geführt wurde.
Paris wurde für zwölf Jahre so etwas wie das Lebenszentrum Rilkes, obwohl er unter dieser Stadt mindestens ebenso gelitten hat, wie sie ihn faszinierte und inspirierte (viel davon, ging in den Malte-Roman ein, einiges in den 3. Teil des Stunden-Buchs), und obwohl er während dieser Zeit immer wieder reiste und in vielen Ländern, Landschaften, Großstädten und Schlössern unterwegs war. Aber Paris verschaffte ihm doch die Phänomene des Schönen und des Häßlichen, gab ihm ein Etwas von jener „Wirklichkeit“, nach der er verlangte („Wirklicher unter Wirklichem zu sein“, wie es in einem Brief vom 13. November 1903 heißt). Die Begegnung dort mit dem Bildhauer Auguste Rodin, über den er schreibt und dessen Sekretär er zeitweise ist, und mit Rodins Skulpturen war von großer Wirkung. Sie vermittelte ihm Sinn für Körperlichkeit und Gegenständlichkeit, für Ausdruck und Formung, Dasein und Arbeit.
Überhaupt wirkte nach den Eindrücken aus der slawischen Kultur mehr und mehr nun die romanische Welt auf Rilke. Auch die Auseinandersetzung mit der Malerei Cézannes, ihrem „sachlichen Sagen“, fällt in diese Jahre. Hingabe an das Vorhandene war angezeigt. Die gefühlige Ich-Verhaftung wurde abgelöst von der Konfrontation mit dem Gegenständlichen:
Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Der „gleichsam liquide Stil“ (B. Blume) des Stunden-Buchs wich einer härteren Diktion. So entstanden die Neuen Gedichte, der erste Höhepunkt in Rilkes lyrischem Werk und, historisch gesehen, auch ein Beginn von moderner Lyrik in deutscher Sprache. Beda Allemann gibt mit Recht zu überlegen, ob diese Neuen Gedichte nicht „als das fraglos Gültige in Rilkes Gesamtwerk noch der Elegien-Dichtung vorgezogen werden“ sollten.4 Diese Dinggedichte Rilkes – man denke an „Der Panther“, „Die Treppe von Versailles“, „Das Karussell“, die beiden „Apollo“-Gedichte – werden aus Anschauen gewonnen und zur „Figur“, zum Sinnbild ausgearbeitet. Dabei gewinnen die Kunst-Dinge bei aller Distanz und ihrem „In ihm selbst selig scheinen“ so etwas wie Gleichnischarakter. Denn die Rilkesche Dingdichtung ist letztlich doch mehr als beschreibend-objektiv. Die Dinge stehen im Bezug zum Ich, auch wenn das nicht immer so deutlich gesagt ist wie bei „Archaischer Torso Apollos“, in dem die wahrnehmende Beschreibung in den Satz mündet:
Du mußt dein Leben ändern.
Rilkes Sensibilität, seine Einfühlsamkeit in Menschen, Tiere, Dinge und Orte korreliert hier erstmals mit seinem außergewöhnlichen Sprachvermögen. Dabei taucht 1907 aus dem Umfeld von Rodins Werk, in der ästhetischen Theorie von Rilkes Vortrag über den Bildhauer, auch der „Oberflächen-Gedanke“ auf, den 1934 noch Benn in die Formel „Formen, bis die Hülle die ganze Tiefe trägt“ fassen wird, nämlich daß der Künstler kaum in das Innere der Dinge einzudringen vermag, daß vielmehr alles, was man machen kann, dieses ist:
eine auf bestimmte Weise geschlossene, an keiner Stelle zufällige Oberfläche herzustellen, eine Oberfläche, die, wie diejenige der natürlichen Dinge, von der Atmosphäre umgeben, beschattet und beschienen ist, nur diese Oberfläche, – sonst nichts.
Rilke fährt fort:
Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht alles Oberfläche ist was wir vor uns haben und wahrnehmen und auslegen und deuten? Und was wir Geist und Seele und Liebe nennen: ist das nicht alles nur eine leise Veränderung auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichts? Und wer uns das geformt geben will, muß er sich nicht an das Greifbare halten, das seinen Mitteln entspricht, an die Formen, die er fassen und nachfühlen kann? Und wer alle Formen zu sehen und zu geben vermöchte, würde der uns nicht (fast ohne es zu wissen) alles Geistige geben? Alles, was je Sehnsucht oder Schmerz oder Seligkeit genannt war oder gar keinen Namen haben kann in seiner unsagbaren Geistigkeit?5
Dabei ist mit der Benennung und sprachlichen Formung der Dinge immer auch ein Erkenntnisprozeß gegeben, gibt es Bewußtseinsinhalte, die Rilke weiterentwickelt – indem er sich zunehmend auch als Dichter-Verkünder fühlt, nicht anders als etwa der Nietzsche des Zarathustra. Aber zu einer Klärung ist das Verhältnis von Ich und Welt für Rilke erst später und nur partiell gekommen.
1908 schrieb Rilke in Paris das Requiem „Für eine Freundin“, für Paula Modersohn-Becker, eine Würdigung dieser Malerin aus dem gewonnenen Verhältnis zur Welt, den Dingen, zur Wirklichkeit, so wie auch die Malerin die Dinge bannte, sehr persönlich und intim und so, daß ein Requiem zur Hommage wird – wie überhaupt solches Requiem als Genre im metaphorisch angereicherten, elegischen Parlando einmal neu zu würdigen wäre, durchaus im Sinn der Verse
Gebräuche her! Wir haben nicht genug
Gebräuche. Alles geht und wird verredet.
Dieses Requiem ist Beispiel auch für Rilkes Einfühlen in eine Frauen-Existenz, in die Existenz liebender Frauen, wofür es von ihm genug poetische Zeugnisse gibt – und nicht zuletzt für die Deutung, daß darin Ersatz liegen könne für eine eigene Existenz. Die Jahre nach den Neuen Gedichten und dem Malte sind mit ihrer Dingpoesie weiter bestimmt von Seinsthematik und Existenzproblemen, die z.T. inhaltlich wieder anschließen, wenn auch auf höherer Stufe, an die Stunden-Buch-Motive. Denn was Rilke nach der Niederschrift der ersten beiden Duineser Elegien im Januar 1912 bis zur Vollendung dieses Werks 1922 als psychische Not und Produktionskrise empfand, war das Erarbeiten eines neuen Weltbewußtseins, einer Ortsbestimmung des Menschen und Sinngebung seiner Existenz – besonders des modernen Menschen als des „verlorenen Sohnes“. Dazu kam der Anspruch, alte Gedichtformen wie Elegie und Hymne für die Verhältnisse einer götterlosen Zeit und einer metaphysischen Ortlosigkeit neu zu gewinnen. Das war die schwer zu lösende Aufgabe, der sich Rilke seit 1912 stellte.
Es gab daneben in der Periode zwischen den großen Gedichtbüchern wesentliche Verse, die jene Thematik einzeln reflektieren, so die im Herbst 1914 geschriebenen kontrastierenden Gedichte „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ und „Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen“. Wird in dem einen nicht nur die Sprachproblematik, das Versagen der Sprache vor den „Grenzempfindungen des Daseins“6 reflektiert, sondern auch die Ich-Situation der VIII. Elegie vorweggenommen: „Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein / und nichts als das und immer gegenüber“, so wird im anderen der berühmte Rilke-Begriff vom „Weltinnenraum“ präludiert, in dem Innen und Außen aufgehoben ist:
Die Vögel fliegen still durch uns hindurch.
Die Gedichte dieser Jahre werden für die Leser schwieriger, in der Metaphorik wie in der Gedanklichkeit.
Rilkes Autorenexistenz bestand damals im Dasein unter fremden Dächern, in Furcht vor Verstummen, im Verlangen nach Kreativität, ein Leben aufgrund von Mäzenatentum, mit Brotarbeit des Übersetzens und mit Unterstützung des Insel-Verlegers Anton Kippenberg. Der Briefwechsel diente oft als Ersatzwerk. Im Sommer 1919 verließ Rilke München in Richtung Schweiz: die dritte und letzte Lebenslandschaft, ein Refugium abseits politischer Kämpfe und aufregender historischer Abläufe – alle Intentionen galten dem Werkvollzug. Dazu gaben die Schweizer Mäzene Mittel und Schlösser, zuletzt den Turm von Muzot. Werner Reinhard aus Winterthur mietete den Schloßturm, kaufte ihn dann und gab ihn dem Dichter zum Lehen. Die Malerin Baladine Klossowska, Mutter von Balthus, dem Mädchen-Maler, eine späte erotische Beziehung Rilkes, richtete ihn ein. Und dann kam 1922 vom Schloßherrn und Dichter an den Verleger Anton Kippenberg nach Leipzig die Meldung von der Vollendung der Duineser Elegien – Rilke sah sie als die entscheidende Leistung seines Genies.
Im Januar 1906 hatte er zusammen mit Rodin die Kathedrale von Chartres besichtigt und die Skulptur des Engels mit der Sonnenuhr gesehen, auf den dann ein Sonett in die Neuen Gedichte eingegangen war:
Was weißt du, Steinerner, von unserm Sein?
und hältst du mit noch seligerm Gesichte
vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?
Nun war ein ganzer Zyklus geschrieben mit der – wir sind heute geneigt zu sagen: – Privatmythologie von einer Engelfigur, die nach des Autors eigener Aussage „nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun“ hat (Brief vom 13. November 1925), aber doch wohl ohne die jüdische Engelvorstellung und christliche Ikonographie nicht denkbar wäre, stilisiert zu einem „uns übertreffenden Wesen“ einer Gestalt aus einer Zwischenwelt, vergleichbar dem „Herrn“ des Stunden-Buchs, und gewiß einer großen Figur des Gegenüber. Der Mächtigkeit dieser Engel kontrastiert die Flüchtigkeit des Menschen, die Unsicherheit seiner Existenz, über die in freirhythmischer Elegienform nun Klage erhoben wird. „Nicht sehr verläßlich zu Haus“ ist der Mensch, auch nicht im Bereich „der gedeuteten Welt“. „Bleiben ist nirgends“, und auch der Versuch der Liebe gewährt nicht den erwarteten Halt. In die Mitte des Zyklus gesetzt ist die zuletzt gedichtete V. Elegie über die Gaukler, angeregt von Picassos Gemälde „Les Saltimbanques“: „die Fahrenden, diese ein wenig / Flüchtigern noch als wir selbst“. Etwas wie melancholische Sinnleere hängt über Picassos Figuren, und es liegt nahe anzunehmen, daß Rilke auch die eigene Künstlerexistenz zu diesen Artisten in Bezug gesetzt hat.
Wenn denn als Ziel der Elegien Bejahung, „Jubel“ nach der „Klage“ geplant war, so läßt sich die Bewegung dahin vor allem in der VII., VIII. und IX. Elegie verfolgen: Dem Preis des Hiesigen und Irdischen in der Wendung „Hiersein ist herrlich“ und dem Erkennen des Glücks, „wenn wir es innen verwandeln“ – und dies pointiert noch einmal mit den Zeilen „Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser / Leben geht hin mit Verwandlung“ –, folgt die alte Konfrontation, das Ausgeschlossensein und sterile Gegenüberstehen. Und dann findet der Dichter doch wieder hin zu einem „Aber weil Hiersein viel ist“ und nicht nur zur Leistung des „Sagens“, sondern zu der Aufgabe, daß der Mensch der Außenwelt, den Dingen dieser Erde durch Einverwandlung eine neue Eigenart des Seins zu schaffen vermag.
Die Frage darf gestellt werden, wieviel Übertragbarkeit dieser Sinnstiftung, die durchaus eine spezifische Dichter-Lösung ist, zukommt. Als subjektiver, mit Anstrengung erarbeiteter Seinsentwurf oder auch als Denkfigur ist solche Bestimmung des Menschen zu respektieren. Gesellschaftliche Verbindlichkeit darf kaum abgeleitet werden. Auch ist, wenn es um Wertung geht, diese Seinsbewältigung kaum mit der ästhetischen Attraktivität des sprachlichen Mediums aufrechenbar.
Die Sonette an Orpheus hat Rilke neben den Duineser Elegien als Zugabe empfunden, eine „kleine fast ungewollte Arbeit“, in müheloser Niederschrift neben dem Hauptwerk zwischen dem 2. und 23. Februar 1922 auf Muzot entstanden; sie klingen auch vergleichsweise gelöst. Aber sie sind in ihren auf den „singenden Gott“ bezogenen Teilen – und dies sind nur 11 der 55 Sonette – doch so etwas wie die Summa poetica Rilkes. In ihnen gelangt das Motiv der Rühmung („Rühmen, das ist’s!“ I. Teil, VII) als Mittel zur Verwandlung der Welt nach Innen und als Art des künstlerischen Sagens zur endgültigen Darstellung. Auch die Klage darf „nur im Raum der Rühmung […] / gehn“ (VIII). Und:
Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt (V).
Orpheus, also die mythologische Sängerfigur, vertritt die Kunst, sie verbindet über das Eurydike-Motiv Lebens- und Todesraum (für den späten Rilke ganz wesentlich), er steht für den Triumph des Ästhetischen über die Natur (weil die Tiere seinen Klängen erliegen) und wird – (eben deswegen?) von Mänaden zerrissen – über den Mythos ein weiterer Sinnstiftungsversuch Rilkes:
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
So bleibt von der Existenz des Menschen in der Welt wieder nur die Kunstleistung. Der eigentliche Mensch ist der Dichter:
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber sind wir?
Auf der Suche nach dem Seinsgrund sind wir angelangt beim Anverwandeln und Rühmen des Hiesigen. Rilke hat wohl nach dem Fragen des Stunden-Buchs, dem Sagen der Dinge in den Neuen Gedichten und dem Ringen um das Sein in den Duineser Elegien an diesem Ziel selbst eine gewisse Erfüllung gegenüber seinem dichterischen Auftrag empfunden.
In den folgenden Jahren entstanden noch wesentliche Einzelgedichte, angeregt von der Walliser Landschaft, in Fortführung des gesammelten Gefühls- und Weltvorrats, auch vielleicht – vorausweisend auf Celan – mit einem Ansatz neuer Imagination (Mausoleum, Gong). Im Leben schlossen sich Schmerzen und Krankheit an. Am 29. Dezember 1926 starb Rilke 51jährig an Leukämie. Am 2. Januar 1927 wurde er in Raron begraben: auf seinem Grabstein zu sehen wünschte er ein überliefertes Familienwappen und die alsbald berühmten, vielen Interpretationen ausgesetzten Zeilen:
Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern
– letztlich wohl doch eine Absage an eine transzendente Größe zugunsten des Hierseins und Diesseits.
Zwei Wochen später sagte Robert Musil bei einer Rilke-Feier in Berlin:
Dieser große Lyriker hat nichts getan, als daß er das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat […]. Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages.7
Hugo von Hofmannsthal hatte 1929 in einem Gespräch geäußert, daß Rilke „kein guter Mensch“ gewesen sei, und rechtfertigte sich dafür dann brieflich unter Berufung auf die Fürstin Taxis:
Neulich fing diese alte Frau, deren sensiblen Geist das hohe Alter zur Weisheit geläutert hat, die ihn durch 25 Jahre gut gekannt und (in den Formen, die dem höheren Alter geziemen) ihn fast geliebt hat, mit mir über R. zu reden an. Ich sagte, dass ich nie einen rechten Schlüssel zu seinem Wesen gehabt habe, trotz der schönen gütigen Stimme und der grossen Liebenswürdigkeit seiner Haltung – da erwiderte sie: Aber das ist doch so einfach: er hat weder Freundschaft noch Liebe zu empfinden vermocht, und hat es gewusst und darunter unendlich gelitten. – Das erklärt alles: diese Vergeudung seiner Sympathie, seines Mitgefühls an ungezählte Existenzen, diese zu-vielen Briefe (Kippenberg sagte mir, es waren gegen 20.000 da!) – diesen rührenden und heroischen Versuch, die Haltung des Teilnehmenden und Mitfühlenden zu bewahren bei einer so furchtbaren Einsamkeit und beständigen Lebensflucht.
Ich aber (und aus der verschiedenen Terminologie entsteht das ganze Missverständnis) verstehe unter ,Güte‘ etwas ganz anderes, das nur starken Naturen eignen kann, das nur in der Verstrickung des Lebens hervortreten kann (jener schuldvoll-leidvollen, aber wirklichen Verstrickung, der sein Dämon ihn beständig entzog) das eben so selten wie grossartig (aber immer unter dem Schein der Strenge ja der Härte verborgen nur selten mit ganzem Licht hervorbricht) – und wovon uns, in der höchsten unerreichbaren Form, das Evangelium das ewige Beispiel bietet.8
Thomas Mann korrespondierte über Rilke 1941 mit seiner anstrengenden amerikanischen Seelenfreundin Agnes E.Meyer:
Ihr Urteil über ihn ist hart, aber wahrscheinlich nicht zu hart, obgleich unbestreitbar ist, daß er außerordentliche poetische Höhen erreicht hat. Ich hätte mich nicht über ihn ausgedrückt, wie Sie, aber ich widerspreche auch nicht. Sein lyrischer Stil war neu, reizvoll und für Gleichstrebende offenbar äußerst verführerisch. Aber ein Ästhetizismus, sein adeliges Getu’, seine frömmelnde Geziertheit waren mir immer peinlich und machten mir seine Prosa ganz unerträglich. Rilke oder George – die Wahl ist schwer. Rein kulturell gesehen, sind sie beide bedeutende Erscheinungen, aber eben Erz-Ästheten alle beide –.9
In diesen drei Stimmen sind Leben und Leistung von Rilke noch einmal zusammengefaßt – und man wird über das eine nicht ohne das andere urteilen können.
Dieter Bode, Nachwort
Reclams Werkauszug von Rilkes Schaffen begleitet mich nun schon 5 Jahre. Das kleine gelbe Buch ist schon arg zerfleddert, der Umschlag fleckig und vereinzelte Seiten sind mit Anmerkungen von mir versehen. Manchmal, wenn ich im Alltag den Faden verliere, zu mir selbst, dem was ich tue oder dem Ort wo ich gerade bin, nehme ich das kleine gelbe Buch zur Hand und tauche für einige Minuten in Rilkes Oase der Worte ein, seine sinntiefen Betrachtungen, seine zarten Beschreibungen und seine liebevollen Berührungen der Dinge.
Auf rund 300 Seiten im DIN-A6 Format gelingt es dem Reclam-Verlag eine gute Werksübersicht zu geben und im Nachwort noch einen biographischen Ausflug mit gezielten Analysen und Hintergrundinformationen zu erstellen.
Rilkes Gedichte und Gedanken schweifen weit: Meditionen (Stundenbuch), poetische Sachbeschreibungen (Buch der Bilder) und immer wieder Reflexionen der eigenen Verzweiflung, dem eigenen Überflutetwerden mit Eindrücken und Erkenntnissen.
Es sind besonders Sätze wie diese, die hängen bleiben und wirken:
Und wieder rauscht mein tiefes Leben lauter, als ob es jetzt in breitern Ufern ginge. Immer verwandter werden mir die Dinge, und alle Bilder immer angeschauter. … (S. 82)
… O wie war ich eines, nichts was rief, nichts was mich verriet; meine Stille war wie eines Steines, über den der Bach sein Murmeln zieht… (S. 74)
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heisst Hund und jenes heisst Haus und hier ist Beginn und das Ende ist dort. … Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. (S. 20)
Das ist Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit. Und das sind die Wünsche: leise Dialoge tagtäglicher Stunden mit der Ewigkeit. (S. 16)
Der Tod ist gross. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. (S. 91)
Besonders interessant ist Rilkes Ahnung und Herbeisehnung des Untergangs der Zivilisation, noch bevor sie ihren eigentlichen Höhepunkt erreicht hat. Man mag kaum glauben, dass ein Überdruss an den allgemeinen Errungenschaften und Verhältnissen um das Jahr 1900 herum, schon diese Endgültigkeit erreicht haben kann. Eine Tiefe, die etwas zeitloses hat, könnten doch die nachfolgenden Betrachtungen durchaus auch in der Gegenwart entstanden sein:
… Das Erz hat Heimweh. Und verlassen will es die Münzen und die Räder, die es ein kleines Leben lehren. Und aus Fabriken und aus Kassen wird es zurück in das Geäder der aufgetanen Berge kehren, die sich verschliessen hinter ihm.
Alles wird wieder gross sein und gewaltig. Die Lande einfach und die Wasser faltig, die Bäume riesig und sehr klein die Mauern; und in den Tälern, stark und vielgestaltig, ein Volk von Hirten und von Ackerbauern. (S. 55)
In Reclams Werkauszug fehlen selbstverständlich auch Rilkes berühmtes Herbstgedicht „… Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr…“ und seine vielzitierte, kierkegaardsche Selbstbeschreibung in Anbetracht des Unendlichen nicht:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiss noch nicht, bin ich ein Falke, bin ich ein Sturm oder ein grosser Gesang.
Mit dem „grossen Gesang“ lag Rilke, was die Bedeutung seines Werkes in der Folgezeit anging, auf jeden Fall richtig.
Ja, ich traue mich, Rilkes Gedichte zu rezensieren und ich weiß jetzt schon, dass meine Rezension nicht gut ausfallen wird. Aber ich denke, das ist okay, schließlich ist eine Rezension immer von der ganz persönlichen Sichtweise und den eigenen Vorlieben geprägt – eine völlig subjektive Meinungsäußerung sozusagen. Die Schwiegermutti in spe und Rilke mögen es mir also verzeihen, denn ich konnte leider gar nichts, oder kaum etwas, mit dem Inhalt anfangen.
Dass ich nicht wirklich der Gedichte-Fan schlechthin bin, dürfte der eine oder andere meiner aufmerksamen Lesern bereits mitbekommen haben. Warum habe ich Rilkes 524 seitenlange Gedichte dann aber trotzdem gelesen und beendet? – Zum einen, weil das Buch ein Weihnachtsgeschenk (2016) von der Mutter meines Freundes war und sie meinen Lesegeschmack damals noch nicht kannte, weswegen sie wahrscheinlich gedacht hat, sie macht mir mit ein paar schönen Rilke-Gedichten eine Freude. Zum anderen, weil ich zu der Zeit noch nicht viel mit Gedichten in Berührung war und noch nicht wusste, dass dies absolut nicht mein Lesebereich ist, in dem ich Freude habe.
Mal begonnen mit dem Buch, konnte oder wollte ich dann auch nicht mehr abbrechen, schließlich war es ein Geschenk und außerdem fällt es mir echt schwer, Bücher, die ich begonnen habe, nicht zu beenden. Man kann oben neben dem Foto eh sehen, dass ich relativ lange an dem Buch gelesen habe. Mich hat es eben nicht häufig gereizt, mich auf die Texte einzulassen. – Gut, vielleicht lag dies auch an der recht stressigen Schul- und Lernzeit, die ich hinter mir habe, ich weiß es nicht…
Was hat mir nun genau nicht an den Gedichten gefallen? – Dass man hochkonzentriert bei der Sache sein musste, um die meisten Gedichte/die Aussagen darin auch nur ansatzweise zu verstehen. Ich gehöre eher zu der Sparte Leser, die zur Unterhaltung lesen und nicht, weil sie sich fordern wollen. Wenn ich Wissenswertes aufnehmen oder etwas zum Nachdenken lesen möchte, dann entscheide ich mich ganz bewusst dafür und greife dann eben zu einem Sachbuch, Ratgeber oder dergleichen. Von Gedichten erwarte ich mir persönlich eher Entspannung und Unterhaltung und nicht hochtrabendes, schwülstiges und hochintellektuelles Zeug. Also ja, ich fand es teilweise echt mühsam die Gedichte zu lesen, ganz besonders nach einem langen anstrengenden Tag, an dem ich mir abends einfach nur ein wenig Erholung gewünscht hätte. Was können jetzt die Gedichte dafür? – Genau: gar nichts. Ich bin wohl einfach nicht die richtige Leserin für Rilkes Gedichte gewesen und warum das so ist, wollte ich an dieser Stelle gerne einmal loswerden. Eventuell auch, damit andere Leser, die in der Hinsicht ähnlich wie ich gestrickt sind, wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie zu dem Buch greifen.
Gibt es auch was Schönes/Positives zu berichten? – Es bleibt zu sagen, dass die Gedichte relativ kurz sind und man das Buch dann auch schnell mal wieder zur Seite legen kann, um ein anderes Mal oder später darin weiterzulesen. Man muss also nicht irgendwo mittendrunter unterbrechen oder ewig weiterlesen, bis ein Kapitel/Abschnitt zu Ende ist.
Genau genommen, gab es leider nur eine Handvoll Gedichte, die mir irgendwie zugesagt haben bzw. ich auf Anhieb verstanden habe, weil sie nicht so hochkompliziert geschrieben wurden. Diesen wenigen aber konnte ich dennoch was abgewinnen.
Ein Meister des expressionistischen Lebensgefühls!
Die meisten Kritiker sehen in Rilke wohl nicht ganz zu Unrecht den größten expressionistischen Lyriker deutscher Sprache!
Wirklich schöne und treffende Bilder liefert uns Rilke auch in diesem Band in der ihm eigenen wortgewaltigen Sprache, und bleibt dabei auch für Anfänger der Thematik meist relativ verständlich.
Leider kennen ihn die Meisten heutzutage ja nur durch das Gedicht: „Herr, es ist Zeit, / der Sommer war sehr groß, / … (das Gedicht wird ja regelmäßig auch als das schönste Herbstgedicht angesehen). Dass Rilke aber durchaus noch zu Anderem in der Lage war, zeigt auch dieser Band.
Meiner Meinung nach kein besserer, aber doch leichter verständlicher und der Allgemeinheit besser zugänglicher Autor als andere bekannte expressionistische Lyriker jener Zeit, z.B. der ihm durchaus nicht unähnliche Georg Trakl, der doch oft ziemlich eigensinnige, subjektive, schwer zugängliche Lyrik geschrieben hat.
Sicher wird Rilke oft zurecht dafür bemängelt, dass er wenig Zugeständnisse an die z.B. politischen Begebenheiten seiner Zeit machte. Stattdessen würde er in seiner eigenen Welt leben, usw. Das ist sicher richtig. Aber Tatsache ist auch, dass Rilke immer ein sehr ungewöhnlicher Mensch war, ein Einzelgänger, der vor allem seinem Gefühl huldigte, mehr von seinen Sinnen als von seinem Gehirn inspirieren ließ, seinen eigenen, subjektiven Erfahrungen einen hohen Rang einräumte. Seine Kunst ist daher sehr innerlich.
ALs Künstler ist das aber durchaus legitim. Tatsächlich hat er sich dadurch ja auch zum Kopf einer neuen Bewegung gemacht, die maßgeblich von ihm inspiriert und geprägt wurde.
Leider ist der Meister ja wegen seiner kränklichen Konstitution viel zu früh gestorben. Dafür ist seine Dichtung aber unsterblich geworden!
Natürlich kennt jeder den Namen, aber wer kennt noch mehr als ein oder zwei Gedichte, oder kann sie sogar rezitieren? Nicht daß ich besser bin, aber ich habe gefunden, dass Rilke einem/einer eine sehr schöne Lektüre sein kann, gerade wenn man eingemummelt zu Hause hockt und nicht mehr viel von der Welt wissen will. Auf der einen Seite gibt es da den wundervoll tiefsinnigen, teils depressionsfördernden Rilke, aber es gibt auch den sehr positiven Rilke, freilich ist dabei doch meistens eine Portion Wehmut beigemischt. „Positivere“ Gedichte, die auch durchaus aufbauend sein können, finde ich, gibt es besonders in den „Mir zur Feier“ Gedichten; von großer Tiefe sind insbesondere die Duineser Elegien, wie ich persönlich finde.
Bedeutende und unbedeutende Menschen mochten Rilke, bedeutende und unbedeutende Menschen mochten ihn nicht. Man muß sich für keine der beiden Haltungen schämen oder rechtfertigen. Das tröstet.
Wenn Dietrich Bode im Nachwort einzelne Zeilen Rilkes beschwichtigend-rechtfertigend-entschuldigend als „zweifelhaft“ bezeichnet (etwa, wenn es um das Lob der Armut geht oder die angedeutete Notwendigkeit eines „starken Mannes“): ersteres wäre als Metapher zu verzeihen und das zweite ist eine Ansicht, die nicht nur Rilkes Ansicht war und ist.
Die Sprachgewalt Rilkes ist in der Tat großartig: sie gleicht der Nietzsches, provoziert aber weniger. Die Fähigkeit zur Detailbeobachtung ist grandios: sie gleicht der Thomas Manns, kommt aber mit erheblich weniger Text aus. Die Fähigkeit zur Selbstbetrachtung: nicht zu übertreffen.
Das war das Zwar, nun kommt das Aber: das völlige Fehlen einer Verankerung in der Wirklichkeit! Der Mann lebte in einer Zeit radikalen gesellschaftlichen Umbruchs, und alles, was ihm dazu einfällt, ist: das total auszublenden. Die völlige Unberührtheit von den Dingen um ihn herum! Man hat erst nach ihm formuliert und ausgesprochen, daß auch Schweigen ein Verbrechen sein kann. Gegolten hat das aber schon immer.
Rilke: Das ist Sitzen im Elfenbeinturm par excellence! Und nicht meine Welt.
Ein abschließendes Wort zur Edition: die Entstehungszeit eines Gedichtes unter die Überschrift zu schreiben wäre kein Fehler gewesen!
Die Auswahl und Präsentation der Gedichte ist sinnvoll etc., aber es ist ein schlampiges Buch. Druckfehler (statt „rn“ „m“ etc.), falsches Inhaltsverzeichnis. Ärgerlich! Schlecht gescannte Texte brauch man nicht in Buchform.
Ich möchte keinen Aufsatz über Rilke schreiben. Ich möchte nicht über ihn reden, dadurch schließe ich ihn aus und entfremde ihn, mache ihn zu etwas Drittem, zu einem Ding, über das man spricht, außerhalb meiner selbst. (Solange ein Ding in mir ist, ist es – ich, sobald das Ding außerhalb ist, ist es – es, du – nein, du bist wieder – ich.)
Ich möchte zu ihm (genauer – in ihn) sprechen, wie ich es schon im „Neujahrsbrief“ und in „Dein Tod“ tat, wie ich noch sprechen werde, niemals höre ich auf zu sprechen, ob laut oder vor mich hin. Was kümmert es mich, dass es die anderen hören, ich spreche nicht zu ihnen – zu ihm spreche ich. Nicht zu ihnen über ihn, zu ihm – ihn. Denn er ist doch jenes Ding, das ich ihm sagen will, er ist mir gegeben, mein ist er, meiner Liebe gehört er, außerhalb derer er nirgendwo existiert.
Auch möchte ich mit ihm sprechen – das war einmal und ist nicht mehr, denn, selbst des Traumes eingedenk, der Traum ist selten ein Dialog, fast immer ein Monolog: unserer Sehnsucht nach dem Ding, oder der Sehnsucht des Dinges nach uns. Gegenseitige Träume gibt es nicht. Entweder rufe ich den anderen in den Traum, oder der andere tritt in meinen Traum hinein. Es ist die Angelegenheit von einem, und nicht von zweien. (Erinnern wir uns an alle Erscheinungen aus jener Welt, vor denen wir im Leben [ungeachtet Hamlets, da – Literatur], im Leben stumm sind. Und an alle unsere Beschwörungen zu kommen, die ohne Antwort bleiben. „Ich komme, wenn ich kann“, wie wir: „ich sehe es, wenn es erscheint“, etwas im Sinne alter „Begebenheiten“. Eine Verbindung, die sich allein im Innern bewahrt und bei dem kleinsten Versuch der Verwirklichung abreißt. Ein Gespräch über eine abgerissene Leitung. Der einzige Beweis des Todes.) Und – selbst wenn es ein Dialog ist, dann sind es zwei Partituren einer Sehnsucht.
Kurzum, das Gespräch: Frage und Antwort (hier – Antwort und Antwort), meines mit Rilke ist zu Ende, und vielleicht ist dies das Einzige, was zu Ende ging.
Vor allem aber möchte ich, dass er spricht – zu mir. Das kann im Traum sein oder durch Bücher. Träume gibt es viele, auch viele Bücher – ungeahnte Träume und unveröffentlichte Briefe von Rilke. In Anbetracht des Nachhalls – reicht es auf immerdar. Von posthumen Briefen. Dankbar bin ich denen, die mir die Möglichkeit gaben, sie zu lesen, ihre Dankbarkeit allerdings vernehme ich nicht, und die Art meiner Dankbarkeit – verschweige ich. (Eine Ausnahme ist – die „Unbekannte“, die mitteilte, das heißt, die das Ding schuf, das ohne sie, im Wort, nicht gewesen wäre – ihren Rilke, noch einen Rilke.)
Hätten sie das gestern getan? Gewichtiger als „hätten“ – sie haben es nicht getan. Weshalb tun sie es dann heute? Was ist zwischen gestern und heute geschehen, das sie auf den Gedanken brachte und ihnen das Recht gab, die Briefe Rilkes der Öffentlichkeit zu übergeben? – Der Tod? – Also glaubten sie tatsächlich an ihn, haben ihn eingestanden? Ja, sie gestanden ihn ein und, indem sie dies taten, haben sie ihn sich zunutze gemacht. Es geht nicht um die Ziele – ja, so hoffen wir mal, um die uneigennützigsten. – „Zu teilen.“ – Weshalb aber hat er denn gestern, zu Lebzeiten, nicht geteilt, weshalb aufbewahrt, verwahrt?
„Das hätte Rilke verletzt.“ – Und heute? Worin besteht um Himmels willen der Unterschied? Auf welche Weise ist eine Sache, die gestern – nahezu ein Vertrauensverrat gewesen wäre, heute hinsichtlich eben derselben Person fast eine „heilige Pflicht“? Eine Sache ist entweder schlecht, oder sie ist gut, ein Tag ist nichts, der Tatbestand des Todes ist nichts, für Rilke – hat es das Nichts nie als Nichts gegeben. Hätte er einen Tag nach dem Tod seiner Freunde ihre Briefe publiziert?
Es geht nicht um die Ziele, es geht um die Fristen. Nach fünfzig Jahren, wenn alles vorüber ist, vollständig vorüber, und die Körper verfallen sind und die Tinte verblasst, wenn der Adressat längst schon auf dem Weg zum Absender ist (ich – bin ja der erste Brief, der ankommt!), wenn die Briefe von Rilke einfach Rilkebriefe werden – nicht an mich – an alle, wenn ich in allem aufgehen werde, und – o dies ist das Wichtigste! – wenn ich Rilkes Briefe schon nicht mehr brauche, da er mir gehören wird – der ganze Rilke.
Man darf nicht ungefragt abdrucken. Ohne Anfrage, also vor der Zeit. Solange der Adressat hier ist, der Absender jedoch dort, kann es keine Antwort geben. Seine Antwort auf meine Frage wird die Frist sein. – „Darf man?“ – „Bitte schön.“ Und das wird nicht früher geschehen, denn – Gott weiß.
Sie sagen mir (und sagen sie es nicht – sage ich es mir selbst, denn unser schlimmster [bester] Gegner, der scharfsichtigste und gnadenloseste – sind wir selbst): „Rilke bestand aber doch darauf, dass seine Briefe gedruckt werden, in denen er ebenso wie in seinen Gedichten ganz lebte.“
Rilke – ja, aber du? Die Druckerlaubnis mag es ja geben, gibt es jedoch die Erlaubnis zu dem Wunsch? („Gestatte mir, dass ich es möchte“…) Und selbst wenn es der Wunsch Rilkes ist – wie konnte es deiner werden? Und selbst wenn es die schlichte Erfüllung seines Wunsches wäre, mehr noch, dem deinen zuwider – wo ist da die Liebe? Denn die Liebe gehorcht – und diktiert nicht allein, sie gibt nicht nur, sondern verteidigt auch.
Rilke mag es mir tausendmal erlaubt haben, mir obliegt es – zu verzichten. Und bäte mich Rilke zum tausendsten Mal, mir obliegt Verzicht. Denn der Wille meiner Liebe ist stärker als sein Wille über mich, sonst wäre es nicht Liebe: das, was größer als alles ist. (Ich nehme den für mich schlimmsten Fall: der mehrmaligen hartnäckigen Bitte Rilkes, die es natürlich nie gab, ein Versprechen war sie nur – wenn es sie gegeben hat.) Wenn ich mich also frage: gibt es die Erlaubnis zu dem Wunsch? – versichere ich: es gibt die Erlaubnis, es nicht zu wollen, die nicht Rilke – mir – gewährte, durch meine Liebe – habe ich sie von Rilke – genommen. – Gestatte mir, deine Briefe nicht nur ungedruckt zu lassen, sondern dieses auch nicht einmal zu wollen.
Doch von mir zu den anderen: Wo ist da die Liebe? Oder bist du schon so sehr Geist, dass dich auch kein Blatt Papier mehr dauert? Woher kommt diese, seit dem gestrigen Abend, katastrophale Liebe zum Nächsten – zu „teilen“ -, eine Liebe, die es gestern nicht gab, da gestern nicht geteilt wurde, eine Liebe, die gestern die Liebe zu Rilke übertraf, da er noch kein „Geteilter“ war. Birgt diese Hast nicht auch das Element der Straflosigkeit – „er wird es nicht sehen“ (der Ältere – Verstorbene – Gott), und ist nicht das, wovon ich spreche, außer der Anerkennung des Todes, zugleich auch die Nichtanerkennung der Unsterblichkeit (der Anwesenheit)?
Wie kann man, wenn man einen Menschen liebt, ihn an alle hergeben, an den „Erstbesten, den Unwürdigsten“.10 Wie kann man es ertragen – seine Handschrift in gedruckte Buchstaben zu übertragen – von dem Papier – auf – dieses – Papier?
Wo ist da die Eifersucht, die nach dem Tode geheiligte?
Es geht nicht um die Ohren, die schon deshalb nicht stören, weil sie nicht zuhören, nicht das hören, das ihre hören, sondern um die Ausrichtung meiner Rede – von ihm weg (da über ihn!), um den nackten Tatbestand der Umleitung der Rede, außerhalb ihres Inhalts. Denn: nicht nur lästernd verrät man, auch lobend verrät man – das Vertrauen dessen, der sich dir anvertraute, dich würdigte, in deinem Beisein – er selbst zu sein. Aber nicht nur sein Vertrauen – auch dein Vertrauen – zu ihm (nicht in uns sind unsere Gefühle, sondern wir sind in ihnen), der Verrat des gegenseitigen Vertrauens, das auch ein Geheimnis, das auch Liebe ist.
Jede Mutter, die nicht der Versuchung widerstand, anderen, Fremden, irgendein tiefempfundenes oder liebes Wort ihres Kindes mitzuteilen, und die daraufhin die sie warnende Herzbeklemmung in die wirren Worte kleidet: „Das war nicht gut… Wozu?… Das musste nicht sein“, leidet unter den Qualen des Verrats. Zu mir hat es das gesagt, und ich sage es weiter – allen. Mag es etwas Schönes gesagt haben (ich habe das Schöne wiederholt), und bin nun – ein Verräter. Denn der Verrat liegt nicht im Ziel, er ist außerhalb des Zieles, in der einfachen Tatsache der Weitergabe. Weitergeben heißt preisgeben, ebenso wie im vorliegenden Fall (den Abdruck der Briefe Rilkes) – freigeben: preisgeben heißt.
Ein schmerzhafter Begleitton zu jeder unserer Silben, das schmerzvolle Echo, mit dem Unterschied, dass es dem Klang vorauseilt – das ist das Herz. Ein umgekehrtes Echo. Kein Nachklang, kein Nebenklang, ein Voraus-Klang. Ich habe den Mund noch nicht aufgemacht, bereue aber schon – da ich weiß, ich werde den Mund öffnen und zugleich das Geheimnis eröffnen. Ein Geheimnis zu eröffnen ist einfach den Mund öffnen. Wer von uns wusste dies nicht: „als vom Berge“…
So hat Jeanne sehr – lange nicht von dem Wunder der Stimmen zu Hause gesprochen.
Es gab ein Geheimnis. Das Geheimnis ist nicht mehr. Es gab einen Bund. Der Bund ist auseinandergebrochen. Durch die von der Druckerpresse geschlagene Bresche sind alle eingedrungen.
Die einzige erstaunliche Ausnahme, an die ich nicht glaube, da jede Ausnahme aus – eine Aufnahme in ist (man kann sich nicht in die Leere ausschließen), d.h. der unvermeidliche Sturz in ein anderes Gesetz – („für ihn wurde das Gesetz nicht geschrieben“, da es ja gerade in diesem Augenblick von ihm geschrieben wird) – also, die einzige erstaunliche Ausnahme, d.h. – der Beginn eines neuen Gesetzes – sind die berühmten „Briefwechsel“ von Bettina Brentano.
Glauben wir eine Sekunde lang an die „Ausnahme“, und –
Erstens: Bettina hat keine Briefe hergegeben, sondern einen Briefwechsel, nicht eine Stimme, sondern zwei. Wenn das Verrat ist, dann ist er hier vollkommen und ganz.
Zweitens: In dem Briefwechsel mit Goethe („Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“) errichtet Bettina ihm, wie sie es selbst erklärte, ein Denkmal. Ein Denkmal dem Greis, der sich zu dem Kind herabließ, ein Denkmal für jenen Goethe, den sie herbeirief, den sie schuf, den sie allein kannte. – Psyche, die nicht zu Amors, sondern zu Zeus’ Füßen spielt, Zeus, der sich nicht über Semele beugt, sondern über Psyche. – Ihn zu rühmen, soweit es ihre eigenen (kindlichen – wie sie glaubte) Kräfte vermochten. Noch auf diese Weise zu rühmen. Erinnern wir uns des Geheimrats Goethe – und wir verstehen Bettina.
Vergessen wir auch nicht, dass der letzte Gast des sterbenden Goethe der älteste Sohn Bettinas war, dass Bettina das schon lang Vergangene hergegeben hat, und das ihrige – Fast-Posthume.
Das andere Buch: „Günderode“ (der Briefwechsel mit der Freundin) ist gleichfalls ein Denkmal, dort – dem Alter und Ruhm, hier – der Jugend und dem Schatten. Dem langen Leben. Dem frühen Tod. Die Unsterblichkeit zu beleben. Den frühen Tod unsterblich zu machen. Ein und dieselbe Pflicht der Liebe. Rühmen. Errichten.
Drittens: Bettina hat den Briefwechsel mit den ihr Nächsten doch zu deren Lebzeiten veröffentlicht – mit dem Bruder beispielsweise („Clemens Brentanos Jugendkranz“), mit dem jungen Freund (Ilius Pamphilius) schon als alte Frau, was von ihr auch nur den Schatten eines posthumen Verrats nimmt.
Und – alle die Fälle in einem –, indem Bettina die Briefe ihrer Freunde bekanntgibt, spricht sie gleichsam durch sie für die Stummen. Diesen Goethe hat niemand gekannt, die Günderode kannte keiner, jenen Clemens, heutzutage ein finsterer Kirchenfanatiker – hatte man vergessen, so einen Ilius Pamphilius hat es einfach nie gegeben, er war gänzlich von Bettina herbeibeschworen und hat sich so lange in der Luft gehalten, wie sie ihn dort hielt.
Den Rilke allerdings, wie er sich in seinen Briefen gibt – haben alle gekannt, denn den anderen Rilke – den „berühmten“ Rilke, den „häuslichen“ Rilke, den „Literaten“-Rilke, den „Gesellschaftsmenschen“ Rilke – gab es nicht. Es gab nur einen Rilke, das heißt, alle, außer dem Erwähnten, in einem. Was könnte zu alldem hinzugefügt werden? – Noch einmal – alles?
Viertens: Es fehlt ganz und gar die Idee zu teilen. Es fehlt ganz und gar die Idee von einem Zweiten (Dritten). Es kann nicht anders als fehlen, denn für Bettina war schon der Zweite zu viel – Ich will keine Gegenliebe –, kann man sie nach dieser Aufforderung, die sie Goethe ins Gesicht schleuderte, das heißt der Liebe selbst, des barmherzigen Wunsches verdächtigen, „teilen“ zu wollen – den Geliebten, den sie nicht einmal mit dem Geliebten teilte – und nun mit dem Erstbesten?
Die Liebe duldet keinen Dritten. Bettina duldet keinen Zweiten. Goethe ist für sie – das Hindernis. Allein – zu lieben. Selbst – zu lieben. Den ganzen Berg der Liebe auf sich zu nehmen und ihn selbst zu tragen. Damit es nicht leichter werde. Damit es nicht weniger werde.
Was ist das Gegenteil von teilen? Die Gabe! Bettina schenkt in „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ ihre ungeteilte (und nur deshalb nicht geteilte) Liebe – die ganze – nicht irgendeinem, sondern in Deinem Namen. Sie schenkt so, wie sie einstmals (selbst!) genommen hat. Die ganze Liebe so, wie sie einstmals – die ganze – verteidigt hat.
So wirft man den Schatz in das Feuer.
Nicht einen Gedanken an die anderen. Nicht einen Gedanken an sich. Du. Du. Du. Und – o Wunder – wem hatte sie das Denkmal errichtet? Dem Kind, und nicht Goethe. Der Liebenden und nicht dem Geliebten. Für Bettina, die von Goethe unverstanden blieb. Für Bettina, die von Bettina nicht verstanden wurde. Für Bettina, die von der Zukunft verstanden wurde: von R.M. Rilke.
Prahlen, sich rühmen, rühmen, loben, lobpreisen. Fangen wir von hinten an. Beginnen wir mit dem Anfang Bettinas. „Mit jedem Atemzug müssen wir Gott preisen.“ Bettina pries den Herrn – mit jedem Atemzug. Irgendein späterer Interpret Bettinas sagte: „Bettina hat Gott nie gefunden, weil sie ihn niemals suchte.“ Deshalb hat sie nicht gesucht, weil sie ihn von Geburt an gefunden hatte. Sucht man den Wald etwa – im Walde?
Und wenn Bettina Gott niemals Gott genannt hat – ist es ihm ganz einerlei, denn er weiß, dass er nicht so heißt – namenlos ist – und doch so heißt. Und enthielt nicht jedes ihrer „Du“ mehr, als ein Mensch in sich aufnehmen kann? Und hat Goethe sie nicht mit seinem Fortscheuchen und mit seinen Weigerungen unmittelbar zu Gott weggeschickt? Selbst wenn sie an ihn herankam – tat er es nicht. „Ich bin nicht Gott“ – das ist alles, was Goethe imstande war, Bettina zu sagen. Rilke hätte gesagt:
„Gott – bin nicht ich.“
Goethe hat Bettina an Bettina zurückgegeben.
Rilke hätte Bettina geleitet – weiter.
Jeder Atemzug Bettinas ist ein Lobgesang: „Loben sollen wir“ – hat Bettina das gesagt oder Rilke?
Die Briefe von Bettina (nicht an Goethe, sondern an sie selbst) sind eines der Lieblingsbücher Rilkes, wie schon Bettina eines der vielgeliebten, wenn nicht das geliebteste der von ihm geliebten Geschöpfe ist.
Ferner – war Bettina die Erste. Und als Erste – musste sie zahlen. Zwischen der Art ihres „Briefwechsel mit einem Kinde“ und der Art des jetzt erscheinenden Briefwechsels von Rilke liegt ein Abgrund, breit wie das ganze Jahrhundert und tief wie das gesamte neue Bewusstsein der Menschen. Bettina wusste, worauf sie sich einließ, andernfalls hätte sie ihrem Schritt nicht den Ausruf vorweggeschickt: „Das Buch ist für die Guten und nicht für die Bösen!“ – und handelte dem zuwider. Die heutigen Adressaten wissen ebenfalls, worauf sie sich einlassen – deshalb tun sie es. Nichts ist ein Beispiel. Auch Bettina ist kein Beispiel. Bettina hat unwiederbringlich und unwiederholbar recht nach dem harten Ausnahme-Gesetz, in das sie, im Augenblick ihrer Geburt, hinausschritt.
Und nun von Angesicht zu Angesicht mit Rilke: Möglicherweise hat er für alle geschrieben? – Möglich. – Doch wird es „Alle“ immer geben, nicht die jetzigen Alle – die zukünftigen. Und die Fernen werden ihn, Rilke, mit seinem nachkommenden Gott besser vernehmen. Rilke ist das, was noch erfüllt werden wird – in Jahrhunderten.
Die sieben Briefe, die bei mir in der Schublade liegen (die das tun, was er tut, nicht er, sondern sein Körper, wie auch seine Briefe – nicht der Gedanke, sondern der Körper des Gedankens sind) – diese sieben Briefe, die bei mir in der Schublade liegen, mit seinen Postkarten und der letzten Elegie, übergebe ich den Zukünftigen –, ich werde sie nicht übergeben, ich übergebe sie jetzt. Wenn jene geboren werden – erhalten sie sie. Und wenn sie geboren sind – bin ich schon nicht mehr da.
Das wird der Tag der Auferstehung seines Gedankens im Fleisch sein. Mögen sie bis zu dieser Zeit ruhen, nicht bis zum Jüngsten, sondern bis zum Lichten Gericht.
So werde ich, getreu der Pflicht und der Eifersucht, sie nicht verraten und nicht verbergen.
Heute möchte ich jedoch, dass Rilke spricht – durch mich. Das heißt schlicht und einfach – übersetzen. (Um wie viel besser ist das Deutsche – nachdichten!11 Man geht in der Spur des Dichters und bahnt von neuem den ganzen Weg, den er angelegt hat. Denn, wenn auch – nach [in der Spur], aber – doch – dichten! – das, was immer neu ist. Nachdichten – von neuem den Weg nach den augenblicklich zuwachsenden Spuren bahnen.) Doch hat Übersetzen noch eine weitere Bedeutung. Nicht nur in (die russische Sprache beispielsweise) übersetzen, sondern auch über (den Fluss). Ich übersetze Rilke ins Russische, wie er mich irgendwann einmal in jene Welt übersetzen wird.
An der Hand – über den Fluss.
Ein Aufsatz über Rilke ist schon deshalb unnütz, weil er keine Aufsätze über andere geschrieben und die über sich nicht gelesen hat. Er würde auch meinen nicht gelesen haben (wird ihn nicht lesen). Rilke und ein Aufsatz (in Deutschland werden sogar Dissertationen über ihn geschrieben) – ist unsinnig. Das Wesentliche kann nicht erschlossen werden, wenn man von außen herangeht. Das Wesentliche lässt sich allein durch das Wesentliche erschließen, von innen – nach innen – das ist kein Forschen, sondern Durchdringen. Ein gegenseitiges Durchdringen. Die Dinge in sich eindringen lassen und – dadurch – in sie eindringen. Wie der Fluss in den Fluss strömt. Der Punkt des Zusammenflusses von Gewässern, der nie ein Punkt sein kann, da das Zusammentreffen – eine Begegnung ohne Abschied ist, da der Rhein – den Main in sich aufnahm, wie der Main – den Rhein. Und nur der Main kennt auch die Wahrheit vom Rhein (seine, die des Mains, wie die Mosel – die von der Mosel; den Rhein – überhaupt – Rilke-überhaupt – zu kennen, ist uns nicht gegeben.) Wie die Hand in der Hand, ja, noch mehr: wie der Fluss im Fluss.
Indem ich aufnehme, dringe ich ein.
Jedes – Herangehen – ist ein Fortgehen.
Rilke ist ein Mythos, der Beginn des neuen Mythos vom Gott-Nachkömmling. Noch ist es zu früh, diesen Mythos zu erforschen, der erst Wirklichkeit werden muss.
Ein Buch über Rilke – ja, irgendwann einmal, zum Alter hin (in einem Alter, das Rilke wie auch die Jugend besonders liebte), wenn ich ein wenig ihm zugewachsen bin. Kein Buch der Aufsätze, ein Buch des Seins, seines Seins jedoch, des – in ihm – Seins.
Diejenigen, die von den vorgelegten Briefen berührt sind und möglicherweise kein Deutsch können (eine gute Übersetzung seiner Gedichte ins Russische gibt es nicht), verweise ich auf sein Buch „Les Cahiers de Malte Laurids Brigge“ (in der wunderschönen Übersetzung von Maurice Betz, die Rilke selbst durchgesehen hat) und auf den schmalen posthumen Gedichtband „Vergers“, den er in Französisch gedichtet hat.
Marina Zwetajewa, Meudon, im Februar 1929, aus Marina Zwetajewa: „Lichtregen“. Essays und Erinnerungen. Suhrkamp Verlag, 2021
Übersetzung: Angela Martini-Wonde
Hans Egon Holthusen: Der späte Rilke, Merkur, Heft 8, Februar 1948
Hans Egon Holthusen: Rilke-Finsternis? Gedanken anläßlich des 100. Geburtstages, Merkur, Heft 330, November 1975
Carl J. Burckhardt: Ein Brief über Rilke, Merkur, Heft 330, November 1975
RAINER MARIA RILKE
Als sich die Rose der Sonne ergibt und verwelkt,
erbt der Wind den goldenen Staub.
Die Erde spricht über ihre Gebeine:
Das ist mein Lied, ich bekam es zurück.
Adonis
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